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Dieser Text ist die Lang­fas­sung eines Bei­trags unserer Aus­wärts­spiel-Rubrik in 11FREUNDE #246. Das Heft erhaltet ihr am Kiosk eures Ver­trauens oder hier bei uns im Shop. Auch ihr habt im Urlaub zufällig ein Spiel besucht? Oder gleich einen ganzen Ground­hop­ping-Trip abge­rissen? Dann erzählt uns davon! Schickt uns die spek­ta­ku­lärsten Fotos und skur­rilsten Geschichten von euren Erleb­nissen in den Sta­dien dieser Welt an: auswaertsspiel@​11freunde.​de. Die besten Bei­träge dru­cken wir ab. Wir freuen uns auf eure Ein­sen­dungen!

Wenn ich auf Dienst­reisen bin und länger an einem Ort ver­weile, werfe ich immer auch einen Blick auf die Spiel­pläne vor Ort. Ein ganz beson­deres Spiel durfte ich mit viel Glück in Argen­ti­nien erleben. La Bom­bonera, Argen­ti­nien gegen Vene­zuela und Grande Leo Messi” in seinem womög­lich letzten Spiel auf argen­ti­ni­schem Rasen.

Das Spiel ist restlos aus­ver­kauft; nur über Umwege komme ich noch an ein Ticket – für den sechs­fa­chen Preis. Umso größer die Vor­freude, aber auch die Anspan­nung. Allein unter­wegs in den Straßen von La Boca, die Ein­tritts­karte fest umschlossen in meiner Hand. Das Sta­dion ist in Sicht­weite, noch zwei Stunden bis zum Anpfiff. Nach dem Weg fra­gend helfen die Ein­hei­mi­schen mir zunächst freund­lich – bis ich ihre Frage, woher ich denn komme, beant­worte. Fünf Messi-Jünger quit­tieren mein Ger­many” mit ihren Daumen nach unten. Die nächste Begeg­nung endet mit We hate Ger­many”. Ich merke: Der 2014er Final-Sta­chel sitzt immer noch tief. Den rest­li­chen Abend ver­bringe ich lieber als Öster­rei­cher.

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Es gibt Fleisch, Baby: Einer der typi­schen Asados auf dem Weg zum Sta­dion.

Johannes Retschke

Durch die Rauch­schwaden der unzäh­ligen Asados kämp­fend schaffe ich es 90 Minuten vor Anpfiff in die Heim­stätte der Boca Juniors. In Europa wäre das mehr als genug Zeit, um Sta­di­onluft zu schnup­pern und sich mit Snacks und Getränken zu ver­sorgen. Hier aber herrscht Alko­hol­verbot, das 0,0% Bier kann ich mir also sparen. Das Spiel ganz nüch­tern zu erleben, ist ver­mut­lich ohnehin die bes­sere Idee. Als ich aber meine Tri­büne, die Popular Sur Ban­deja 2”, erreiche, bin ich erstmal ernüch­tert. Denn ich sehe: nichts. Schon drei Stunden vor Anpfiff, so wird mir später gesagt, war die Tri­büne kom­plett gefüllt. Ich stelle mich in die vierte Reihe hinter meinem eigent­li­chen Platz. Die wuch­tigen Ränge über uns ver­de­cken die Sicht auf das Spiel­feld. Das gegen­über­lie­gende Tor kann ich nur erbli­cken, wenn ich mich ducke. Schade, das Fuss­ball­spiel hätte ich schon gerne gesehen.

Das ganze Bau­werk wackelt, hier und da rie­selt Beton­staub. Was geht hier ab, wenn ein Tor fällt?“

Doch dann fangen sie an zu singen: Soy Argen­tino, Es un sen­ti­mi­ento, No puedo parar…” gefolgt von der Hymne und man­tra­ar­tigen Messi”-Sprechchören. Als sie dann auch noch anfangen zu hüpfen, bekomme ich es mit der Angst zu tun. Das ganze Bau­werk wackelt, hier und da rie­selt Beton­staub. Was geht hier ab, wenn ein Tor fällt? Das Spiel wird jetzt zur Neben­sache.

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Wie Sie sehen, sehen Sie nichts: Der Blick von der Tri­büne.

Johannes Retschke

Dann in der 35. Minute – ich habe es nicht gesehen – fällt der erste Treffer und damit auch alle Men­schen in den Reihen vor mir. Ich kann mich gerade noch an einer Säule fest­halten, um nicht unter der Menge begraben zu werden. Aller­höchsten Respekt an dieser Stelle an die vielen eher schmächtig gebauten Frauen um mich herum, die das ein­fach mit­ma­chen und danach freu­de­strah­lend aus der Menge wieder her­aus­krab­beln. Man muss das wohl wollen. Gleich­zeitig wird der Moment auch von denen genutzt, die noch keinen Platz auf der Tri­büne hatten. In der Gunst des Moments strömen wei­tere Scharen von Fans auf die Ränge. Ich ent­scheide mich, mir einen anderen Platz zu suchen und zur Halb­zeit meine Chance zu nutzen, doch noch etwas vom Spiel zu sehen.

Es war die rich­tige Ent­schei­dung. Pünkt­lich zum Anpfiff der zweiten Hälfte, lasse ich mich in den Unter­rang schieben. Oder werde ich eher dort hin­ein­ge­sogen? Ich weiß es nicht, ich muss mich jeden­falls nicht selbst bewegen, die Menge erle­digt es für mich. Zum ersten Mal sehe ich das kom­plette Sta­dion in seiner vollen Pracht. Die Pra­li­nen­schachtel“ – jetzt ver­stehe ich.

Der König trifft

Der Rest ist Staunen. Ich habe jetzt nur noch Augen für die Fans, die unauf­hör­lich ein Lied nach dem nächsten schmet­tern. Dass ihr König in der 82. Minute zum 3:0‑Endstand ein­schiebt, wäre nicht nötig gewesen für die Euphorie, die sie ihm ohnehin schon ent­ge­gen­bringen. Um mich herum sehe ich wei­nende Men­schen. Es ist wohl der Abschied und die Freude dar­über, dass er noch einmal für sie in ihrem Land trifft.

In diesem Moment wird mir klar, warum die Abnei­gung gegen Fuß­ball­deutsch­land noch immer groß ist. Wahr­schein­lich ist diese Pas­sion nur mög­lich, wenn Freude und Trauer so nah bei­ein­ander liegen. Wenn ein Sta­dion über 90 Minuten der­artig bebt, dann kommt es wohl von Herzen.

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