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Seite 4: „Mir ist fast peinlich, wie viel Zeit ich ich mit Fußballschauen verbracht habe"

Sie zogen sich gar zurück. Beim berühmten 4:2 gegen Liver­pool 2004, in dem Arsenal das Spiel drehte, hielt der Spieler Martin Keown angeb­lich die Halb­zeit­an­sprache.
Er hat nicht meinen Job über­nommen, im Gegen­teil. Manche Details sehen nur die Spieler auf dem Rasen und es ist ihr gutes Recht, das auch anzu­spre­chen. Ich habe sehr oft die Jungs spre­chen lassen. Denn darum ging es: Die Spieler sollten meine Phi­lo­so­phie annehmen und über­nehmen, um sich dann selbst zu coa­chen. Es gab auch Spiele, bei denen ich in die Kabine kam und nur fragte: Und was sagt ihr zur ersten Halb­zeit?

Die Spieler sollten sich also um sich selbst küm­mern?
Ich ver­langte von ihnen vor allem, dass sie mit­ein­ander kom­mu­ni­zieren. Kom­mu­ni­ka­tion ist ein wich­tiger Teil einer Mann­schaft und ihres Fort­schritts. Nur ein Team mit guter Kom­mu­ni­ka­tion ist dyna­misch. In der Nie­der­lage ver­kriecht sich jeder in seine Muschel. Doch ein Trainer muss sie dort her­aus­holen und zum Spre­chen auf und neben dem Platz ani­mieren.

Es heißt, Sie lenkten sich auf dem Weg zum Trai­ning mit Reggae-Musik ab. Stimmt das?
Manchmal ja. Ich mochte Bob Marley. Seine Musik war nicht künst­lich, son­dern hand­ge­macht, inspi­rie­rend und ent­span­nend. Man spürte die Lebens­lust beim Hören und kam etwas runter. Marley starb mit 36, einem Alter, in dem Fuß­baller damals für gewöhn­lich ihre Kar­riere been­deten. Zudem arbei­tete er sich aus schwie­rigen Ver­hält­nissen hoch wie viele meiner Spieler. Ich fand also immer Anknüp­fungs­punkte in seinen Texten, Could you be loved?“ war eines meiner Lieb­lings­stücke. Ich bewun­dere zudem viele fran­zö­si­sche Kom­po­nisten und Poeten wie Léo Ferré.

Gab es noch andere Arten für Sie, sich vom Druck zu erholen?
Fuß­ball schauen. Mir ist es fast pein­lich, wie viel Zeit meines Lebens ich damit zubrachte, Fuß­ball­spiele zu schauen. Es gab für mich kein grö­ßeres Ver­gnügen, als am Sams­tag­morgen unser Spiel zu gewinnen und zu wissen, dass ich das gesamte Wochen­ende Zeit hatte, um die anderen Spiele zu sehen. Für mich sah genau so das per­fekte Wochen­ende aus.

Der Sinn des Lebens ist Fuß­ball“

Und Sie bedau­erten nie, Ihre Zeit mit, sagen wir mal, einem 0:0 zwi­schen Burnley und West Brom ver­geudet zu haben?
Schon, aber wie bei allen anderen kul­tu­rellen Unter­hal­tungen pas­siert das nun mal. Wenn Sie zehn Bücher lesen, zehn Filme sehen oder zehn Mal ins Theater gehen, fühlen Sie sich auch nicht immer gleich gut unter­halten. Doch ich habe von jedem ein­zelnen Spiel etwas Neues für mich lernen können.

Würden Sie sagen, dass Sie dabei Ihre Familie etwas ver­nach­läs­sigt haben?
Defi­nitiv, ich hätte mehr Zeit mit ihr ver­bringen sollen. Ein Mann mit einer so aus­ge­prägten Lei­den­schaft lässt häufig die ihm nahe ste­henden Men­schen leiden. Ich fühle mich des­wegen schuldig. Auf der anderen Seite konnte meine Familie durch meine Lei­den­schaft ein ange­nehmes Leben führen. Aber das ersetzt nie die Prä­senz und die gemein­same Zeit. Das Leben hat keine Bedeu­tung, eben bis zu dem Zeit­punkt, an dem du sie für dich selbst ent­deckst. Für mich hieß das: Der Sinn des Lebens ist Fuß­ball.

Dieser Satz lässt es noch selt­samer wirken, dass Sie nicht mehr als Trainer arbeiten.
Für mich fühlt es sich auch seltsam an, das kann ich Ihnen ver­si­chern. Gerade sams­tags ver­misse ich es, an der Sei­ten­linie zu stehen. Momentan arbeite ich mit der Fifa daran, die Infra­struktur für junge Talente auf der ganzen Welt zu ver­bes­sern, damit sie nicht mehr nur nach Europa wech­seln. Das ist eine erfül­lende Auf­gabe, doch Fuß­ball und das Trai­ner­sein ist noch immer wie eine Droge in mir. Des­wegen habe ich auch noch nie aus­ge­schlossen, wieder als Trainer zu arbeiten.

Wie nah waren Sie an einem Enga­ge­ment als Bayern-Trainer im ver­gan­genen Jahr?
Nicht sehr nah. Ich habe mit Karl-Heinz Rum­me­nigge tele­fo­niert, aber nur um eine Sache klar­zu­stellen. Es kur­sierte die Mel­dung, ich hätte mich bei Bayern Mün­chen als Trainer ange­boten. Das war nicht wahr und das wollte ich deut­lich machen. Bayern hat mich wie­derum auch nicht für den Job ange­fragt. Sie haben mit der Wahl für Hansi Flick die rich­tige Ent­schei­dung getroffen. Ich gra­tu­liere ihm.

Also war das mög­liche Enga­ge­ment bei Lyon im Jahr 2019 das kon­kre­teste Gespräch in dieser Hin­sicht in den ver­gan­genen Jahren?
Richtig. Ich hatte andere Ange­bote, aber habe auch diese alle abge­lehnt.

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Aus Arsène who?“ wurde Arsène knows“ – Wenger stieg zur Klubi­kone von Arsenal auf.

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Warum waren Sie seit Ihrem letzten Arbeitstag nicht mehr im Sta­dion von Arsenal?
Ich dachte, dass ich nach meinem Weg­gang erst einmal kom­plett ver­schwinden muss. Ich wollte nicht wie ein Schatten über anderen Per­sonen liegen. Also war es das Beste, zunächst kom­plett abzu­schließen.

Hat Ihr Fern­bleiben auch mit der hef­tigen Kritik von Fans und Experten zum Ende Ihrer Zeit bei Arsenal zu tun?
Nicht wirk­lich. Das war doch nur eine Min­der­heit. Bei meinem Abschied habe ich große Dank­bar­keit bei den Fans gesehen. Ich habe das Sta­dion gebaut, habe das Trai­nings­zen­trum gebaut und alles zurück­ge­zahlt. Sicher­lich gab es einige Per­sonen, die den nötigen Respekt mir gegen­über ver­missen ließen. Ich habe diesen Leuten ver­geben, weil einen in diesem Sport nun mal die Emo­tionen davon tragen können. Aller­dings wurde es zu einer gewissen Zeit sehr unan­ge­nehm: Wenn Sie sich anschauen, welche Ange­bote ich aus­ge­schlagen habe (Juventus, Real Madrid etc., die Red.) und statt­dessen mit geringen Mit­teln weiter Arsenal führte, emp­fand ich schon eine gewisse Unge­rech­tig­keit.

Auch Undank­bar­keit?
In Frank­reich sagen wir: Dank­bar­keit ist die Krank­heit von Hunden, die nicht auf den Men­schen über­tragbar ist.“ (lächelt.) Am langen Ende respek­tieren die Men­schen meine Leis­tung für Arsenal: Ich habe dem Klub mit Inte­grität und Bestän­dig­keit gedient. Darauf bin ich stolz. Heut­zu­tage ist die mensch­liche Seite in einem Verein ver­loren gegangen. Als ich bei Arsenal anfing, arbei­teten 70 Ange­stellte für den Klub, heute sind es 700. Da kannst du nicht mehr jeden Mit­ar­beiter per­sön­lich kennen. Diese Größe hat einen Effekt auf dein Manage­ment. Ich kann aber sagen, dass es für mich ein Pri­vileg war, auf jeder Ebene außer­ge­wöhn­li­chen Men­schen begegnet zu sein.

Wenn man auf Ihre 22 Jahre bei Arsenal zurück­blickt: Finden Sie es nicht komisch, dass diese Ära ver­mut­lich wegen einer Ziga­rette zustande kam?
Ver­rückt, oder? Das Leben wird bestimmt von Hal­tung, Neu­gier und eben auch Zufall. Es hängt von kleinen Dingen ab. Ich hätte wohl nie­mals Arsenal trai­niert, wenn ich nicht Eng­lisch gelernt hätte oder früher nicht geraucht hätte. 1989 beob­achte ich ein Spiel von Gala­ta­saray in meiner Funk­tion als Trainer von Monaco. Auf dem Rück­flug hatte ich einen Stopp in London und sah mir spontan ein Spiel von Arsenal an. In der Halb­zeit­pause bat ich jemanden um Feuer für meine Ziga­rette. Diese Dame war eine Freundin von Bar­bara Dein, der Frau des stell­ver­tre­tenden Ver­eins­vor­sit­zenden David Dein. Wir unter­hielten uns und sie stellte mich ihrem Gatten vor. Er lud mich zum Abend­essen zu sich nach Hause ein. Dort spielten wir dann ein Pan­to­mi­men­spiel.

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Die Auto­bio­grafie von Arsène Wenger Mein Leben in Rot und Weiß“ erschien auf Deutsch im Ariston-Verlag und ist im Handel erhält­lich.

Warum das?
Bei ihm zu Hause waren viele Gäste ein­ge­laden und sie hielten es für einen großen Spaß, wenn jemand einen Zettel mit einer Rolle bekommt und diese dann vor­spielt. Ich sagte: Ok, ich gebe mein Bestes. Ich kann mich nicht mehr genau an meine Rolle erin­nern, aber David muss gedacht haben: Dieser Kerl aus Frank­reich scheint nicht dumm zu sein. In den fol­genden Jahren trafen wir uns immer wieder in Süd­frank­reich und lernten uns besser kennen. Und 1996 ver­traute er mir dann end­lich Arsenal an.

Um am Ende auf die Invin­ci­bles“ zurück zu kommen: Wie kann ein Trainer eine Mann­schaft unbe­siegbar machen?
Du brauchst gute Spieler. (Über­legt.) Du musst nach vorne denken, auch wenn du schon etwas erreicht hast. Ein Trainer muss den tiefen Wunsch in die Spieler ein­pflanzen, nach Mehr zu streben. Er muss ihnen ein klares Bild von einem gemein­samen Ziel ver­mit­teln. Heute ist es schwierig, weil ein Klub so viele Mit­ar­beiter hat. Die Ver­eine sind über­laden mit Mit­ar­bei­tern, deren Effi­zienz kaum messbar ist. Das erschwert es, eine Ein­heit zu bilden. Doch Klar­heit und Sim­pli­zität sind die Schlüssel für Erfolg.

Kann ein Team dem­nach heute noch einmal eine Saison ohne Nie­der­lage schaffen?
Liver­pool war ja nah dran. Doch auch in dieser Saison haben sie bereits ver­loren. Sie struk­tu­rieren gerade ihr Mit­tel­feld um, mit Thiago hin zu mehr tech­ni­scher Qua­lität. Hen­derson und Milner waren auch wichtig, aber sie werden älter. Momentan sehe ich kein absolut domi­nantes Team in Europa. Ich mochte Bay­erns Stil in der ver­gan­genen Saison und natür­lich Bar­ce­lona in ihrer Blü­te­zeit, aber ich sehe gerade kein Team, dessen Spiele man um jeden Preis sehen will. Um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Ja, eines Tages wird es eine Mann­schaft schaffen, aber es wird einige Zeit dauern.