Herr Berthold, 1994 haben Sie in einem Spiegel-Interview über Ihren damaligen Bundestrainer gesagt: „Berti Vogts ist zu verbissen.“ Warum redet im Fußball heute niemand mehr so offen wie Sie damals?
Weil die Spieler Gefangene des Systems sind. Es ist doch allein schon eine Fehlentwicklung, dass alles autorisiert werden muss. Ich habe damals meine Konsequenzen gezogen und bin aus der Nationalelf zurückgetreten.
Trauen sich die Spieler heute nicht mehr, ihre Meinung zu sagen?
Ja, es gibt da bestimmt Vorschriften. Andererseits muss man als Spieler natürlich auch einen gewissen Kodex einhalten: Es bringt ja nichts, wenn man alles nach außen trägt. Das Problem ist aber, dass Schwierigkeiten selbst intern nicht angesprochen werden. Auch wenn man die Interviews nach der Partie hört, es ist alles der gleiche Senf. Es kommt einem ja vor, als hätten alle Spieler den gleichen PR-Berater.
Haben Sie früher mit persönlichen PR- und Imageberatern zusammengearbeitet?
So etwas gab es damals gar nicht. So richtig hat das alles erst vor sieben oder acht Jahren angefangen, als die Kommerzialisierungsschiene so richtig explodiert ist. Davor war man als Spieler schon froh, wenn der Verein einen Pressesprecher hatte. Heutzutage hat ja fast jeder Spieler einen eigenen Pressesprecher.
Sind die Spieler dann heute nur noch Produkte, die es zu verkaufen gilt?
Das kann man fast schon so sagen. Die Typen sterben einfach aus, weil viele Persönlichkeiten einfach unterdrückt werden. Ein junger Spieler kann sich doch gar nicht entwickeln, wenn er seine Meinung nicht äußern darf. Da beißt sich die Maus selbst in den Schwanz.
Können Spieler dann noch Identifikationsfiguren sein?
Das ist ja gerade die Crux. Auf der einen Seite sagen alle, wir brauchen wieder Typen, auf der anderen Seite erhalten die Spieler auch keine Freiräume.
Ist Lukas Podolski ein Typ?
Selbst wenn einer frei Schnauze losredet, inhaltlich muss dabei natürlich auch etwas herauskommen. Für die schreibende Zunft ist so einer vielleicht ganz lustig, aber auf die Dauer hat das doch kein Niveau.
War der Kontakt mit den Fans für Sie früher eine lästige Pflichtaufgabe?
Die ganzen Verpflichtungen mit Anhängern und Sponsoren waren zu meiner Zeit reduziert auf… fast gar nichts. Heute refinanzieren die Vereine ihre teuren Arbeitsverträge mit diesen Pflichtterminen. Man muss einfach einen guten Spagat zwischen Kommerz und Sport finden, aber die Prioritäten müssen sich wieder eindeutig in Richtung Sport verschieben. Das schlimmste Beispiel waren für mich die „Galaktischen“ von Real Madrid: Von den Stars hat kaum mehr jemand trainiert, weil alle auf Werbeterminen und Fotoshootings in der ganzen Welt verteilt waren.
Ist die Macht der Spieler gewachsen?
Im Gegensatz zum Ausland haben die Fußballer in Deutschland sicherlich mehr Einfluss gewonnen. Wenn ein Profi in Italien, Spanien oder England seinen Vertrag unterschreibt, hat er sich an die Spielregeln des Vereins zu halten. Da liegt die Toleranzgrenze bei Null. In keinem anderen Land ist die Macht der Spieler und ihrer Berater so groß wie in Deutschland.
Warum?
Weil den Profis und ihren Beratern nicht von Anfang an vermittelt wird, wo der Hase läuft. Wenn natürlich jeder bei jedem Thema mitreden darf, dann ist es für den Trainer und die Klubführung äußerst schwer, ordentlich zu arbeiten. Dann gibt es an allen Ecken Probleme und Brennpunkte.
Schadet diese Entwicklung auf Dauer dem deutschen Fußball?
Eins haben wir alle in den letzten Jahren gesehen, international hinken wir den Großen hinterher. Der beste Beleg ist die UEFA-Fünfjahreswertung: In dieser Saison ist uns sogar das Fußballentwicklungsland Rumänien auf die Pelle gerückt. Da kann doch etwas nicht stimmen. Wir drehen uns hier in Deutschland seit Jahren im Kreis. Es ist doch auch immer dieselbe Suppe, die hier rumschwimmt. Das ist ja schon bei den Bundesligatrainern und Klubmanagern offensichtlich: immer wieder die alten Gesichter, es gibt keine neuen Impulse mehr.
Fehlt den Vereinen der Mut, neue Wege zu gehen?
Es mangelt eher noch an Strukturen. Das Kürzel „e.V.“ – eingetragener Verein – sagt da schon alles. Die Vereine in Deutschland, seien es nun Taubenzüchter oder Fußballklubs, sind eine Plattform für Eitelkeiten. Das liegt einfach in unserer Mentalität. Im Ausland gibt es ein ganz anderes Modell: die Klubs gehören Unternehmern und werden von Geschäftsführern geleitet. Außerdem verfügt der Trainer zusätzlich über die Manager-Kompetenzen. Und bei solch einer kleinen Gruppe von Verantwortlichen können gar nicht so viele Leute dazwischenquatschen und ihren Senf dazugeben. In den deutschen Vereinen gibt es dagegen auch unzählige Gremien: Verwaltungsrat, Aufsichtsrat, Ehrenrat. Und dann denkt natürlich jeder, der sich dort tummelt, ich muss mich zu den Spielern, zu dem Trainer und zur Taktik sagen. Das tut aber leider dem Sport nicht gut.
Jürgen Klinsmann kämpfte als Teamchef gegen die Strukturen beim DFB, vor allem als er den Hockey-Nationalcoach Bernhard Peters als Jugendkoordinator verpflichten wollte. Das Präsidium vergab den Job dann an Matthias Sammer. Zeigt Klinsmanns oft vergebliches Bemühen um Änderungen, dass das System in Deutschland wohl nicht reformierbar ist?
Diese Geschichte ist wirklich das beste Beispiel, dass bei uns nur nach politischen Gesichtspunkten und Beziehungen entschieden wird. Dass Peters ein einwandfreies sportliches Konzept vorgelegt hatte, zählte gar nichts. Sammer war in seiner Vita noch nie im Ausbildungsbereich tätig. Und ein Jahr nach der WM hat er außer ein paar eröffneten DFB-Eliteschulen auch keinen Entwurf vorgelegt, wie Deutschland im Jugendfußball in der Weltspitze mithalten soll.
Ist der Bundesligatrainer noch eine Respektperson für die Spieler?
Da habe ich nicht den Eindruck. Das merkt man allein schon daran, wie sich die Spieler in den Medien über den Trainer beklagen. Er ist das schwächste Glied.
Dann ist die Disziplin der Spieler ein Problem?
Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel aus meiner Zeit in Italien, dort habe ich ja vier Jahre gespielt: Wir sind morgens um 9 Uhr zum Training gefahren und abends um 18 Uhr wieder nach Hause. Das Vereinsgelände war abgesperrt, das Tor war zu, niemand konnte uns von unserer Arbeit ablenken. Wir haben dort auch nicht die ganze Zeit trainiert, hatten auch Teambesprechungen und Taktikschulungen – aber wir waren den ganzen Tag dort. Das war superprofessionell. Auch das Sozialverhalten innerhalb der Mannschaft wurde dadurch gefördert. Aber in Deutschland könnte man so etwas gar nicht durchziehen.
Warum?
Es würde ein riesiges Geschrei geben. Fanklubs und Medien würden sich beschweren. Alle würden rumquaken, das ist eben typisch deutsch. Die Professionalität der Bundesliga liegt um Welten hinter den internationalen Konkurrenten. Nur traut sich keiner zu sagen: Andere Länder sind uns um 20 Jahre voraus, jetzt kopieren wir mal deren Strategien.
Sind die Medien für die Vereine ein Angstfaktor oder eher ein kuscheliger Hofberichterstatter?
Das Problem ist, dass die Berichterstattung nur noch zwischen zwei Extremen schwankt: schwarz oder weiß. Zu Beginn meiner Karriere, Anfang der Achtziger, gab es auch unter den Journalisten mehr Qualität. Die Medienvertreter haben den Spielern auch viel mehr Respekt entgegengebracht. Journalisten und Profis hatten einfach ein deutlich besseres Verhältnis als heute. Früher konnte man jemanden auch etwas anvertrauen und man wusste, er schreibt das nicht. Heute muss man alles achtmal gegenlesen, weil man Angst haben muss, dass einem das Wort dreimal im Mund umgedreht wird. Gerade viele dieser Fernsehleute fühlen sich doch wichtiger als der Sport.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Bundesliga?
Dass wir Strukturen schaffen, um international den Anschluss endlich wieder zu finden. Und das ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage des Willens zur Veränderung.
— — — — –
Auch Schiri-Veteran Lutz Michael Fröhlich fürchtet um den Fußball www.11freunde.de/bundesligen/102156 .