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Für Adler-Anhänger mit Flug­angst geht es etwas früher los. Mitt­woch­mor­gens trifft man sich am Frank­furter Haupt­bahnhof, um gemeinsam nach Est­land zu auf­zu­bre­chen. Es wird nicht nur eine 30 Stunden lange Fahrt, son­dern für die meisten auch eine Reise ins eher Unbe­kannte. Der Otto Nor­mal­fuß­ball­gu­cker kann mit dem est­ni­schen Rekord­meister Flora Tal­linn in der Regel nicht viel anfangen. Nur treuen Ver­fol­gern der ersten Europa-League-Qua­li­fi­ka­ti­ons­runde ist der FC Flora ein Begriff, denn dort sind die Tall­inner Dau­er­gast. In den letzten Jahren hatte das Aus­scheiden in der ersten Runde aber genauso Tra­di­tion, wie die Teil­nahme selbst. In Tal­linn erwartet die Frank­furter am Don­nerstag also ein typi­scher Europa-League-Qua­li­fi­ka­ti­ons­teil­nehmer: national domi­nant, inter­na­tional unbe­kannt.

Span­nende Anreise

Ziel der treusten aller Ein­tracht-Fans ist der Tall­inner Bezirk Lil­le­küla, das Blu­men­dorf, wo der Fuß­ball­tempel Floras, die A. Le Coq Arena, liegt. Die für die knapp 2000 Kilo­meter lange Zug- und Bus­fahrt aus­rei­chend Wahn­sin­nigen unter den Aus­wärts­fah­rern stranden am Don­ners­tag­nach­mittag aber erstmal am Tall­inner Haupt­bahnhof Balti Jaam“. Für die Eisen­bahn­en­thu­si­asten in der Gruppe uner­schro­ckener Unter­stützer wird es schon dort auf­re­gend. Beim Wechsel zum öffent­li­chen Nah­ver­kehr stellt das geschulte Auge fest, dass das Tall­inner Stra­ßen­bahn­netz eines der wenigen mit einer nur 1067 Mil­li­meter breiten Kap­spur ist. Solche Schmal­spur­bahnen sind heut­zu­tage sehr selten in Europa. Die Ersten sind also glück­lich, als man in die Linie 1 der Tal­linna Lin­na­trans­pordi steigt. 30 Minuten Schmal­spur­spaß später wird es für den in bal­ti­schen Spra­chen bewan­derten SGE-Fan ein­deutig. Die Truppe steht auf der Jalg­palli.

Jalg­palli“ ist das est­ni­sche Wort für Fuß­ball und nicht nur der unmiss­ver­ständ­liche Stra­ßen­name sagt den von der langen Reise erschöpften Ein­tracht-Sup­portern, dass sie richtig sind. Vor ihnen baut sich jetzt in gelb und weiß die A. Le Coq Arena auf. Mit dem Sta­di­on­namen wurde nicht etwa dem mitt­ler­weile in Valencia unter dem Spitz­namen Le Coq“ blut­grät­schenden Francis Coquelin ein Denkmal gesetzt, son­dern in der Brauerei A. Le Coq“ ein Sponsor gefunden. Des­halb heißt die 15.000 Zuschauer fas­sende Arena bei inter­na­tio­nalen Spielen, in denen Wer­bung im Sta­di­on­namen ver­boten ist, Lil­le­küla Staa­dion.

Inter­na­tional gespielt wird in Lil­le­küla so gut wie jedes Jahr. Das staat­lich sub­ven­tio­nierte Team hat im Kampf um die für die Qua­li­fi­ka­tion berech­ti­genden ersten drei Plätze oft leichtes Spiel. In aller Regel wird den Flora-Fans in der A. Le Coq Arena ein Sieg geboten. 2003 konnte man gar eine ganze Saison ohne Nie­der­lage blieben. Gene­rell ist Tal­linn, im Mit­tel­alter eine der am besten befes­tigten Städte an der Ostsee, für den Rest der est­ni­schen Fuß­ball­welt schwer zu erobern. Seit der Grün­dung der Pre­mium Liiga 1992 gingen alle 27 Meis­ter­schaften an Ver­eine aus der Haupt­stadt. Zehn davon ins Blu­men­dorf zu Rekord­meister Flora.

Im Halb­fi­nale des est­ni­schen Pokals wurden die Flora-Fans 2018 beson­ders gut unter­halten. Zwölf Tore für den FC Flora konnten die 260 Zuschauer auf einem Neben­platz der A. Le Coq Arena beju­beln. Drei davon für die eigene U21, die es bis ins Semi­fi­nale geschafft hatte. Nicht nur in seiner erstaun­lich erfolg­rei­chen Nach­wuchs­mann­schaft bereitet Flora die zukünf­tigen Sterne am est­ni­schen Fuß­ball­himmel auf den Ernst­fall vor. Denn durch die für est­ni­sche Ver­hält­nisse hohen finan­zi­ellen Res­sourcen kann sich Flora gleich meh­rere Farm­teams, wie zum Bei­spiel den Erst­li­gisten JK Tulevik Vil­jandi, erlauben.

Bal­ti­sche Kanonen

Aber zurück zu unserer Rei­se­gruppe. Die mitt­ler­weile seit fast zwei Tagen mehr oder weniger wachen Ein­tracht-Fans haben sich inzwi­schen auf ihren Plätzen ein­ge­funden und genießen kühles A. Le Coq“. Einer hat den Stra­ßen­bahn­umweg um die Alt­stadt noch nicht ganz über­wunden. Mit grim­migem Blick in seinen Rei­se­führer gibt er zu bedenken, dass man sich ja wenigs­tens noch den Kiek in de Kök“ hätte angu­cken können. Sei­ner­zeit immerhin der stärkste Kano­nen­turm des Bal­ti­kums. Viel­leicht ent­schä­digt den Hau­bit­zen­ro­man­tiker, dass man gleich die aktuell am schärfsten schie­ßende Kanone Est­lands in Aktion sehen wird. Denn Flora-Stoß­stürmer Erik Sorga, der in der lau­fenden Saison bereits 20 Buden in 20 Spielen machte, ist mit Abstand der beste Bal­ler­mann des Bal­ti­kums. Auch wegen Sorgas Toren hat Flora in der Pre­mier Liiga, die im Juli bereits voll im Gange ist, schon kom­for­table fünf Punkte Vor­sprung auf den Tabel­len­zweiten Levadia.

Trotz Über­macht­stel­lung im natio­nalen Wett­be­werb ist der chro­ni­sche Europa-League-Qua­li­fi­ka­ti­ons­teil­nehmer Flora auf inter­na­tio­naler Ebene nur eine sehr kleine Nummer. Im Duell mit anderen Giganten inter­na­tional mit­tel­re­le­vanter Ligen musste man sich in den letzten Jahren den Geg­nern aus Zypern (APOEL Nikosia), Alba­nien (FK Kukësi), Geor­gien (Dinamo Tiflis), Nord­ma­ze­do­nien (Rabot­nicki Skopje) und Gibraltar (Lin­coln FC) stets geschlagen geben. Der 4:2 Sieg nach Hin- und Rück­spiel der ersten Qua­li­fi­ka­ti­ons­runde gegen Rad­nicki Nis, den letzt­jäh­rigen Über­ra­schungs­zweiten der ser­bi­schen Linglong Tire Super Liga, wird also als großer Tri­umph ver­bucht.

Jedes nicht dra­ma­tisch hohe Aus­scheiden gegen die Ein­tracht wäre ein wei­terer Erfolg, ein Wei­ter­kommen eine Sen­sa­tion. Deut­lich wird das auch auf dem Trans­fer­markt. Der gesamte Kader der Esten ist laut trans​fer​markt​.de“ nur 5,25 Mil­lionen Euro wert. In Frank­furt-Spie­lern gerechnet bekommt man den Flora-Kader also für einen Jetro Wil­lems (5 Mil­lionen Euro Markt­wert) plus den 34-jäh­rigen Ersatz­tor­wart (Jan Zim­merman, 250.000 Euro). Das Spiel gegen die Ein­tracht ist für Tal­linn eins der größten der Ver­eins­ge­schichte. Dem­entspre­chend werden wesent­lich mehr Zuschauer als bei den Liga­spielen erwartet, zu denen nor­ma­ler­weise nur gut 700 Zuschauer kommen.

Schau­keln statt Kicken

Das liegt auch daran, dass Fuß­ball laut Rei­se­führer nicht der Volks­sport der Esten ist. In Est­land genießt man sein A. Le Coq viel lieber beim Kii­king, dem Extrem-Schau­keln. Bei dem Gedanken an Über­schläge auf bis zu acht Meter hohen Schau­keln wird hes­si­schen Gemü­tern aber eher schwin­delig. Ohnehin emp­findet der ein oder andere nach der langen Reise und viel­leicht einem A. Le Coq zu viel etwas Unwohl­sein. Ärger­lich, dass man mit der Schmal­spur­bahn­fahrt an der Alt­stadt vorbei auch die Raep­teek, die älteste Apo­theke Europas, aus­ge­lassen hat. In der his­to­ri­schen Abtei­lung werden sogar noch Rezepte mit ver­branntem Igel auf­be­wahrt. Bestimmt auch für die­je­nigen genau das Rich­tige, die ob der unmit­telbar bevor­ste­henden Partie noch etwas nervös sind.

Wozu aber eigent­lich kein Anlass besteht, schließ­lich ist die Ein­tracht haus­hoher Favorit. Sollten die Adler das Duell mit Flora wie erwartet schau­keln, geht es in der nächsten Runde ent­weder gegen den unga­ri­schen Vize­meister FC Vehérvar oder den FC Vaduz aus Liech­ten­stein. Mit Fahr­zeiten von nur 15, bezie­hungs­weise fünf Stunden, wird das für die zähen Ein­tracht-Fans fast schon ein Heim­spiel.