49 Spiele in Folge ohne Niederlage – Arsène Wenger schrieb als Trainer mit Arsenal Geschichte. Der Franzose blickt auf Pizzawürfe, Bob Marley und den Streit mit Jens Lehmann zurück. Und beantwortet die große Frage: Wie wird eine Mannschaft unbesiegbar?
Sie zogen sich gar zurück. Beim berühmten 4:2 gegen Liverpool 2004, in dem Arsenal das Spiel drehte, hielt der Spieler Martin Keown angeblich die Halbzeitansprache.
Er hat nicht meinen Job übernommen, im Gegenteil. Manche Details sehen nur die Spieler auf dem Rasen und es ist ihr gutes Recht, das auch anzusprechen. Ich habe sehr oft die Jungs sprechen lassen. Denn darum ging es: Die Spieler sollten meine Philosophie annehmen und übernehmen, um sich dann selbst zu coachen. Es gab auch Spiele, bei denen ich in die Kabine kam und nur fragte: Und was sagt ihr zur ersten Halbzeit?
Die Spieler sollten sich also um sich selbst kümmern?
Ich verlangte von ihnen vor allem, dass sie miteinander kommunizieren. Kommunikation ist ein wichtiger Teil einer Mannschaft und ihres Fortschritts. Nur ein Team mit guter Kommunikation ist dynamisch. In der Niederlage verkriecht sich jeder in seine Muschel. Doch ein Trainer muss sie dort herausholen und zum Sprechen auf und neben dem Platz animieren.
Es heißt, Sie lenkten sich auf dem Weg zum Training mit Reggae-Musik ab. Stimmt das?
Manchmal ja. Ich mochte Bob Marley. Seine Musik war nicht künstlich, sondern handgemacht, inspirierend und entspannend. Man spürte die Lebenslust beim Hören und kam etwas runter. Marley starb mit 36, einem Alter, in dem Fußballer damals für gewöhnlich ihre Karriere beendeten. Zudem arbeitete er sich aus schwierigen Verhältnissen hoch wie viele meiner Spieler. Ich fand also immer Anknüpfungspunkte in seinen Texten, „Could you be loved?“ war eines meiner Lieblingsstücke. Ich bewundere zudem viele französische Komponisten und Poeten wie Léo Ferré.
Gab es noch andere Arten für Sie, sich vom Druck zu erholen?
Fußball schauen. Mir ist es fast peinlich, wie viel Zeit meines Lebens ich damit zubrachte, Fußballspiele zu schauen. Es gab für mich kein größeres Vergnügen, als am Samstagmorgen unser Spiel zu gewinnen und zu wissen, dass ich das gesamte Wochenende Zeit hatte, um die anderen Spiele zu sehen. Für mich sah genau so das perfekte Wochenende aus.
„Der Sinn des Lebens ist Fußball“
Und Sie bedauerten nie, Ihre Zeit mit, sagen wir mal, einem 0:0 zwischen Burnley und West Brom vergeudet zu haben?
Schon, aber wie bei allen anderen kulturellen Unterhaltungen passiert das nun mal. Wenn Sie zehn Bücher lesen, zehn Filme sehen oder zehn Mal ins Theater gehen, fühlen Sie sich auch nicht immer gleich gut unterhalten. Doch ich habe von jedem einzelnen Spiel etwas Neues für mich lernen können.
Würden Sie sagen, dass Sie dabei Ihre Familie etwas vernachlässigt haben?
Definitiv, ich hätte mehr Zeit mit ihr verbringen sollen. Ein Mann mit einer so ausgeprägten Leidenschaft lässt häufig die ihm nahe stehenden Menschen leiden. Ich fühle mich deswegen schuldig. Auf der anderen Seite konnte meine Familie durch meine Leidenschaft ein angenehmes Leben führen. Aber das ersetzt nie die Präsenz und die gemeinsame Zeit. Das Leben hat keine Bedeutung, eben bis zu dem Zeitpunkt, an dem du sie für dich selbst entdeckst. Für mich hieß das: Der Sinn des Lebens ist Fußball.
Dieser Satz lässt es noch seltsamer wirken, dass Sie nicht mehr als Trainer arbeiten.
Für mich fühlt es sich auch seltsam an, das kann ich Ihnen versichern. Gerade samstags vermisse ich es, an der Seitenlinie zu stehen. Momentan arbeite ich mit der Fifa daran, die Infrastruktur für junge Talente auf der ganzen Welt zu verbessern, damit sie nicht mehr nur nach Europa wechseln. Das ist eine erfüllende Aufgabe, doch Fußball und das Trainersein ist noch immer wie eine Droge in mir. Deswegen habe ich auch noch nie ausgeschlossen, wieder als Trainer zu arbeiten.
Wie nah waren Sie an einem Engagement als Bayern-Trainer im vergangenen Jahr?
Nicht sehr nah. Ich habe mit Karl-Heinz Rummenigge telefoniert, aber nur um eine Sache klarzustellen. Es kursierte die Meldung, ich hätte mich bei Bayern München als Trainer angeboten. Das war nicht wahr und das wollte ich deutlich machen. Bayern hat mich wiederum auch nicht für den Job angefragt. Sie haben mit der Wahl für Hansi Flick die richtige Entscheidung getroffen. Ich gratuliere ihm.
Also war das mögliche Engagement bei Lyon im Jahr 2019 das konkreteste Gespräch in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahren?
Richtig. Ich hatte andere Angebote, aber habe auch diese alle abgelehnt.
Warum waren Sie seit Ihrem letzten Arbeitstag nicht mehr im Stadion von Arsenal?
Ich dachte, dass ich nach meinem Weggang erst einmal komplett verschwinden muss. Ich wollte nicht wie ein Schatten über anderen Personen liegen. Also war es das Beste, zunächst komplett abzuschließen.
Hat Ihr Fernbleiben auch mit der heftigen Kritik von Fans und Experten zum Ende Ihrer Zeit bei Arsenal zu tun?
Nicht wirklich. Das war doch nur eine Minderheit. Bei meinem Abschied habe ich große Dankbarkeit bei den Fans gesehen. Ich habe das Stadion gebaut, habe das Trainingszentrum gebaut und alles zurückgezahlt. Sicherlich gab es einige Personen, die den nötigen Respekt mir gegenüber vermissen ließen. Ich habe diesen Leuten vergeben, weil einen in diesem Sport nun mal die Emotionen davon tragen können. Allerdings wurde es zu einer gewissen Zeit sehr unangenehm: Wenn Sie sich anschauen, welche Angebote ich ausgeschlagen habe (Juventus, Real Madrid etc., die Red.) und stattdessen mit geringen Mitteln weiter Arsenal führte, empfand ich schon eine gewisse Ungerechtigkeit.
Auch Undankbarkeit?
In Frankreich sagen wir: „Dankbarkeit ist die Krankheit von Hunden, die nicht auf den Menschen übertragbar ist.“ (lächelt.) Am langen Ende respektieren die Menschen meine Leistung für Arsenal: Ich habe dem Klub mit Integrität und Beständigkeit gedient. Darauf bin ich stolz. Heutzutage ist die menschliche Seite in einem Verein verloren gegangen. Als ich bei Arsenal anfing, arbeiteten 70 Angestellte für den Klub, heute sind es 700. Da kannst du nicht mehr jeden Mitarbeiter persönlich kennen. Diese Größe hat einen Effekt auf dein Management. Ich kann aber sagen, dass es für mich ein Privileg war, auf jeder Ebene außergewöhnlichen Menschen begegnet zu sein.
Wenn man auf Ihre 22 Jahre bei Arsenal zurückblickt: Finden Sie es nicht komisch, dass diese Ära vermutlich wegen einer Zigarette zustande kam?
Verrückt, oder? Das Leben wird bestimmt von Haltung, Neugier und eben auch Zufall. Es hängt von kleinen Dingen ab. Ich hätte wohl niemals Arsenal trainiert, wenn ich nicht Englisch gelernt hätte oder früher nicht geraucht hätte. 1989 beobachte ich ein Spiel von Galatasaray in meiner Funktion als Trainer von Monaco. Auf dem Rückflug hatte ich einen Stopp in London und sah mir spontan ein Spiel von Arsenal an. In der Halbzeitpause bat ich jemanden um Feuer für meine Zigarette. Diese Dame war eine Freundin von Barbara Dein, der Frau des stellvertretenden Vereinsvorsitzenden David Dein. Wir unterhielten uns und sie stellte mich ihrem Gatten vor. Er lud mich zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Dort spielten wir dann ein Pantomimenspiel.
Warum das?
Bei ihm zu Hause waren viele Gäste eingeladen und sie hielten es für einen großen Spaß, wenn jemand einen Zettel mit einer Rolle bekommt und diese dann vorspielt. Ich sagte: Ok, ich gebe mein Bestes. Ich kann mich nicht mehr genau an meine Rolle erinnern, aber David muss gedacht haben: Dieser Kerl aus Frankreich scheint nicht dumm zu sein. In den folgenden Jahren trafen wir uns immer wieder in Südfrankreich und lernten uns besser kennen. Und 1996 vertraute er mir dann endlich Arsenal an.
Um am Ende auf die „Invincibles“ zurück zu kommen: Wie kann ein Trainer eine Mannschaft unbesiegbar machen?
Du brauchst gute Spieler. (Überlegt.) Du musst nach vorne denken, auch wenn du schon etwas erreicht hast. Ein Trainer muss den tiefen Wunsch in die Spieler einpflanzen, nach Mehr zu streben. Er muss ihnen ein klares Bild von einem gemeinsamen Ziel vermitteln. Heute ist es schwierig, weil ein Klub so viele Mitarbeiter hat. Die Vereine sind überladen mit Mitarbeitern, deren Effizienz kaum messbar ist. Das erschwert es, eine Einheit zu bilden. Doch Klarheit und Simplizität sind die Schlüssel für Erfolg.
Kann ein Team demnach heute noch einmal eine Saison ohne Niederlage schaffen?
Liverpool war ja nah dran. Doch auch in dieser Saison haben sie bereits verloren. Sie strukturieren gerade ihr Mittelfeld um, mit Thiago hin zu mehr technischer Qualität. Henderson und Milner waren auch wichtig, aber sie werden älter. Momentan sehe ich kein absolut dominantes Team in Europa. Ich mochte Bayerns Stil in der vergangenen Saison und natürlich Barcelona in ihrer Blütezeit, aber ich sehe gerade kein Team, dessen Spiele man um jeden Preis sehen will. Um auf Ihre Frage zurück zu kommen: Ja, eines Tages wird es eine Mannschaft schaffen, aber es wird einige Zeit dauern.