Vereinstreue kann für einen Profi auch zum Fluch werden. In unserer Titelgeschichte widmen wir uns diesmal Dortmunds Kevin Großkreutz. Quasi als Appetithäppchen präsentieren wir euch auf www.11freunde.de die Kurzfassung. Die komplette Geschichte lest ihr natürlich in der neuen Ausgabe!
Vom Trainingsgelände in Dortmund-Brackel preschen Profis der Borussia im Ferrari gen Horizont, an der Schranke hoffen Kleinwagenfahrer auf ihre Autogramme. Dann kommt Kevin Großkreutz. Er sitzt in einem Geländewagen, aber zumindest innerlich steht auch er noch an der Schranke: ein Fan, der sein will wie die Stars. Er lässt die Scheibe herunter, lächelt schüchtern und sagt: „Hallo, ich bin Kevin.“ Er wirft die Trainingstasche nach hinten, damit wir zusteigen können. Erstaunlich schmal ist er, mit dünnen Beinen. Ist das wirklich der Mann, der vor nicht einmal 48 Stunden in der Champions League, beim 3:0 gegen Olympique Marseille, so stark war wie ein Stier?
„Auf dem Platz bin ich ein anderer Mensch als im Privaten“, sagt er, mittlerweile auf der Terrasse von Bäcker Grobe unweit des Trainingszentrums angelangt. Gegen Marseille hat er sich die Nase gebrochen, obendrein war ein Weisheitszahn entzündet, die Wange ist noch immer ziemlich dick. Trotzdem hielt er 90 Minuten durch, war Dortmunds Bester. Den Tag darauf verbrachte er in seiner Doppelhaushälfte, lag im Bett, über ihm die Borussenposter, die Wimpel, sein erstes Trikot – Schrein seiner noch immer kindlichen Liebe zum BVB. Die Eltern Martin und Pia, die nebenan wohnen, schauten nach ihm, brachten Kühlelemente.
Schon wieder der Dortmunder Proll?
Großkreutz führt den Strohhalm aus der Trinkschokolade vorsichtig in den geschwollenen Mund und guckt ein bisschen reserviert. Fragt, ohne zu fragen: Muss er schon wieder als der Dortmunder Proll herhalten? Als kickendes Maskottchen, ungeachtet der Tatsache, dass er längst Leistungsträger bei einem Topklub ist?
Die Geschichte von Kevin Großkreutz, 25 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Dortmund-Eving, Sohn eines Schlossers von der Zeche Minister Stein, ist die vom letzten Lokalhelden im längst globalisierten deutschen Fußball. Von einem Jungen, dem sein Vater Entschuldigungen schrieb, damit er seinen BVB auf Auswärtsfahrten ins Ausland begleiten konnte. Der durch großes Talent und noch größeren Willen schließlich selbst zum Profi wurde, zu einem der besten Allrounder der Liga.
Auf einen wie ihn hatten sie in Dortmund gewartet, nach der Phase der Dekadenz und Hybris bis 2005, in der Söldner kamen, nahmen und gingen und der Verein sich beinah selbst verlor. Die einstige Industriemetropole ist zwar längst ein Zentrum der Finanzdienstleistung geworden, der Strukturwandel hat 80 000 Arbeitsplätze vernichtet. Aber Kevin Großkreutz verkörpert jetzt wieder die Epoche von Kohle, Stahl und Bier.
„Natürlich kann schon aufgrund seiner Vita kein Spieler unser Markenversprechen ›Echte Liebe‹ so tief in sich tragen wie er“, sagt Carsten Cramer, Marketing-Direktor beim BVB. Für Trainer Jürgen Klopp ist Großkreutz „eine Art Standleitung zu unseren Fans“. Er weiß immer, was sie bewegt, und hält alle im Klub auf dem Laufenden.“ Und Manager Michael Zorc, selbst gebürtiger Evinger, ergänzt: „Sein Weg zeigt, dass es nach wie vor möglich ist, sich diesen Traum zu erfüllen und den Sprung von der Südtribüne auf den Rasen zu schaffen.“
In einen Verein verknallt zu sein, stärkt aber nicht eben die Verhandlungsposition, wenn man mit genau diesem Verein an einem Tisch sitzt. Man werde Großkreutz schon nicht mit Erdnüssen bezahlen, heißt es dazu vom Klub. „Geld ist für mich zweitrangig“, sagt Großkreutz ohnehin, „vor dem Hintergrund natürlich, dass man als Profi sowieso ordentlich verdient. Ich will beim richtigen Verein spielen, das ist das Wichtigste.“ Sein Vater Martin wird deutlicher: „Kevin würde lieber für eine Million beim BVB spielen als für sieben Millionen beim VfL Wolfsburg.“
„Mein Traum ist England. Oder Celtic Glasgow“
Was aber, wenn er sich beim BVB dauerhaft auf der Bank wiederfindet? „Natürlich müsste ich mir Gedanken machen, ob es nicht doch eine andere Perspektive gibt“, sagt er und klingt auf einmal so traurig, als stünde der Abschied kurz bevor. Dann tröstet er sich flugs: „Mein Traum ist es, vielleicht eines Tages nach England zu gehen. Oder zu Celtic Glasgow.“ Zu den Schotten besteht seit zwei Jahrzehnten eine Fanfreundschaft, mit seinen Jungs von der Südtribüne reiste er zum letzten Derby gegen die Rangers im März 2012. Vorm Spiel, beim Bier im proppevollen Celtic-Pub, erkannten ihn die Anwesenden und skandierten seinen Namen. Er zeigt seinen Arm: Gänsehaut.
Doch selbst Celtic wäre nur ein Exil. Er will bleiben, für immer. Und mit 35 Jahren vom Platz direkt auf die Südtribüne zurückgetragen werden. Für seinen Stammplatz hat der letzte Malocher viel gearbeitet in den zurückliegenden Monaten, Extraschichten im Kraftraum geschoben, sogar Einwürfe geübt bis zum Erbrechen, die er jetzt, als Außenverteidiger, oft ausführen muss. Vor den Spielen geht er rüber zu seinen Eltern, seine Mutter kocht ihm Nudeln. Die eigene Küche hat er noch nie benutzt. In seiner Doppelhaushälfte schläft er bloß und guckt Fußball. Ein fast schon mönchisches Leben im Dienste des BVB. „Wo der Trainer mich hinstellt, werde ich alles geben.“ Gesagt von einem Jungen, der beim Bäcker Grobe jetzt seine leere Kakaopackung schüttelt. Und doch klingt es nicht wie ein Phrase. Es ist seine Lebenseinstellung.