Dieter Hildebrandt war eng mit Sammy Drechsel befreundet, dem Schöpfer des besten Fußballromans in deutscher Sprache. Nun erscheint „Elf Freunde müsst ihr sein“ in einer Neuausgabe. Zeit, sich zu erinnern – an einen Mann, den der Fußball seiner Kindheit niemals losließ
Dieter Hildebrandt, wie oft haben Sie „Elf Freunde müsst ihr sein“ bislang gelesen?
Oh, über all die Jahre bestimmt zehn Mal. Es ist ja einfach ein wunderbares Buch! Wobei ich sagen muss: Die Urversion, die mir Sammy 1955 zum Lesen gab, gefiel mir sogar noch besser, sie war schnoddriger und gemeiner. Aber seine Lektorin setzte eine publikumsfreundlichere Fassung durch und warf die alte einfach weg, damit Sammy endlich Ruhe gab. Der Erfolg spricht für sich. Trotzdem ist es schade um dieses allererste Manuskript – da könnte man heute einen wahren literarischen Schatz heben.
Was löst die Geschichte von Heini Kamke, seinen Freunden und ihrem Ringen um die Berliner Schulmeisterschaft heute in Ihnen aus?
Wehmut. Ich denke natürlich an den lieben Sammy, der 1986 viel zu früh von uns gegangen ist. Und an meine eigene Kindheit, eine Zeit, da Fußball für uns alles war. Wir beugten uns noch nicht über Telefone und kommunizierten mit unsichtbaren Freunden – wir waren ganz im Hier und Jetzt. Es war herrlich, einfach herrlich.
Es scheint, als wäre Drechsel beim Schreiben wieder zum Kind geworden.
Er hat nie aufgehört, ein Kind zu sein, vor allem beim Fußball. Wenn wir selbst spielten, wurde seine Stimme schon in der Umkleidekabine um eine Oktave höher, so aufgeregt war er. Und als er dann „Elf Freunde müsst ihr sein“ schrieb, war er selbst wieder Heini Kamke, wie er ja wirklich mit bürgerlichem Namen hieß. Ich finde diese Rückverwandlung heute noch erstaunlich, denn immerhin lagen 20 Jahre und ein Krieg dazwischen.
Die politischen Verhältnisse um 1935 erwähnt er in dem Buch mit keinem Wort.
Was ihm aber nicht vorzuwerfen ist, finde ich. Es ist nur ein Beweis dafür, wie sehr ihn und uns alle der Fußball ausgefüllt hat.
Kein Geringerer als Bundestrainer Sepp Herberger widersprach Drechsel: „Die Freundschaft ist mit der Liebe verwandt. Aber man kann doch nicht elf andere lieben.“ Wer hat denn nun recht?
Na, beide! Herberger musste aus seinem Notizbuch heraus eine Mannschaft konstruieren, die um die Weltmeisterschaft mitspielt, und konnte auf Zwischenmenschliches kaum Rücksicht nehmen. Sammy aber sprach vom Breitensport, vom Kicken auf den Höfen und Wiesen, bei dem es um nichts geht. Und doch um so viel, vor allem eben um die Freundschaft unter Jungs im gleichen Alter. Etwas Kostbareres gibt es kaum.
Im Vergleich zu heutigen Mannschaften wirkt selbst Herbergers Truppe wie eine Clique.
Wir könnten jetzt anfangen, über den merkantilen Druck zu schimpfen, der Freundschaft fast unmöglich macht. Aber das sind doch Binsenweisheiten. Ich glaube vielmehr, dass im Spitzenfußball die Idee von den elf Freunden schon hinfällig war, als Mitte der Sechziger das Auswechseln erlaubt wurde. Das hat die Kader ins Unermessliche wachsen lassen. Schauen Sie nach Wolfsburg: Dort kennen die Spieler ihre Kollegen nicht mal beim Namen.
Kann der Romanheld Heini Kamke heute noch ein Idol für die Jugend sein? Oder hat er keine Chance gegen Messi?
Ich glaube, dass selbst Messi ganz ähnlich angefangen hat wie Heini – auf dem Bolzplatz, mit dem brennenden Ehrgeiz, den Ball so oft wie möglich ins Tor zu befördern, bevor es dunkel wird. Dass er heute ein Weltstar ist und Millionen verdient, ist Teil einer ganz anderen Fußballwelt. Wir müssen sie getrennt denken von der, die wir in „Elf Freunde müsst ihr sein“ vorfinden. Dort liegt der Anfang von allem. Und deshalb kann Heini natürlich auch heute noch Vorbild sein.
Sie gründeten mit Drechsel 1956 nicht nur die Münchner „Lach- und Schießgesellschaft“, sondern auch die Fußballmannschaft FC Schmiere. Wie sah es da mit der Freundschaft aus?
Sie wurde in Reinkultur gelebt! Wir haben es geschafft, so illustre Charaktere wie Paul Breitner, Rudi Dutschke und Wolfgang Neuss in die Truppe zu integrieren. Sogar die Weltmeister von 1954 haben mitgemischt – und festgestellt, dass Freundschaft eben doch keine Illusion ist.
Auch der große Fritz Walter soll mal für den FC Schmiere aufgelaufen sein.
Ja, er schoss einmal ein Kopfballtor, was Seltenheitswert hatte, weil er sonst sehr um den perfekten Sitz seiner Tolle besorgt war. Er lief sofort zur Tribüne des Stadions in Mannheim, auf der Herberger saß, und rief stolz: „Chef, ein Köppä!“ Und Herberger nickte.
Rekordschütze bleibt jedoch Sammy Drechsel mit 1500 Toren.
Es war der immer gleiche Spielzug: Bernd Patzke von 1860 eilte mit dem Ball nach vorn. Dort musste er ein paar Sekunden warten, weil Sammy nicht besonders schnell war. Er tänzelte also einige Verteidiger aus, dann spielte er ihm genau in den Fuß, und Sammy, das musste man ihm lassen, war eiskalt vor dem Tor.
Drechsel war auch ein begnadeter Kommentator. Vermissen Sie seine Stimme bei heutigen TV-Übertragungen?
Fragen Sie nicht! Ich drehe den Ton ab, sonst ärgere ich mich zu sehr über so viel Unkenntnis und so wenig Sprachgefühl. Sammy wäre heute noch beliebter als damals. Aber wahrscheinlich würde er die meisten Termine absagen, um selbst auf dem Platz zu stehen.
Wenn Sie heute die Wahl hätten, für Ihren Lieblingsklub 1860 oder für Heini Kamkes Schulmannschaft zu spielen …
Ich würde mich natürlich für Heini entscheiden. Für die Freundschaft.