Heute vor 30 Jahren gab Francesco Totti sein Debüt für die Roma. Trotz obszöner Offerten anderer Vereine blieb er immer bei seinem Jugendverein. Über den ewigen Spieler in der ewigen Stadt.
Die zeitlose Popularität der römischen Ikone beruht nicht zuletzt auf ihren charakterlichen Brüchen. Seine Auftritte mäandern seit jeher zwischen Bauerntheater und Fellinis „La Dolce Vita“. Wie ein Oberschüler auf der Lambretta, der seine Liebste mit einem anderen erwischt, lässt er jeden bereitwillig an seinen Launen teilhaben. Auf dem Rasen ein hochbegabter Individualist, der in seinen besten Tagen brandgefährlich, antrittsschnell und mit dem Auge für den toten Winkel ausgestattet war. Abseits des Platzes ein wortkarger Nuschelkopp mit eingeschränktem Wortschatz, der vor den TV-Mikros stammelt und gern mal in Fettnäpfchen tappt. Einer, der Tätowierungen bescheuert findet, aber mit Teamkollegen um Lappalien wettet und sich anschließend einen Gladiator auf den Oberarm stechen lassen muss. Der Mario Balotelli mit der Urgewalt eines Mähdreschers umsenst, sich dennoch im Recht wähnt und schimpft, der Gefoulte sei ein „systematischer Provokateur“, der nicht nur „seine Stadt“, sondern auch „sein Volk“ beleidigt habe.
Totti war stets wie ein Kleinkind, das die Grenzen des Machbaren austestet. Als er 2006 mit dem WM-Pokal nach Rom zurückkehrte, schwenkte er ein Banner mit der Aufschrift: „Als Idioten gefahren, als Weltmeister zurückgekehrt.“ Als ihn Coach Luis Enrique 2011 mehrere Spiele lang auf der Bank schmoren ließ und er sich dann beim ersten Einsatz per Elfmetertor zurückmeldete, hob er vor der Fankurve sein Trikot, darunter ein Shirt mit der Aufschrift: „Sorry, ich hab mich verspätet.“ Ein notorischer Poser. Mächtig dicke Hose. Sensibler Macho. Che cazzo. Totti hat gequengelt, genervt, geprahlt und polarisiert, gelangweilt aber hat er sein Publikum nie. Und trotz seiner Grenzgänge war er stets einer, der bauernschlau genug war, um nicht bei den Seinen längerfristig in Ungnade zu fallen.
gingen von „Alle Witze über Totti. Meine Sammlung“ über die Ladentheke. Der Profi veröffentlichte den Band im Jahr 2003 im Berlusconi-Verlag, nachdem es in Italien fast zum Volkssport geworden war, ihn als Dummerchen zu verhöhnen. Die Gewinne aus dem Verkauf spendete er an Unicef. Auch der zweite Band mit Gags über ihn wurde ein Bestseller und durchbrach die Millionen-Schallmauer. Gefragt nach seinem Lieblingswitz, sagte der Kicker: „Tottis Bibliothek ist in Flammen aufgegangen. Sie enthielt genau zwei Bücher. Als Totti davon Wind bekommt, ist er verzweifelt: ‚Verdammt, das zweite hatte ich doch noch gar nicht ausgemalt.‘“
Nur ein einziges Mal schien es, als würde er seinen Status als römische Legende nachhaltig beschädigen. Im Vorrundenspiel gegen Dänemark bei der EM 2004 in Portugal fingen TV-Kameras ein, wie er Christian Poulsen ins Gesicht spuckte. Nachträglich wurde er für dieses Vergehen für drei Spiele gesperrt. Italien schied nach der Vorrunde aus. Wie auf einen Hund prügelte die distinguierte Fußballschickeria aus Norditalien danach auf ihn ein. Eine Schande für seine Stadt sei er, fürs ganze Land. Ein Priester forderte, er möge in einer römischen Wallfahrtskirche Abbitte leisten. In der Nationalelf taten sie sich schwer, ihm den Ausfall zu verzeihen und seine Leistung wieder rein sportlich zu bewerten. Es heißt, er habe zuvor ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, zu Real Madrid zu wechseln. Gut möglich, dass der Vorfall und die anschließenden Turbulenzen ihn zurückhielten, nicht zuletzt, weil er in dieser Phase die Geborgenheit Roms dringender brauchte als je zuvor.
Daheim war er ein König, doch in der Fremde lachten sie über ihn: Wegen seines breiten Slangs gilt er bis heute als Dummbatz, dabei entstammt er eigentlich der römischen Mittelschicht, sein Vater Lorenzo war Bankangestellter. Um die Jahrtausendwende lösten die Totti-Witze in Italien vorübergehend die Gags über hirnlose Carabinieri ab. Totti, der mit Cornflakes puzzelte. Totti, der auf die Frage, was für ihn „Carpe Diem“ bedeute, antwortet: „Was soll das? Ich kann kein Englisch.“ Diese Kategorie von Witzen. Als er es mitbekam, war er zunächst verärgert. Dann drehte er den Spieß um, veröffentlichte den Sammelband: „Alle Witze über Totti. Meine Sammlung“. Das Buch verkaufte sich fast 1,2 Millionen Mal, er spendete den Gewinn an Unicef. Als seine Hochzeit mit Starlet Ilary Blasi, die einst auf Berlusconi-Sendern die Glücksradbuchstaben umdrehte, im öffentlichen Interesse royale Dimensionen anzunehmen drohte, verkaufte er die Bildrechte exklusiv an einen TV-Sender und spendete auch dieses Geld – ans städtische Tierheim.
und drei Tage war Totti alt, als er mit seinem Treffer in der 23. Minute des Gruppenspiels gegen Man City im Herbst 2014 zum ältesten Champions-League-Torschützen aller Zeiten wurde. Der Rekord hat bis heute Bestand. Darüber hinaus gewann er in der Saison 2006/07 den „Goldenen Schuh“ als Europas erfolgreichster Torschütze (26 Treffer). Weitere Erfolge auf internationaler Bühne mit seinem Verein: Fehlanzeige. Totti wird es verschmerzen können, denn nachdem er mit Italien im EM-Finale 2000 Frankreich noch unterlegen gewesen war, revanchierte sich die Squadra Azzurra bei der WM 2006 und wurde zum vierten Mal in ihrer Geschichte Weltmeister.
Ein Gerücht über Francesco Totti besagt, er habe in seinem Leben nur ein einziges Buch gelesen: Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“. Vermutlich hanebüchener Quatsch, wie so viele Dinge, die über ihn erzählt werden. Ein Kernsatz des Romans jedoch passt zu ihm wie die Faust aufs Auge: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“
Der AS Rom hat nun entschieden, dass er aufhören soll. Seit Monaten findet in italienischen Stadien ein Schaulaufen statt. Selbst in Feindesland, etwa im Juventus-Stadion oder im Stadio Luigi Ferraris in Genua, erhält er stehende Ovationen. Anfang Mai sollte auch San Siro für ihn zum Catwalk werden. Allein Luciano Spalletti sträubte sich dagegen. Die schnöde Erklärung: Es ginge für seine Elf schließlich noch um das Erreichen der Champions League.
Alle sind sich einig: Am Saisonende verlässt Totti für immer die Bühne. Viele von seinem Schlag gibt es nicht mehr. Von Spielern, die in einer Zeit, in der Fußball stetig an Identität verliert, ihrem Klub ein unverwechselbares Gesicht verleihen. Doch er selbst gibt sich wortkarg wie so oft. Aus seinem Mund kamen die Worte „Ich höre auf“ – oder Vergleichbares – bislang nicht. Ist es die Angst, die ihn umtreibt, ohne seine große Leidenschaft nicht mehr zu wissen, was er mit dem Leben anfangen soll? Am Tag des Redaktionsschlusses geht eine Meldung über den Ticker. Francesco Totti soll auf die Frage, ob er am 28. Mai 2017 im Stadio Olimpico gegen den CFC Genua 1893 sein letztes Profispiel absolvieren wird, geantwortet haben: „Ich weiß es nicht.“ Nun rätseln alle: Ist es nur römische Polemik, ein Seitenhieb gegen Spalletti, weil Totti ja nicht wissen kann, ob der ihn einsetzt? Oder wechselt er – der Ewige – noch in eine Operettenliga? Oder macht er einfach weiter wie bisher? Einen Fürsprecher hätte er: „Totti ist ein Vorbild für uns alle“, sagt Cristiano Ronaldo, „denn er beweist, dass Fußball in Wahrheit keine Limits hat und Alter keine Rolle spielt.“ So oder so, am Ende wird es heißen: Ciao Ragazzo!