1979 floh Lutz Eigendorf nach einem Spiel von BFC Dynamo beim 1. FC Kaiserslautern in den Westen. Vier Jahre später, am 7. März 1983, starb er an den Folgen eines Autounfalls – unter fragwürdigen Umständen. Der Historiker Andreas Holy hat sich mit dem Fall befasst.
Dieses Interview erschien erstmals im März 2013.
Andreas Holy, Sie schrieben ihre Examensarbeit über den Republik-Flüchtling und DDR-Fußballer Lutz Eigendorf. Was passierte am Abend des 5. März 1983?
Laut Polizei erlitt Lutz Eigendorf einen Autounfall, dessen Ursache Alkoholeinfluss war. Bei ihm wurden 2,2 Promille festgestellt. Für die Polizei war der Fall klar. Zwei Tage später verstarb Eigendorf an den Folgen seiner Verletzungen.
Wie ist ihre Sicht der Dinge?
Am 5. März hatte Eigendorf mit Eintracht Braunschweig ein Spiel gegen den VfL Bochum. Nach dem Spiel trank er zwei kleine 0,2l-Bier. Danach fuhr er für einige Stunden nach Hause zu seiner Familie. Abends traf Hobbypilot Eigendorf sich noch mit seinem Fluglehrer in der Kneipe „Zum Cockpit“, um einen für den nächsten Tag geplanten Flug zu besprechen. Nach Augenzeugenberichten soll er dort wiederum ein bis zwei 0,2l-Bier getrunken haben. Eigendorf war also keinesfalls betrunken, als er gegen zehn Uhr abends die Fliegerkneipe verließ. Trotzdem wurde bei seiner Einlieferung ins Krankenhaus der Alkoholwert von 2,2 Promille festgestellt.
Wie passt das zusammen?
Überhaupt nicht. Als ich den Fluglehrer für meine Arbeit interviewte, versicherte auch er mir, dass sie „allerhöchstens zwei Bier“ getrunken hätten. Hinzu kommt, dass Eigendorf aufgrund seines hohen Blutverlustes noch auf dem Weg ins Krankenhaus eine Infusion gelegt wurde, die den Blutwert wahrscheinlich zusätzlich verfälschte. Sein Promillewert zum Unfallzeitpunkt muss also noch deutlich höher gelegen haben.
Was ist in der Stunde zwischen dem Verlassen der Kneipe und dem Unfall passiert?
Um so einen hohen Alkoholwert zu erreichen, hätte er innerhalb kürzester Zeit viereinhalb Liter Bier oder zwei Liter Wein trinken müssen. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Wie erklären Sie sich den hohen Alkoholwert?
Ich schätze, dass er von MfS-Agenten (MfS: Ministerium für Staatssicherheit, d. Red.) zunächst entführt und dann eventuell vergiftet wurde. Es ist wahrscheinlich, dass ihm irgendwie Alkohol eingeflößt wurde. Möglicherweise intravenös per Spritze oder oral. Daraufhin wurde er vermutlich laufen gelassen, sodass er unter Todesangst davon gefahren ist.
Weiß man, wohin er wollte?
Nein, die Strecke, die er gefahren ist, lag nicht auf seinem regulären Heimweg. Wahrscheinlich wurde er verfolgt. Sie jagten ihn die Forststraße in Braunschweig entlang, in einer schwierigen Kurve, die damals sowieso ein Unfallschwerpunkt war, wurde er dann „verblitzt“, wie es im Stasi-Jargon hieß.
Was bedeutet das?
Man hat ihn plötzlich geblendet, sodass er zusammen mit der Wirkung des Alkohols die Orientierung verloren hat und letztlich gegen den Baum gerast ist.
Gibt es Belege für diese Theorie?
Zu 100 Prozent kann man das nicht nachweisen. Belege und Hinweise für diese Version gibt es jedoch eine Menge. Ich habe mich insgesamt durch circa 3600 Akten gelesen: 1000 Ermittlungsakten der Polizei Braunschweig und Staatsanwaltschaft Berlin und 2600 MfS-Dokumente. Das deutlichste Indiz ist ein handschriftliches Blatt in Eigendorfs Stasi-Akte, auf dem in Stichworten steht: „Unfallstatistiken? Von außen ohnmächtig? Verblitzen, Eigendorf, Narkosemittel“. Die Staatssicherheit hat sich detaillierte Gedanken gemacht, wie man Eigendorf etwas anhaben kann.
War es überhaupt üblich, dass die Stasi Leute bewusst ermordete?
„Liquidationen“, wie das MfS es nannte, bezeichnet die „physische Vernichtung von Einzelpersonen oder Personengruppen“. Diese Definition ist in Stasi-Akten der „Arbeitsgruppe des Ministers für Sonderaufgaben“ (AGM/S) dokumentiert. Die Akten lesen sich wie Handbücher oder Trainingspläne. Es gab ganze Ordner voller Tötungsmethoden. 1988 kam beispielsweise die „Toxdat-Studie“ heraus, die an der Humboldt-Uni in Ostberlin erarbeitet wurde. Sie liest sich wie die perfekte Anleitung für einen Giftmord, der immer wie Selbstmord oder ein Unfall aussehen musste. Besonders wichtig war es für die Stasi, alle Spuren zu verwischen.
Warum sollte die Stasi so umfangreiche Operationen im Westen durchgeführt haben?
Das MfS hat den „Fall Eigendorf“ sehr ernst genommen. Seine Flucht in den Westen war ein Schlag ins Gesicht der DDR. Er wurde „Beckenbauer der DDR“ genannt und war Aushängeschild und große Hoffnung des Ost-Fußballs.
Zudem soll Eigendorf der Lieblingsspieler von Stasi-Chef Erich Mielke gewesen sein, der zugleich erster Vorsitzender des BFC Dynamo Berlin war.
Nach Augenzeugenberichten soll Mielke bei Spielen immer total ausgerastet sein. Obwohl es nur sehr wenige Schiedsrichterentscheidungen gegen den BFC gab, soll er einmal sogar die Erschießung des Unparteiischen gefordert haben. Dabei waren die Schiedsrichter meist schon bestochen. Die Flucht von BFC-Talent Eigendorf war also Chefsache. Der Sport in der DDR war Prestigeobjekt und Instrument, um nach außen und innen Stabilität und Macht zu demonstrieren.
Später im Westen gab Eigendorf einige DDR-kritische Interviews. Ist er der Stasi nach seiner Flucht bewusst an den Karren gefahren?
Die Interviews hätte er lieber nicht geben sollen. Einige Tage vor seinem Tod gab er ein Fernseh-Interview vor der Berliner Mauer. Im Hintergrund war sogar das Stadion des BFC zu sehen. Das MfS hat das sicher als Provokation eingeordnet. Nach dem Motto: „Ich habe es geschafft: Ich bin im Westen und es geht mir gut.“ Vielleicht war das der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Wie umfangreich waren die Überwachungsmaßnahmen nach der Republikflucht Eigendorfs?
Mehrere Abteilungen widmeten sich dem Fall „Eigendorf“: Bis zu 50 Personen waren an der Observation beteiligt. Nicht nur informelle Mitarbeiter im Westen, sondern auch Geheimdienstler aus Ostberlin – Eigendorf wurde auf Schritt und Tritt überwacht.
Was wurde alles dokumentiert?
Alles. Freizeitaktivitäten, Fahrverhalten, private Beziehungen. Es gab kein Detail, das für das MfS nicht relevant war: Was hat er gemacht, wenn er nicht trainierte? Wo fährt er hin? Welche Wege benutzt er? Wo stellt Eigendorf sein Auto ab? Wie geht er mit Alkohol um? Sie wussten alles über ihn. Es gibt Karten, auf denen die exakten Wegstrecken eingezeichnet sind, die Eigendorf üblicherweise mit seinem Wagen zurücklegte.
Gab es neben der Totalüberwachung und den ungeklärten Unfallumständen noch andere konkrete Hinweise auf einen geplanten Mord an Lutz Eigendorf?
Der „IM Klaus Schlosser“ hat später bei der Polizei einmal ausgesagt, dass er von seinem Führungsoffizier Heinz Hess einen konkreten Mordauftrag und 5000 Mark bekommen habe, um sich eine Schusswaffe zu kaufen, mit der er Lutz Eigendorf erschießen sollte. Das kann so stimmen, aber Aussagen des „IM Klaus Schlosser“ sollte man mit Vorsicht genießen.
Warum?
„Klaus Schlosser“ alias Karl-Heinz F. saß wiederholt im Gefängnis. Dort wollte ich ihn auch zum Fall befragen, aber er wollte nur für Geld aussagen. Gegen Bezahlung kann man ja viel erzählen. Allerdings befindet sich in seiner IM-Akte tatsächlich eine Quittung aus dem April 1982 über 5000 Mark. Verwendungszweck: „Zur Durchführung eines Auftrags“. Schlosser sagte, die Stasi beauftragte ihn damals, sich von dem Geld eine Waffe zu kaufen, er habe sich aber letztlich ein Auto gekauft.
Es heißt, dass der „IM Klaus Schlosser“ Eigendorfs bester Freund gewesen sei. War es tatsächlich so?
Eigendorf kannte Schlosser noch aus Ostberlin. Dort war der IM Türsteher in einer Stammkneipe der Dynamo-Spieler. Er wurde gezielt in den Westen geschickt und auf Eigendorf angesetzt. Allerdings war das Verhältnis nicht so eng, wie oft kolportiert wird.
Warum?
Das bezweifle ich nach den Aussagen von Eigendorfs Witwe. Sie sagte, dass sie einen Klaus Schlosser überhaupt nicht kenne. Das widerspricht der Aussage, dass dieser laut der Stasi-Akten bei Eigendorf ein- und ausgegangen sei. Ich schätze, dass der „IM Klaus Schlosser“ das MfS als Geldquelle genutzt hat und denen irgendwas erzählt hat.
War die „Liquidation“ Eigendorfs von Anfang an beschlossene Sache?
Zunächst hat man versucht, ihn zurück in die DDR zu holen. Eigendorf hatte in Ostberlin ja noch eine Frau und ein Kind. Die Stasi hat großen Druck auf seine Frau ausgeübt. Sie sollte ihn überreden, zurückzukommen. Ihm wurde Amnestie versprochen, wenn er zurück käme. Sie drohten, das Kind wegzunehmen. Sogar ein „Romeo“ wurde auf seine Ex-Frau angesetzt, der in Diensten der Stasi Informationen über Eigendorf herauskitzeln sollte.
Änderte die Stasi den Kurs, nachdem aus Eigendorf ein erfolgreicher Bundesliga-Spieler wurde?
Es gab viele „Maßnahmepläne“ und ständig neue Überlegungen, wie mit ihm umzugehen sei. Kurz vor seiner Ermordung wollte man ihn zu Nervosität und Fehlern zwingen. Man versuchte auch, ihn öffentlich in ein schlechtes Licht zu rücken. Beispielsweise hatte man auch überlegt, den Anschein zu erwecken, dass er seiner Frau untreu sei.
Wusste man im Westen nicht, dass Eigendorf mit Argusaugen beobachtet wurde? Warum stellte man so wenig Fragen nach seinem Tod?
Die Brisanz des Falles Eigendorf wurde verkannt. Die politische Ebene, die sich hinter Eigendorfs DDR-Flucht verbarg, wurde bei Ermittlungen vollkommen ignoriert. Man konnte sich nicht vorstellen, dass der Geheimdienst der DDR auf bundesdeutschem Boden zu so etwas in der Lage war. Ein großes Versäumnis der Ermittler.
Dennoch wurde der Fall mehrfach neu aufgerollt.
Die Hinweise dafür kamen jedoch immer von außen. Die Justiz war mit dem Fall überfordert und wollte ihn möglichst schnell vom Tisch haben. Die Causa Lutz Eigendorf ist einfach sehr vielschichtig, allein die Komplexität der Stasi-Strukturen ist ein großes Hindernis bei Ermittlungen. Die Mitarbeiter des MfS haben nur die Infos für den Job bekommen, die sie wissen mussten. Die Einzigen, die eine Draufsicht hatten, waren die Abteilungsleiter.
Im Fall von Eigendorf war das Heinz Hess, der inzwischen verstorben ist.
Hess wurde nach der Wiedervereinigung zwar zweimal als Beschuldigter im Fall „Mord zum Nachteil Eigendorfs“ von der Polizei vorgeladen, erschien aber einfach nicht zur Vernehmung. Damit hat man sich zufrieden gegeben! In den Polizeiakten ist vermerkt: „Der Beschuldigte ist nicht erschienen und hat sich daher nicht auf den Tatvorwurf eingelassen.“
Warum wurde nicht nachgehakt?
Genau das kann man den Ermittlungsbehörden vorwerfen. Außerdem wurde Eigendorf niemals obduziert. Später, als Hinweise darauf hindeuteten, dass der Unfall ein Mord sein könnte, hätte man seinen Leichnam auch noch exhumieren können für eine kriminologische Untersuchung. Aber jetzt ist es zu spät für derartige Schritte.