Deutschland qualifiziert sich für die WM in Katar, Newcastle wird von den Saudis übernommen, die Bayern scheinen wieder unschlagbar – und Tommi Schmitt wird nachdenklich. Wie soll es weitergehen? Hier erklärt er, was ihm im Fußball noch wirklich wichtig ist.
Und, Herr Schmitt, haben Sie die Länderspielpause genossen?
Ich hasse sie.
Oha.
Vor allem die im Oktober. Ein ausgemachter Coitus interruptus für jeden Bundesligafan. Dazu noch das Nations-League-Finale am Sonntagabend in der ARD, für das der Tatort weichen musste. Was habe ich mich darüber aufgeregt. Und dabei schaue ich nicht mal Tatort.
Warum haben Sie sich dann aufgeregt?
Weil ich nicht will, dass sich dieser Quatsch-Wettbewerb etabliert. Es ist alles zu viel und dadurch völlig egal. Darüber hinaus: die Partien der Nations League liefen vorher bei DAZN. Das Finale aber in der ARD. Die Leute, die sonst ARD und Tatort gucken, wussten doch überhaupt nicht, worum es bei diesem Spiel genau ging. Die kriegen die Nachspeise, ohne Vor- und Hauptgericht verzehrt zu haben. Absoluter Kokolores. Es ist zu viel Fußball! Wann wird das endlich begriffen? Spanien spielt gegen Frankreich, was für eine Partie! Und ich, der diesen Sport liebt, seit er denken kann, interessiert sich nicht die Bohne für den Ausgang des Spiels. Das ist doch Wahnsinn! Kein Witz: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es ausgegangen ist.
Ich google das kurz… 2:1 für Frankreich.
Na dann: Gratulation. Ich glaube, nur die neuen Simpsons-Folgen sind mir egaler als die Nations League. Aber ein Freund von mir, Franzose, der seiner Équipe von Japan bis Brasilien in aller Herren Länder hinterher reist, wusste nicht mal, dass seine Mannschaft am Sonntag spielt. Das stimmt mich optimistisch.
Aber haben Sie die WM-Quali-Spiele der deutschen Mannschaft geguckt?
Als masochistisch veranlagter Mensch habe ich mir das Rumänien-Spiel sogar in Hamburg in der AOL-Arena – ja, das ist immer noch der offizielle Name – angesehen. Und ich muss sagen, es hat sogar Spaß gemacht. Die Nationalmannschaft bereitet mir gerade wieder Freude. Und die Zuschauer waren überraschenderweise „von der ersten Minute an da“, wie wir Fußballkommentatoren sagen. Es hatte nicht diese Geisterspielatmosphäre wie sonst. Sogar Leroy Sané, der leider so zielsicher war wie die Teilnehmer im Finale von Takeshi’s Castle, wurde immer wieder mit aufmunterndem Applaus gepusht. Die Rumänen haben super gekämpft und deren Fans gut Alarm gemacht. Das war ein unverhofft cooler Abend in Hamburg. Das Bittere ist…
Ja?
… dass bei diesen, dann doch mittlerweile sehr unterhaltsamen WM-Quali-Spielen immer mitschwingt, dass das gerade alles nur wegen der beknackten Kirmes-WM in Katar passiert.
Wie gehen Sie mit dieser Zwickmühle um?
Ich bin mittlerweile sehr pessimistisch, dass da noch der große Protest einsetzt. In den Kommentarspalten der Republik liest man immer mehr Relativierendes á la „dann hätte man auch Deutschland und Südafrika boykottieren müssen“ oder „Es reicht jetzt auch mal“ oder ähnliches. Im nächsten Jahr gibt es wahrscheinlich etwa drei Debatten dazu, zwei Dokumentationen über Arbeiterinnen und Arbeiter vor Ort, die wir ganz bestürzt in den Sozialen Medien teilen werden. Wir werden ein paar Regenbogenfahnen auf Instagram sehen und am Ende gucken wir uns die Spiele nach dem vierten Glühwein dann doch wieder an. Natürlich absolut ironisch, das ist klar. Und Nüsse essend und Bier trinkend werden wir dann kopfschüttelnd vor dem Fernseher sitzen und Sätze sagen, wie „Dass da eine WM stattfindet, Absurdistan, wenn du mich fragst“. Und dann ist auch schon wieder Bundesliga-Rückrunde und weiter geht die wilde Fahrt.
Wie der Wüstenstaat sich eine WM kaufte und Wanderarbeiter dafür teuer bezahlten
Wie macht sich denn Hansi Flick bislang so als Nationaltrainer? Der große Umbruch ist ja noch ausgeblieben.
Aber dass da überhaupt ein neuer Coach sitzt, ist für mich schon ein Umbruch. Die Mannschaft ist in Takt und hat Qualität. Klar, es brauchte nach der Europameisterschaft vor allem defensive Stabilität, aber ansonsten reicht es mir schon, dass er einen neuen Spirit versprüht. Ich war nie ein Löw-Gegner, aber es war jetzt einfach an der Zeit, und nach dem Ausscheiden in der Gruppenphase 2018 und dem quälenden Turnier 2021 konnte man ja nicht mehr von Ausrutschern sprechen. Flick macht das Gleiche wie bei Bayern: kein Lautsprecher sein, sich öffentlich nicht in die Karten gucken lassen und akribisch arbeiten. Und sein neuer Brazzo, Oliver Bierhoff, macht es ihm vermutlich auch um einiges leichter.
Aber hätten Sie nicht einen größeren personellen Umbruch erwartet?
Was soll er denn machen? Roy Präger nominieren, oder wie? Das ist schon der beste Kader dieser Nation. Und er versucht doch schon mit einigen jungen, neuen Spielern etwas auszuprobieren. Klar, der Stoßstürmer fehlt, aber den kann er sich ja nicht backen. Würde ich jetzt nach drei Hefeweizen in der Lobby eines Flughafenhotels in München sitzen, würde ich selbstverständlich verlangen, dass Hansi mal Simon Terrodde oder Fabian Klos nominieren sollte. Aber das ist Blödsinn. Auch wenn beide tolle Stürmer sind. Wir müssen andere Lösungen finden. Und diese Kritik an Timo Werner, die beinahe Mobbing gleichkommt, geht mir auch gehörig auf den Senkel.
Wieso?
Nur weil ein 25-Jähriger mal zwei schwerere Jahre durchmacht, ist er doch noch lange keine Bockwurst. Das geht mir heutzutage viel zu schnell mit dem Urteil. Stürmer sind, genau wie Torhüter, sensible Geschöpfe, die eine solche Phase mal durchmachen. Timo Werner hat für Leipzig 78 Tore in 127 Spielen geschossen. Für Chelsea hat er in 60 Spielen 14 Tore erzielt und 16 Assists abgegeben, das ist jetzt auch nicht – Verzeihung – komplett scheiße. Darüber hinaus wurde ihm vom VAR in England 16 Mal (!) ein Tor aberkannt. Sechzehn Mal! Vor dem Videobeweis, also vor guten drei Jahren, würden wir ihn jetzt also wahrscheinlich als absoluten Topstürmer bezeichnen, von dem unser Glück in Katar abhängt. Stürmer wie er, die an der Linie lauern, spielen nun mal mit dem Risiko, erwischt zu werden. Wie viele Tore hätte Pippo Inzaghi wohl in Zeiten des VAR pro Saison erzielt? Drei? Ich will ihn jetzt auch nicht zu pathetisch in Schutz nehmen, aber Werner hat mit seinem Stil auch ein bisschen Pech, in der falschen Zeit Fußballprofi geworden zu sein. Trotzdem muss er sich aktuell deutlich verbessern, keine Frage. Vor allem im Positionsspiel und hinsichtlich seiner Läufe, wie es Flick nach dem Rumänien-Spiel ja auch zurecht monierte. Aber der kommt schon wieder, keine Sorge.