Held von Rio, gescheitertes Jahrhunderttalent, dessen Image irgendwo auf dem Weg zum Weltstar implodierte. Ist es so einfach? Nein! Denn Mario Götze war vielleicht der Beste, den eine ganze Generation je gesehen hat. Heute wird er 30.
Dieser Text erschien erstmals im Mai 2020.
Der Justin-Bieber-Shake. Das Trikot schlabberig am dürren Leib. Schnitt. Das erste Spiel in Köln. Der Fehlpass, der zum Gegentor führt. Schnitt. Umarmung von Klopp. Der beschämte Blick des kleinen pickeligen Jungen. Schnitt. Dann das erste Tor in Stuttgart. Das Tor gegen Mainz. Tabellenführung. Schnitt. Das Traumsolo gegen Hannover. Der Schuss gegen Nürnberg. Schnitt. Die Spritzigkeit. Der Leichtfuß. Der Golden Boy. Das Meisterstück. Der Pokal. Und dann: schwarz.
Das Bild, das mein Hippocampus von Mario Götze zusammenflechtet, ist nicht das aufgeblasene, verklärte, gegen das er seit dieser verfluchten Nacht von Rio ankämpft. Zugegeben, ganz löschen kann ich das Bild auch nicht, aber ich versuche ebenso dagegen anzukämpfen wie Götze. Und wer gezielt in seiner Erinnerung kramt, kann sie regulieren und dann wird er erkennen, dass da tatsächlich weit mehr auf Götzes Abzug ist, als die Sequenzen vom Jahrhunderttalent zum Bayernwechsel über das WM-Finale hin zur gescheiterten Rückkehr nach Dortmund und einer Flucht nach Holland.
Zerrt man all diese Dinge auseinander, ergibt sich eine feinkörnige Aufnahme von ihm. Eine, in der noch immer der kleine pickelige Junge von 2010 steckt, der seinerzeit das Größte war, was ich als 15-jähriger (noch viel pickeligerer) Junge in meinem Fandasein erleben durfte.
Nach Jahren mit Marc-Andre Kruska, Florian Kringe (in allen Ehren!) und Sascha Rammel war da plötzlich dieser Mario Götze, bloß ein paar Jährchen älter als ich. Hier und da hatte man mal etwas von ihm gehört: Er soll ein Großer werden, sagten sie. Ja ja, Sebastian Tyrala sollte auch ein ganz Großer werden. Und dieses Megatalent aus Madrid auch. Flavio Conceicao oder so.
Doch Götze, das wurde schnell klar, war keine Luftpumpe wie die anderen groß angekündigten Turbo‑, Mega- und Ultra-Talente. Sondern tatsächlich ein unfassbarer Fußballer. Wie ein freies Radikal schien er über den Platz zu schweben. Und erinnerte einen angegrauten Verein daran, wie viel Schönheit in ihm schlummert. Kein One-Season-Wonder. Viel mehr war man sich zu diesem Zeitpunkt sicher, Götze sei der beste Spieler, den Dortmund je hervorgebracht hat.
Um ihn herum bildete sich eine Mannschaft, die das erfolgreichste Jahrzehnt der Vereinsgeschichte begründen sollte. Mit dem jungen Spielmacher als entscheidendem Wurzelstrang.