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Ein Frei­tag­abend im Sta­dion von Car­diff City. Unab­läs­siger Nie­sel­regen geht auf den Platz und die unge­schützten ersten Reihen nieder. Die Gast­geber, ein Kan­didat für den Auf­stieg in die Pre­mier League, mühen sich gegen Hud­ders­field Town. Viele Plätze im weiten Rund sind leer. Die Anreise aus den umlie­genden Tälern kann lang und beschwer­lich sein, also schauen sich viele Fans das Spiel lieber im Fern­sehen an. Die Stim­mung im Sta­dion ist eher mau, und auch auf dem Platz brennen die Mann­schaften nicht gerade ein Feu­er­werk ab. Schwer vor­stellbar, dass die Leute in Kuala Lumpur sich darum reißen, dieses Spek­takel zu sehen.

Hilfe aus Malaysia

Aber genau davon träumt zumin­dest einer hier im Sta­dion: Vin­cent Tan. Auf dem Weg zum ersten Heim­spiel der Saison hat der malay­si­sche Indus­tri­elle sich mit Fans foto­gra­fieren lassen und Auto­gramme geschrieben. Er ist der Letzte in einer langen Reihe aus­län­di­scher Inves­toren, die sich eine Scheibe vom lukra­tiven Pre­mier-League-Kuchen abschneiden wollen. Vor drei Jahren stieß das über­schul­dete Car­diff City auf der Suche nach neuen Geld­ge­bern auf Tan. Zu dessen Ber­jaya Group gehören Feri­en­an­lagen, Ein­kaufs­zen­tren, Casinos, ein Akti­en­paket von Face­book und nun auch 36,1 Pro­zent des Klubs, für die er umge­rechnet 7,5 Mil­lionen Euro bezahlte. Über 100 Mil­lionen Euro möchte der Mann mit dem Schnurr­bart dar­über hinaus inves­tieren, aller­dings in Form von Dar­lehen zu sieben Pro­zent Zinsen. So weit, so normal in der wirt­schafts­li­be­ralen Welt des eng­li­schen Pro­fi­fuß­balls. Aber mit seiner jüngsten Ini­tiative hat Tan den Klub, der seit 1911 als die Blue­birds bekannt ist, an eine Grenze geführt. Nicht jeder ist bereit, sie mit ihm zu über­schreiten.

Are you Wrexham in dis­guise?“ – seid ihr ein ver­kapptes Wrexham? – sti­cheln die Gäs­te­fans, denn Tan hat das Erschei­nungs­bild von Car­diff City radikal erneuern lassen, um den Verein für poten­ti­elle Fans im fernen Malaysia attrak­tiver zu machen. So wird Car­diff ab dieser Saison als der wali­si­sche Klub schlechthin ver­marktet und erhält neben einem neuen Dra­chen­logo auch rote Heim­tri­kots, die sich in Asien, wo Rot als Glücks­farbe gilt, beson­ders gut absetzen lassen sollen. Obwohl der wali­si­sche Rivale Wrexham („Die Dra­chen“) bereits in Rot spielt. Obwohl Swansea als wali­si­scher Klub der­zeit in der Pre­mier League für Furore sorgt. Und obwohl Geschichte und Tra­di­tion den Kern der Iden­tität eines Fuß­ball­klubs bilden. Die Blue­birds sind jetzt rote Dra­chen, weil es dem Eigen­tümer so gefällt.

Eher Übel­keit als Euphorie

Car­diffs jün­gere Geschichte gleicht einer tur­bu­lenten Ach­ter­bahn­fahrt, die bei den Fans in der Regel eher Übel­keit als Euphorie her­vor­rief. Auch die aktu­elle Iden­ti­täts­krise hätte sich zu keinem schlech­teren Zeit­punkt anbahnen können. Car­diff hatte gerade in den Auf­stiegs-Play­offs zur Pre­mier League ver­loren, als das Gerücht die Runde machte, Tan wolle die Klub­farben in Rot umän­dern. Die Empö­rung der Fans war groß, doch die ein­hel­lige Ableh­nung sollte nicht lange währen.

Was dann folgte, emp­fanden viele als reine Erpres­sung. Tan, der es übri­gens bis­lang nicht für nötig gehalten hat, einen seriösen Wirt­schafts­plan vor­zu­legen, wies in einer Stel­lung­nahme dezent darauf hin, dass er wei­tere Inves­ti­tionen vom avi­sierten Image­wechsel abhängig machen würde. Dem hoch­ver­schul­deten Klub blieb keine Wahl, als ein­zu­lenken. Am 6. Juni dieses Jahres wurde es schließ­lich offi­ziell: Car­diff City, das seit 1908 in blauen Heim­tri­kots auf­ge­laufen war, würde ab der neuen Saison zuhause in Rot antreten. Die Aus­wärts­tri­kots sollten blau sein, waren zu Sai­son­be­ginn aber noch immer nicht im Handel. Auch das Logo war neu, der Sper­ling machte Platz für den Dra­chen.

Für den 55-jäh­rigen Pen­sionär Mike Rode­rick von der Initia­tive Keep Car­diff Blue“ (KCB) war das mehr, als er ertragen konnte und wollte. Rode­rick ist Anhänger des Klubs, seitdem er an seinem neunten Geburtstag zum ersten Mal im Sta­dion war, nun kün­digte er seine Dau­er­karte und grün­dete mit Gleich­ge­sinnten KCB, um die Fans zu mobi­li­sieren. Eigent­lich hatte er zum Spiel gegen Hud­ders­field eine Kund­ge­bung vor dem Sta­dion anführen wollen, doch der Gruppe war unter­sagt worden, auf dem Ver­eins­ge­lände zu pro­tes­tieren. Rode­rick ist ein durchaus begeis­te­rungs­fä­higer und opti­mis­ti­scher Mann, aber was in Car­diff pas­siert, stellt sein Selbst­ver­ständnis als Fan auf eine harte Probe. Mal eben nach Lust und Laune sowohl die Tri­kot­farbe als auch das Wappen zu ändern, emp­findet er als voll­kommen untragbar.“

Anschei­nend würden sie lieber in Blau und dafür in der fünften Liga spielen“

Darren und Warren hin­gegen sehen das ganz anders. Die beiden sind Vater und Sohn und mit ihren Glatzen, Gold­kett­chen und roten Tri­kots kaum zu über­sehen im Ivor Davies, einem Pub unweit des Sta­dions. Als Ein­zige lassen sie sich hier in den neuen Farben bli­cken und wirken ein wenig ange­spannt. Ihnen ist anzu­merken, dass sie viele unan­ge­nehme Fragen über sich ergehen lassen mussten. Ich habe einige Strei­te­reien mit den Leuten von KCB hinter mir“, erzählt Warren. Anschei­nend würden sie lieber in Blau und dafür in der fünften Liga spielen.“ Warren und sein Vater Darren gehen seit 1974 bzw. 1957 ins Sta­dion und haben keine Lust auf klamme Finanzen und Spiele vor zwei- oder drei­tau­send Zuschauern wir vor 20 Jahren. Mit der aktu­ellen, kost­spie­ligen Truppe soll Car­diff statt­dessen um den Auf­stieg in die Pre­mier League mit­spielen. Trotzdem weiß Warren: Die Tra­di­tio­na­listen sind nicht tot­zu­kriegen und werden immer irgendwas zu meckern haben.“

Mike Rode­rick macht keinen Hehl daraus, dass er mit Leuten in roten Tri­kots nichts zu tun haben will. Was ihn aller­dings noch mehr irri­tiert, ist die Tat­sache, dass Warren und Darren nur auf den ersten Blick in der Min­der­heit zu sein scheinen. In Wirk­lich­keit gibt es immer weniger Fans, die bereit sind, sich gegen die neuen Gege­ben­heiten auf­zu­lehnen. Schlimmer noch: Obwohl die meisten von ihnen lieber in Blau spielen würden, heulen sie aus Angst vor dem finan­zi­ellen Ruin inzwi­schen mit den Wölfen und ver­su­chen, Keep Car­diff Blue“ mundtot zu machen. Bei einer öffent­li­chen Kund­ge­bung spra­chen Mit­glieder der berüch­tigten Hoo­ligan-Grup­pie­rung Car­diff Soul Crew“ sogar unver­hohlen Mord­dro­hungen gegen die Pro-Blau-Frak­tion aus.
Ich begreife nicht, dass die Fans sich auf der Nase her­um­tanzen, erpressen und ein­schüch­tern lassen, bis sie etwas hin­nehmen, was keiner von ihnen will“, sagt Mike. Warren und Darren hin­gegen fühlen sich kei­nes­wegs erpresst oder ein­ge­schüch­tert. Die beiden und Mike auf der anderen Seite stehen stell­ver­tre­tend für die ent­ge­gen­ge­setzten Pole der gespal­tenen Fan­ge­meinde.

Was will die Mehr­heit?

Wie es um den Gemüts­zu­stand der Mehr­heit bestellt ist, lässt sich nur schwer ein­schätzen, denn sie ist, wie so oft, eine schwei­gende. Der Tenor in Inter­net­foren, Kneipen und im Sta­dion lässt erahnen, dass die meisten Fans lieber blaue Tri­kots hätten, aber die wenigsten sind bereit, etwas zu unter­nehmen. Car­diff scheint von einem läh­menden Gefühl der Resi­gna­tion erfasst zu sein. Die Face­book-Seite von Keep Car­diff Blue“ bei­spiels­weise hat nur 981 Gefällt mir“ gesam­melt. Mike beklagt, dass sich die Fans anderer Klubs in ganz Europa mit KCB soli­da­ri­sieren, aber dass in Car­diff selbst kaum etwas pas­siert. Bei einer Umfrage unter den rund 700 Mit­glie­dern des Car­diff City Supporter’s Trust“, einer gemein­nüt­zigen Orga­ni­sa­tion, die in Groß­bri­tan­nien in ähn­li­cher Form schon für viele Ver­eine ins Leben gerufen wurde, um klub­re­le­vante Ent­schei­dungen zu beein­flussen und wenn mög­lich Anteile zu kaufen, hielten sich Befür­worter und Gegner in Sachen Tri­kot­farbe die Waage.

Was die 21 000 Zuschauer beim Match gegen Hud­ders­field denken, dar­über kann man nur Mut­ma­ßungen anstellen. Zwar sind einige rote Tri­kots im Sta­dion zu sehen, ins­ge­samt aber herrscht eine unbe­hag­lich gedämpfte Atmo­sphäre. Beim Anpfiff sind ein paar Bluebirds!“-Rufe zu hören, die fast ver­legen ver­hallen. Nach dem Spiel gibt ein Fan zu, sich ein Tor für den Gegner gewünscht zu haben, um die Zuschauer zu eine Gefühls­aus­bruch zu zwingen. So aber dauert es bis zur 91. Minute, ehe Kapitän Mark Hudson für die Gast­geber den ein­zigen Treffer der Partie erzielt.

Tim Hartley ist Vor­sit­zender des Supporter’s Trust, ein elo­quenter und enthu­si­as­ti­scher Mann von Anfang 40 mit blonder Haar­pracht und blauem Retro­trikot. Laut Hartley sind sich 90 Pro­zent der Trust-Mit­glieder dar­über einig, dass mehr Mit­spra­che­recht und bes­sere Kon­troll­me­cha­nismen drin­gend nötig sind. Hartley weiß, dass in der deut­schen Bun­des­liga Ände­rungen sol­cher Trag­weite wie in Car­diff völlig undenkbar wären. Ebenso wie beim wali­si­schen Rivalen Swansea, der mitt­ler­weile von einem Freun­des­kreis von Klub­fans geführt wird und wo der Supporter’s Trust heute, zehn Jahre nach der Pleite, 20 Pro­zent der Anteile hält. Jedoch ist es seiner Ansicht nach durchaus typisch für den bri­ti­schen Fuß­ball, dass die Rufe nach mehr Regu­lie­rung eher halb­herzig sind. Doch Car­diff City könnte zum Prä­ze­denz­fall dafür werden, was ein Eigen­tümer mit einem Fuß­ball­klub anstellen darf – und was die Fans hin­zu­nehmen bereit sind.
Mög­li­cher­weise ist dies ein sehr bri­ti­sches Pro­blem. Im Mut­ter­land des Fuß­balls wurde der Sport immerhin schon 1885 pro­fes­sio­na­li­siert. Das wäre eine mög­liche Erklä­rung dafür, dass ein gewisser Geschäfts­sinn im bri­ti­schen Fuß­ball seit jeher ver­wur­zelter war als etwa in Deutsch­land. Dabei ging es den Ver­eins­be­sit­zern kei­nes­wegs immer darum, sich zu berei­chern, son­dern viel­mehr um den vik­to­ria­ni­schen Wunsch phil­an­thro­pisch ver­an­lagter Indus­trie­bosse, der Gemeinde etwas zurück­zu­geben“, wie es so schön heißt. Man könnte auch sagen: die Leute bei Laune zu halten. Dadurch war der bri­ti­sche Fuß­ball von Anfang an von einer Ver­sorger-Ver­brau­cher-Men­ta­lität geprägt, die in anderen Län­dern, wo Ver­eine von gleich­be­rech­tigten Mit­glie­dern gebildet wurden, so nicht anzu­treffen ist.

Es geht um mehr

Inso­fern geht es in Car­diff um weit mehr als die Farben Rot oder Blau oder um feh­lendes Mit­spra­che­recht. Worum es letzt­end­lich geht, sind die immer kleiner wer­denden Erwar­tungen bri­ti­scher Fuß­ball­fans, weil ihre Rolle ange­sichts der Frage, wie oder was ein Fuß­ball­klub sein sollte, nie klar defi­niert wurde. Die Tra­gödie der Car­diff-Fans ist nicht, dass sie nicht gefragt worden sind, son­dern dass die meisten von ihnen das von vorn­herein gar nicht für nötig hielten.

Warren und Darren und die schwei­gende Mehr­heit im Sta­dion von Car­diff City mögen sich für prag­ma­tisch halten. Letzt­end­lich ist ihre Gleich­gül­tig­keit aber Aus­druck von Unter­wer­fung. Weil sie nicht ein­sehen wollen, dass sie sich gegen die Miss­ach­tung der Iden­tität ihres Klubs mit allen Mit­teln zur Wehr setzen müssten, machen sie sich mit­schuldig an der lang­samen Zer­set­zung der Kultur des Spiels, das sie zwar lieben, das zu unter­stützen sie aber anschei­nend unfähig sind.

Muss man sie des­wegen ver­ur­teilen? Natür­lich nicht. Wie die meisten anderen Briten seit den neo­li­be­ralen Umwäl­zungen der acht­ziger Jahre, sind die Fans von Car­diff City inzwi­schen Kon­su­menten wie alle andere auch. In dieser Welt hat alles (und jeder) seinen Preis – auch die Kon­su­menten selbst sind eine Ware. 

Ist die Laissez-Faire-Men­ta­lität der Kern des bri­ti­schen Fuß­balls

Hartley und dem Sup­porters Trust ist diese Sicht­weise ein Gräuel. Wenn die Fuß­ball­ver­bände sich wei­gern, die Klubs vor ihren Besit­zern zu schützen, dann muss es die Regie­rung tun, meint er. Seiner Mei­nung nach muss der Fuß­ball ebenso wie his­to­ri­sche Bau­werke als Teil des bri­ti­schen Kul­tur­erbes geschützt und vor der Zer­stö­rung bewahrt werden. Wir kriegen immer zu hören, wir hätten kein Mit­spra­che­recht, wir können nicht in den Auf­sichtsrat und es gäbe keine Regu­lie­rung, weil der Fuß­ball ein Geschäft ist“, sagt er. Aber wenn der Fuß­ball ein wich­tiger Bestand­teil der bri­ti­schen Gesell­schaft ist, wie es immer heißt, dann muss er auch ent­spre­chend geschützt werden.“

Der Fuß­ball mag ein wich­tiger Bestand­teil der Gesell­schaft sein, aber wel­cher genau, das ist in Groß­bri­tan­nien schwer zu bestimmen. Sollte der Fuß­ball ledig­lich die vor­herr­schende Laissez-Faire-Men­ta­lität wider­spie­geln oder kann er als Vor­reiter und Fanal gesell­schaft­li­cher Ver­än­de­rungen dienen? Das Bei­spiel Car­diff legt die Ver­mu­tung nahe, dass jenes Band, das die Fans eines Ver­eins soli­da­risch mit­ein­ander ver­bindet, nicht sehr stra­pa­zier­fähig und die Vor­stel­lung einer Gemein­schaft reine Illu­sion ist. Es scheint wahr zu werden, was die ehe­ma­lige Minis­ter­prä­si­dentin Mar­garet That­cher einst ver­kün­dete: So etwas wie eine Gesell­schaft gibt es nicht. Es gibt Männer und es gibt Frauen. Und es gibt Fami­lien.“ Und es gibt Fans in roten Tri­kots und Fans in blauen Tri­kots, hätte sie noch hin­zu­fügen können.

Einer im blauen Trikot, Mike Rode­rick, kann sich mit den neuen Ver­hält­nissen nicht anfreunden und sitzt nach dem Schluss­pfiff nie­der­ge­schlagen in seinem Büro. Obwohl er fest daran glaubt, dass Car­diff eines Tages wieder in Blau spielen wird und die meisten Fans das auch so wollen, weiß er im Moment nicht, wie es wei­ter­gehen soll. Die Ent­schei­dung des Klubs, den fried­li­chen Pro­test auf dem Ver­eins­ge­lände zu unter­sagen, hat seiner Initia­tive den Wind aus den Segeln genommen und stellt für ihn, zumin­dest vor­läufig, das Ende seines Klubs dar.
So wird ein ansonsten wenig bemer­kens­wertes Frei­tag­abend­spiel in der wali­si­schen Haupt­stadt in die Geschichts­bü­cher ein­gehen. Als die Blue­birds zum ersten Mal in roten Tri­kots aufs Feld liefen, war die Grenze zur totalen Ent­mün­di­gung der Fans über­schritten. Für Groß­bri­tan­nien wirft das nun die Frage auf, ob andere Klub in ähn­li­cher Situa­tion wirk­lich anders han­deln würde. Ver­mut­lich ist die Ant­wort ein Nein“. Ein klein­lautes Nein“, mit einem letzten Wim­mern.

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Hin­weis: Dieser Text erschien bereits in unserer Aus­gabe #131 im Oktober 2012.