Zehn Torbeteiligungen in Folge, großartige Technik, mitreißende Dynamik: Normalerweise wäre Thorgan Hazard schon ein Star. Blöd, dass ein anderer Hazard noch besser ist. Über die Leiden eines kleinen Bruders und darüber, wie er zwei Ersatzgeschwister fand.
Kleine Geschwister haben es leichter. Während die großen sich alles gegen den Widerstand der Eltern erkämpfen müssen, brauchen ihre Nachfolger lediglich dem bereits geebneten Weg folgen, um von den erstrittenen Freiheiten zu profitieren.
Umgekehrt kann es gehörig auf das Gemüt schlagen, permanent mit den Erfolgen des größeren Bruders konfrontiert zu werden. Insbesondere dann, wenn der große Bruder ein absoluter Überflieger ist. So wie im Fall von Thorgan und Eden Hazard. „Es ist mein Schicksal, dass ich mehr für meine Ziele arbeiten muss als mein Bruder“, sagte der jüngere Thorgan mal.
An eine Karriere außerhalb des Fußballs war allerdings gar nicht zu denken. Vater Thierry spielte in der zweiten belgischen Liga, Mutter Carine war Stürmerin in Liga eins, die beiden jüngeren Brüder Kylian und Ethan sind auf dem Weg ins Profigeschäft, Onkel und Cousins waren oder sind Fußballer — selten scheint Talent mehr in die Wiege gelegt worden zu sein.
Einen Superstar als großen Bruder
Dennoch: Der ständige Vergleich mit Superstar Eden wiegt schwer auf Thorgans Schultern. Dabei taten die Eltern alles, damit es nicht dazu kommt. In der Jugend waren sie stets darauf bedacht, die beiden ältesten Kinder bei unterschiedlichen Vereinen unterzubringen. Das führte so weit, dass die beiden in Frankreich ausgerechnet bei zwei großen Rivalen unter Vertrag standen: Thorgan bei Lens und Eden in Lille.
Einen direkten Wettkampf gab es nur in frühester Kindheit, als Thorgan die Handschuhe anzog und Eden ihm die Bälle um die Ohren drosch. Oder heutzutage, wenn es darum geht, welcher der vier Brüdern am wenigsten Saisontore erzielt. Wobei der Verlierer die komplette Familie zum Essen einzuladen hat.
Dabei hätte es ganz anders kommen können. Im Sommer 2012 nämlich verpflichtete der FC Chelsea gleich beide, Thorgan und Eden. Doch während Eden an der Stamford Bridge bekanntermaßen zum absoluten Schlüsselspieler und Weltstar reifte, wurde Thorgan schon nach wenigen Trainingseinheiten verliehen. In der Heimat, bei Zulte Waregem, konnte er sich zwar durchsetzen, für Chelsea reichte es allerdings immer noch nicht. Und so ging es 2014 weiter nach Mönchengladbach.
Bei den Fohlen hat Hazard auf dem Platz eine Art Ersatzfamilie gefunden. Oder zumindest zwei Ersatzbrüder: Raffael Caetano de Araújo und Lars Edi Stindl. Zu dritt sind sie am Großteil aller Borussia-Tore beteiligt, in der Hinrunde fielen nur sieben ohne Assist oder Abschluss durch einen von ihnen.
Dabei agieren die drei mit bemerkenswerter Flexibilität im Positionsspiel. Beide Flügel, die Zentrale, Mittelstürmerposition und hängende Spitze werden im Wechsel besetzt. Nominell steht Hazard dabei meistens auf der linken Außenbahn in Dieter Heckings 4−4−2. Darin positionieren sich die Außenspieler recht tief, das Vierer-Mittelfeld insgesamt kompakt. Dadurch bleibt auf den Flügeln Raum für dynamische Entfaltungen nach der Ballannahme.
Und Dynamik ist genau Hazards Ding, mit seinem technischen Repertoire kann er Gegner aussteigen lassen und mit Tempo in den geöffneten Raum vordringen. Gerade, wenn Stindl abkippt oder Raffael sich weiter fallen lässt, entstehen so vielfältige Optionen für schnelle Passstafetten, Dreieckskombinationen und diagonale Verlagerungen auf die Flügel.
Bleibt das Problem, dass tief positionierte und nah an der Doppelsechs gehaltene Flügelstürmer ein leichtes Opfer für gegnerisches Pressing sind: Die Wege sind kurz und die Räume eng. Doch Hazard kann sich auch auf dem sprichwörtlichen Bierdeckel gleich mehrerer Gegenspieler erwehren – dank millimetergenauer Ballführung und überragender Technik.
In Sachen Dynamik und Technik ähneln sich die beiden ältesten Hazard-Brüder also sehr. Doch im Gegensatz zu seinem Bruder ist Thorgan deutlich weniger effizient. Den Zug zum Tor haben beide. Doch wo Eden platziert abschließt, sind Thorgans Knipserqualitäten noch ausbaufähig.
Zurück zum großen Bruder?
Dementsprechend stehen für Eden diese Saison acht Tore aus 48 Schüssen zu Buche, für Thorgan sind es sieben aus 58 – und vier seiner Treffer waren Elfmeter. Trotzdem hat er sich verbessert: Zwischen dem dritten und 14. Spieltag war Hazard für Gladbach in zehn Partien in Folge direkt an einem Tor beteiligt.
Mit inzwischen 13 Scorerpunkten ist er aktuell Borussias Topscorer. Obwohl er selten auf seiner eigentlichen Lieblingsposition, der Zehn ran darf, die bei Hecking selten so existiert, hat er so viele vorletzte Pässe gespielt wie kein anderer und 42 Torschüsse vorbereitet.
Im Vergleich mit Eden sieht Thorgan sich allerdings „noch nicht auf seinem Niveau“. Trotzdem war im gerade geschlossenen Transferfenster angeblich auch Chelsea wieder an ihm dran. Die Angebote bearbeitet mittlerweile Vater Thierry als sein Berater. Auch, weil sein Vertrag noch bis 2020 läuft, will Thorgan sich aber vorerst in Gladbach weiterentwickeln.
Und, damit er dann auch den Vergleich nicht mehr scheuen muss, sollte er tatsächlich zurück nach London gehen. Zu seinem großen Bruder, dem Superstar.