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Steven Ger­rard ist zurück in der Pre­mier League. Bei Aston Villa folgt er als Trainer auf Dean Smith, der nach fünf Nie­der­lagen in Folge beim Tabel­len­sech­zehnten ent­lassen wurde. Für die Titel­ge­schichte von 11FREUNDE #231 waren wir vor Ort in Glasgow bei seinem bis­he­rigen Arbeit­geber, um her­aus­zu­finden, wie der Trainer Steven Ger­rard arbeitet. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhält­lich.

Am zweiten Tag im Januar ist Glasgow viel zu still. Die Ampeln wech­seln die Farben für unsicht­bare Fuß­gänger, vor den Schau­fens­tern wan­dern nur Tauben auf und ab. Aus einem wol­ken­losen Himmel taucht die Sonne die vielen Sand­stein­ge­bäude der Stadt in ein hüb­sches, blasses Licht. Ein paar Poli­zisten lun­gern vor der U‑Bahn-Sta­tion Ibrox herum. Ange­strengt bli­cken sie auf den Aus­gang, als pil­gere da eine Geis­ter­armee von Fuß­ball­fans zum nahen Sta­dion, um das wich­tigste Spiel des noch so jungen Jahres zu sehen. Noch nie war es in den Stunden vor einem Derby der Old Firm so ruhig.

Das Sta­dion der Ran­gers türmt sich über den Miets­ka­sernen von Govan auf, dem Bezirk von Glasgow, der einst als Zen­trum der schot­ti­schen Werft­in­dus­trie galt. Ibrox ist ein Koloss, mitten in einem ganz nor­malen Stadt­pan­orama. Das Sta­dion an einem Tag des Derbys gegen Celtic so leblos zu sehen, fühlt sich an wie ein selt­samer Traum. Drei der Tri­bünen sind eher schmucklos, auch wenn sie mit Bil­dern von Ran­gers-Legenden ver­ziert sind – jedes Sta­dion braucht ja seine Mär­chen. Die Aus­nahme ist die Haupt­tri­büne aus rotem Ziegel, das wohl schönste Werk des berühmten Glas­gower Sta­di­onar­chi­tekten Archi­bald Leitch. Obwohl Leitch mehr als zwanzig bri­ti­sche Tri­bünen ent­worfen hat, von Anfield bis White Hart Lane, sind die langen, dünnen Fenster und stei­nernen Schnörkel von Ibrox etwas Beson­deres. Das Gebäude wirkt wie ein Got­tes­haus der Fuß­ball­in­dus­trie.

Ein biss­chen Spieltag

Die Dreh­kreuze des Sta­dions sind ver­schlossen. Und doch ist ein biss­chen Spieltag. Der Geruch, den der Mist der Poli­zei­pferde hin­ter­lässt, liegt in der Luft. Aus den Laut­spre­chern im Sta­di­on­in­neren plärrt Pop­musik aus den Acht­zi­gern. Vor dem Ein­gang zur Haupt­tri­büne herrscht rege Geschäf­tig­keit, weil gerade Spieler, Betreuer und irgend­welche Männer in Anzügen ein­treffen. Und noch etwas ist – leider – fast wie immer: Plötz­lich tau­chen Ran­gers-Fans auf und schleu­dern den Gästen, die gerade aus dem Mann­schaftsbus steigen, anti-katho­li­sche Gesänge und Belei­di­gungen ent­gegen.

Doch schon bald macht sich auch rund um das Sta­dion jene gespens­ti­sche Corona-Geräusch­ku­lisse breit, die seit Monaten Alltag im Pro­fi­fuß­ball ist. Auf den Straßen vor dem Sta­dion ist deut­lich die Pfeife des Schieds­rich­ters zu hören, bis­weilen auch die keh­ligen Rufe der Spieler und Trainer. Obwohl hier immer mal wieder ver­ein­zelte Fans auf­tau­chen und dem Spiel lau­schen, sind die Ordner und Poli­zei­kräfte in großer Über­zahl, die die Men­schen von ihrem zweiten Zuhause fern­halten sollen. Die Dreh­kreuze setzen Rost an, auf den Tri­bünen hängen Spinn­weben. Nie­mand kauft ein Sta­di­on­heft.

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John hat sein erstes Spiel der Ran­gers 1956 gesehen. Gut zwei Dut­zend Meis­ter­schaften konnte er schon feiern.

Robert Ormerod

An einem der großen Eisen­tore, die in zwei Ecken des Sta­dions stehen, ver­sam­meln sich ein paar Gestran­dete des Fuß­balls. Einer von ihnen heißt John, ist 64 Jahre alt und sitzt im Roll­stuhl. Selig lächelnd presst er sein Gesicht an die kalten eisernen Stäbe, wie ein Gefan­gener, der von einem Leben in Frei­heit träumt. In gewisser Weise tut er genau das. John kann einen kleinen Teil des Spiel­feldes sehen; wenn er die Augen zusam­men­kneift sogar ein Stück vom Tor am anderen Ende. Ab und zu ver­la­gert sich das Spiel­ge­schehen in seinen kleinen Aus­schnitt, dann feuert John einen Spieler der Ran­gers an oder buht einen Celtic-Profi aus. Er braucht nicht mal ein Radio, um zu wissen, was pas­siert. Was ich nicht sehen kann“, sagt er, stelle ich mir vor. Aus den Reak­tionen der Spieler kann man einiges schließen. Oder ich rate ein­fach.“ John hat sein erstes Spiel der Ran­gers 1956 gesehen. Sein Urteil über das Team 2021? Oh, sie sind gut“, sagt er. Noch nicht die Größten, aber sehr gut. Er hat für Ord­nung gesorgt und ihnen Dis­zi­plin bei­gebracht. Stevie ist der Mann!“

Stevie, das ist natür­lich Steven Ger­rard, seit Sommer 2018 Trainer der Ran­gers. Auch eine Sta­di­on­be­diens­tete namens Susan hat keine Zweifel, dass er für alles ver­ant­wort­lich ist. Auch sie benutzt das Wort Dis­zi­plin. Und zwar im gesamten Klub“, sagt Susan, wäh­rend sie darauf achtet, John und seinen Freunden nicht das biss­chen Sicht zu ver­sperren. Wir sind ein­fach viel pro­fes­sio­neller geworden, von Stevie hinab bis zu uns Ord­nern. Man merkt das schon, wenn man ihn hier am Sta­dion sieht. Es ist seine Hal­tung, er strahlt Pro­fes­sio­na­lismus aus. Und er ist immer sehr gut gekleidet.“ Susan sagt, Ger­rard habe auch dafür gesorgt, dass zwi­schen Fans und Klub wieder Frieden herrscht. Seit Stevie das Sagen hat, denkt nie­mand an Pro­teste.“

Ger­rard ließ die Pro­teste ver­stummen

Ja, die Pro­teste. Weil die Ran­gers gerade ihre beste Saison seit langer, langer Zeit spielen, ist fast in Ver­ges­sen­heit geraten, dass die Stim­mung um Ibrox noch vor Kurzem mise­rabel war. Erst war der Klub zah­lungs­un­fähig, dann kam der müh­same Marsch durch die Klassen zurück in die Pre­mier League. Die Ran­gers stiegen 2016 wieder auf, doch dieser Erfolg wurde über­schattet von der großen Domi­nanz der Celtic-Elf. Die Finanz­lage war übel, Trainer blieben nicht lange. Zwi­schen 2016 und 2018 ver­loren die Ran­gers das Derby mit 1:5, 1:5, 0:4 und 0:5. Das tat sehr weh. Dazu kam eine Atmo­sphäre des ewigen Muffs und der Sta­gna­tion. Im April 2018 machten einige Anhänger ihrem Ärger Luft. Mas­kierte Fans ver­ram­melten den Ein­gang zum Trai­nings­ge­lände der Ran­gers und hängten ein Banner auf: Wir haben Bes­seres ver­dient.“ Nur zwei Wochen später bekamen sie etwas Bes­seres. Sie bekamen Steven Ger­rard.

Ein wei­terer Fan, der das Derby nicht ein­fach nur am Radio oder Fern­sehen ver­folgen kann, schaltet sich in die Dis­kus­sion ein. Steven Ger­rard ist Gott“, sagt er. Er holt uns die Meis­ter­schaft.“ Ein Teen­ager kommt auf seinem Fahrrad vorbei und findet noch einen Platz, von dem aus er den Rasen sehen kann. Wie ein Kind, das durch die ange­lehnte Wohn­zim­mertür den Weih­nachts­mann erspäht, starrt er aufs Feld. Ich glaube, es gibt Elf­meter!“, sagt er auf­ge­regt, als der Wind empörte Rufe der Spieler her­über­weht. Der Junge war noch nie im Sta­dion, auch vor Corona nicht. Ich kann mir das nicht leisten“, sagt er. Des­wegen habe ich Ger­rard noch nie in echt gesehen. Aber eines Tages werde ich das!“