Heute trägt Lukas Podolski zum allerletzten Mal das Trikot der Nationalelf. Wir haben ihn besucht und uns wehmütig verabschiedet
Drei Leute sind fast zweitausend Kilometer geflogen, um den wohl einzigen Nationalspieler seit Uwe Seeler zu treffen, auf den sich alle einigen können. Während sie warten, werden Geschichten erzählt, Erinnerungen aufgewärmt, Anekdoten ausgetauscht. Plötzlich schrillt das Smartphone, um den Eingang einer Textnachricht zu melden.
„Wir haben ein Problem“, schreibt Lukas Podolski. „Ich habe meine Autoschlüssel verloren.“ Und dahinter packt er das Emoji mit dem Äffchen, das sich die Augen zuhält. Für einen Moment steigt Panik auf. Soll man ein Taxi zur Rettung des in der achtgrößten Stadt der Welt gestrandeten Spielers losschicken? Oder den Termin verschieben? Gar Rückflüge umbuchen? Da meldet sich das Handy erneut.
Lahm war das Gehirn, Poldi die Seele
„Bin unterwegs“, schreibt Podolski, gefolgt von der digitalen Version der Geste, die jeder von ihm kennt: Daumen nach oben. Puh. Hat er wirklich seine Schlüssel in der Kabine verlegt? Haben ihm seine Mitspieler einen Streich gespielt? Oder hat er sich einen kleinen Scherz mit seinen Besuchern erlaubt? Alle drei Möglichkeiten würden irgendwie zu dem Mann passen, der den Aufstieg der Nationalelf von einem Haufen verbissener Trauerklöße zur coolen Truppe von Sympathieträgern geprägt hat wie niemand sonst.
Philipp Lahm war das Gehirn dieser Nationalelf, Bastian Schweinsteiger ihr Gesicht, Per Mertesacker das gute Gewissen – doch Herz und Seele des Teams war immer „Poldi“. Wenn er am 22. März zu seinem Abschiedsspiel den Rasen des Dortmunder Westfalenstadions betritt, wird es sich für viele Menschen auf den Rängen und vor dem Fernseher anfühlen, als sei mit diesem Tag etwas unwiederbringlich vorbei. Für einige ist es die Kindheit, für andere die Jugend, für alle der Fußball nach den Rumpelfüßlern und vor den Laptoptrainern. Ein Fußball ohne Kalkül, der von Spaß und Emotion lebte.
„Vielleicht mögen mich die Leute so, weil ich die Mentalität eines Straßenfußballers habe“, sagt Podolski, als er wenige Minuten später eintrifft, die Baseballmütze verkehrt herum auf den Tisch wirft und seine Autoschlüssel reinlegt. „Ich habe auf dem Bolzplatz angefangen, zusammen mit meinen Kumpels gespielt, und das steckt immer noch in mir drin.“ Klar ist es zum Teil das. Aber eigentlich ist es etwas anderes. Man hört oft, dass Podolski redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, aber das stimmt nicht. Er passt auf, was er sagt, und versucht, alles zu vermeiden, was nach Einordnung, Analyse oder Bewertung klingt.
Fragt man ihn zum Beispiel nach einem besonders schönen Tor oder einem prägenden Ereignis seiner Laufbahn als Nationalspieler, könnte er es sich einfach machen. „Natürlich ist das erste Spiel, das erste Tor, immer etwas ganz Besonderes“, beginnt er, nur um dann hinzuzufügen: „Aber das sind ja die Standardsprüche von jedem Fußballer. Ich möchte mich ungern auf etwas festlegen, weil dann wieder eine Story daraus gemacht wird, so nach dem Motto: ‚Poldi sagt, dieses oder jenes Tor hat ihm einen Karriereschub gegeben.‘ Ich bin einfach niemand, der einen einzigen Moment herauspickt und dann sagt: Das war der entscheidende Augenblick in meinem Leben oder in meiner Karriere.“
Das Phänomen Poldi nicht verstanden
Doch nur zehn Minuten nach dieser routiniert ausweichenden Antwort, einer von vielen, redet Podolski sich für seine Verhältnisse geradezu in Rage. Die Sprache kommt auf die weitverbreitete Meinung, dass er sein Abschiedsspiel zwei Jahre zu spät bestreitet. Hätte er das DFB-Trikot nicht besser nach der WM in Brasilien an den Haken gehängt, so wie seine Wegbegleiter Lahm, Mertesacker und Miroslav Klose? Warum hat er sich das angetan, als Bankdrücker zur EM zu fahren? Wer solche Fragen stellt, hat das Phänomen Poldi nicht verstanden.
„Ich habe keinen Moment daran gedacht, 2014 zurückzutreten“, sagt er. „Ich hatte weiterhin Lust zu spielen. Das liegt mir einfach im Blut. Und ich hatte immer Lust auf die Nationalmannschaft. Da ist es auch egal, wenn ich mal nur auf der Bank sitze.“ Podolski grinst nicht mehr, sein Blick verdunkelt sich. Das Emoji, das wir jetzt brauchen, ist eines mit beginnender Zornesröte im Gesicht. Dann fährt er fort mit seiner Grundsatzerklärung.
„Soll ich wegen irgendwas sauer sein?“
„Es gibt 80 Millionen Deutsche, aber nur 22, 23 werden zu einem Länderspiel eingeladen“, sagt er. „Wenn ich einer von denen sein darf, soll ich mich da beschweren? Die Leute erwarten, dass man sauer ist und meckert, wenn man mal nicht spielt. Ich sehe das ganz entspannt und locker. Ich bin als Zweijähriger mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Wir haben in einer Ein-Zimmer-Wohnung gelebt, ich habe auf der Straße gekickt. Und jetzt habe ich bald 130 Länderspiele! Ich habe den WM-Pokal in die Höhe halten dürfen! Soll ich da wegen irgendwas sauer sein? Ich genieße bis heute jede Minute, die ich auf dem Platz bin, beim Spiel oder beim Training. Und ich habe jede Minute bei der Nationalmannschaft genossen.“ Das ist es, wofür die Menschen Podolski lieben: dass er auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten einer der wenigen ist, die sich überhaupt nicht wichtig nehmen. Vielleicht ist er sogar der Einzige.
Dabei war er wichtig. Sehr wichtig. Man vergisst manchmal, dass die ersten der vielen Minuten, die er bei der Nationalelf so genossen hat, in eine der schlechtesten Phasen in der langen Geschichte der DFB-Auswahl fielen. Im Frühjahr 2004 war Nationaltrainer Rudi Völler vor allem bestrebt, bei der kommenden EM in Portugal eine gute Figur zu machen, während so mancher Experte sich erheblich mehr um die anstehende WM im eigenen Land sorgte. Wann würde man endlich anfangen, eine Mannschaft für dieses Turnier aufzubauen? Der öffentliche Druck wurde so groß, dass Völler sich kurzfristig entschloss, doch noch zwei Nachwuchsspieler zu nominieren, Podolski und seinen Freund Bastian Schweinsteiger.
„Ich weiß noch, wie wir in einem Hotel in Mainz saßen“, erinnert sich Podolski. „Wir waren enttäuscht, weil wir gerade bei der U21-EM schon in der Vorrunde ausgeschieden waren. Da kam Uli Stielike zu uns, der damals Trainer der U21 war. Er sagte uns, dass Rudi Völler angerufen hatte und dass wir ins Trainingslager der A‑Nationalmannschaft kommen sollten. Wir haben uns ins Auto gesetzt, sind rübergefahren und haben gleich mit der Mannschaft zu Abend gegessen. Wir gehörten sofort dazu.“
„Nur Schule, Abendessen, Schlafen“
Im Zusammenhang mit Podolskis Aufstieg zum Star ist das Wort „Unbekümmertheit“ ein paar tausend Mal zu oft benutzt worden, aber in diesen frühen Tagen bei der Nationalelf war es sicher angebracht. Inmitten des großen Heulens und Zähneklapperns, das den deutschen Fußball erfasst hatte, und in einer Zeit, die von Schwere und Verbissenheit geprägt war, als jemand wie Oliver Kahn kaum einen Satz sprach, in dem nicht das Wort „Druck“ vorkam, da versprühte Podolski Optimismus und Spaß.
„Ich weiß, dass es damals eine schwierige Phase für die Nationalmannschaft war“, sagt er rückblickend, „aber ich habe das Drumherum ausgeblendet und mich einfach darauf gefreut, als 18-Jähriger die Spieler zu treffen, die ja immer noch amtierender Vizeweltmeister waren. Es hat großen Spaß gemacht, mit all den bekannten Spielern zu trainieren – Michael Ballack, Oliver Kahn, Bernd Schneider. Es war der Lohn für alles, auf das ich für den Fußball verzichtet hatte. Als ich klein war, gab es nur Schule, Training, Abendessen, Schlafen.
Es muss auch eine Bestätigung für ihn gewesen sein, die richtige Wahl getroffen zu haben, als er sich dafür entschied, das Trikot mit dem schwarzen Adler zu tragen, nicht das mit dem weißen. „Ich habe polnische Wurzeln und ein polnisches Herz“, sagt Podolski. „Als ich mal in Polen war, stattete der Verband mir einen Besuch ab. Sie haben mir ein Trikot mit der Nummer 10 und dem Namen Podolski überreicht und gesagt, sie würden sich freuen, wenn ich für Polen spiele. Der Nationaltrainer hat auch mal angerufen. Aber ich hatte seit der U15 alle deutschen Jugendnationalmannschaften durchlaufen und wollte nicht mehr wechseln. Außerdem gab es damals noch die Regel, dass man sich festspielt, wenn man einmal für die U21 aufläuft. Von daher war es überhaupt kein Thema, für Polen zu spielen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn die Gespräche früher stattgefunden hätten, aber wer weiß das schon? Ich sah die Chance, in Deutschland A‑Nationalspieler zu werden. Meine Karriere war Schritt für Schritt verlaufen, von einer Jugendnationalmannschaft zur nächsten. Und es war nur noch ein Schritt bis zur A‑Mannschaft.“
Podolski hat in den zwölf Jahren seiner Karriere in der Nationalelf zwei sehr bedeutende Partien gegen sein Geburtsland bestritten. Zum einen natürlich das unvergessene Gänsehautduell beim „Sommermärchen“ (es war Podolski, der für den Siegtorschützen Oliver Neuville vom Feld ging), zum anderen das Auftaktspiel der EM 2008, bei dem er beide Tore schoss. Doch solange man auch bohrt und nachfragt, er lässt sich nichts zu dem Gefühlschaos entlocken, das in ihm getobt haben muss. Er will eben keinen „besonderen Moment“ herauspicken. Bis die Rede auf die WM 2006 kommt.
Im Mittelkreis gegen Argentinien
„Ich habe ja einige große Turniere mitgemacht, aber so eine Stimmung wie damals in Deutschland, so eine Euphorie, habe ich nie wieder erlebt“, sagt er. „Das Wetter war super, die Stadien waren voll, es gab keine Krawalle, im ganzen Land herrschte eine super Stimmung. Es war von vorne bis hinten einfach eine geile WM.“ Bei der Erinnerung ans Sommermärchen vergisst Podolski sogar seinen ehernen Vorsatz, keine einzelne Szene oder Situation aus den zwölf Jahren in den Vordergrund zu stellen. „Vielleicht war es am Ende wirklich der Weg vom Mittelkreis zum Elfmeterpunkt 2006 gegen Argentinien“, sagt er. „Das war ja kein Kirmesspiel – es war das Viertelfinale bei einer Heim-WM vor 70 000 Leuten im Olympiastadion in Berlin. Ich war gerade 21 Jahre alt. So etwas erleben nicht viele Menschen. Der Weg wird sehr lang. Ich habe versucht, an nichts zu denken, sondern den Ball einfach reinzuknallen. Es war schon eine große Erlösung, als der Ball drin war. Ein geiles Gefühl.“
Auch für viele Fans war es ein besonders emotionaler Moment, als Podolski den Ball beim Elfmeterschießen gegen die favorisierten Argentinier mit seinem berühmten linken Hammer ins Netz prügelte. (Übrigens war sein Vater Waldemar ein Rechtsfuß und sein Sohn Louis ist es auch. Podolski sagt: „Warum ich Linksfuß bin? Da muss man den lieben Gott fragen.“) Generell war das Sommermärchen ja eher ein Turnier der großen Gefühle als des großen Fußballs. Vier Jahre später war das ganz anders.
„Das war richtig geiler Fußball“
Unterhält man sich mit Podolski über die WM in Südafrika, gewinnt man den Eindruck, dass ihm dieses Turnier vielleicht noch mehr am Herzen liegt als die magischen Wochen von 2006, auch wenn er das nie sagen würde. Trotzdem lässt er sich zu so etwas wie einer Bewertung hinreißen und meint: „In Südafrika haben wir fast unseren besten Fußball gespielt. Wir haben nahezu perfekte Konter gefahren und kamen immer wieder hinter die Abwehr des Gegners. Das war schon richtig geiler Fußball. Bei den beiden Turnieren davor haben vielleicht noch viele Leute gedacht, wir hätten Glück gehabt oder hätten uns durchgemogelt, aber in Südafrika haben alle gesehen, dass Deutschland wieder zur Weltspitze gehörte. Wir haben England und Argentinien aus dem Stadion gefegt, das muss man sich mal vorstellen!“
Die Erinnerung an das grandiose 4:1 gegen die Engländer erlaubt einen Einblick in Podolskis Sicht auf den Fußball, die man so umschreiben könnte: Spiele brauchen keine Analyse, weil sie ein Ergebnis haben. Er hatte nämlich gute Sicht auf den Schuss von Frank Lampard, der beim Stand von 2:1 an die Latte des deutschen Tores prallte. „Für mich, aus dem halblinken Mittelfeld, sah es so aus, als wäre der Ball hinter der Linie“, sagt er. „Deswegen habe ich darauf gewartet, dass der Pfiff kommt und wir alle in unsere Hälfte gehen. Aber dann passierte nichts. So ist das manchmal im Fußball. Vielleicht wäre es ein anderes Spiel geworden. Vielleicht auch nicht, wer kann das schon sagen? Man kann nicht über das reden, was nicht passiert ist.“
„Deren Meinung interessiert mich nicht“
Die englische Elf, passenderweise Deutschlands Gegner bei Podolskis Abschiedsspiel, war 2010 personell ausgezeichnet besetzt, funktionierte aber wie so häufig nicht als Mannschaft. Unter Jürgen Klinsmann und dann Joachim Löw war das für die DFB-Auswahl nie ein Problem, nicht zuletzt deshalb, weil beide auf Teamplayer wie Podolski setzten. „Ich weiß, dass Jogi oft kritisiert wurde, weil er auch dann an bestimmten Spielern festhält, wenn sie mal nicht in Form oder nicht ganz fit sind“, sagt Podolski.
„Aber anders geht es ja nicht. Die Nationalelf braucht ein Gerüst, einen Kern von zehn bis zwölf Spielern. Wir waren auch deswegen so erfolgreich, weil unser Teamgeist super war und eine gute Stimmung herrschte. Und das kommt natürlich auch daher, dass es ein Gerüst gab und man sich gut kannte. Es gibt immer Neider, die sagen: ‚Der hat seit zehn Spielen kein Tor geschossen, warum lädt der Löw den ein?‘ Aber das sind Leute, deren Meinung mich nicht interessiert. Und den Bundestrainer wahrscheinlich auch nicht.“
In seinen letzten Jahren in der Nationalelf war Podolski einer von denen, die den Neidern Anlass für Kritik gaben. „Viele Leute unterschätzen, was dazugehört, ein Turnier zu gewinnen“, entgegnet er. „Da geht es nicht nur um das, was auf dem Platz passiert. Das Umfeld ist ganz wichtig, die Atmosphäre im Team, die Betreuer, der Service, das Essen. Die Leute sehen nur die 90 Minuten im Fernsehen, aber alles muss passen.“ Und aus eben diesem Grund betrachtet Podolski das Turnier in Brasilien als den Höhepunkt seiner Karriere, obwohl er nur 53 Minuten spielte. „Es gibt nichts Größeres, als Weltmeister zu sein, deswegen war 2014 die Krönung“, sagt er. „Es stimmt, dass ich nicht so viel gespielt habe, aber wie ich ja gerade erklärt habe, kommt es bei einem Turnier nicht nur auf die elf an, die auf dem Rasen stehen und die man im Fernsehen sieht.“
Und darum ist Podolskis Karriere rund und vollendet. Zwar hält sich die Anzahl seiner Vereinstitel für einen Spieler seiner Klasse in engen Grenzen, aber nur zwei Fußballer haben öfter für Deutschland gespielt als er (Lothar Matthäus und Miroslav Klose) und nur zwei haben mehr Tore für Deutschland geschossen (Klose und Gerd Müller). Und was immer er nach seiner Karriere tun wird, er ist und bleibt Weltmeister.
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„Ich weiß noch nicht, was ich mache, wenn ich mal mit dem Fußball aufhöre“, sagt er. „Auf jeden Fall werde ich den ganz normalen Alltag genießen. Morgens zum Bäcker gehen, dann die Kinder in die Schule bringen – ein ganz normales Leben.“
Ein ganz normales Leben
Vielleicht ist Lukas Podolski der Einzige von uns allen, der wirklich verstanden hat, dass Fußball das Wichtigste auf der Welt ist und gleichzeitig keine Bedeutung hat – und dass da ein Zusammenhang besteht. Doch einmal, einmal nur sagt sogar er etwas Falsches. „Ich habe mich nie verstellt, ich bin mir immer selbst treu geblieben“, erklärt Podolski. „Das ist mir wichtig. Ich bin mit mir im Reinen und ich bin stolz auf das, was ich als Nationalspieler geschafft habe. Es war mir eine Ehre.“
Nein, Poldi. Das stimmt nicht. Es war uns eine Ehre.