49 Spiele in Folge ohne Niederlage – Arsène Wenger schrieb als Trainer mit Arsenal Geschichte. Der Franzose blickt auf Pizzawürfe, Bob Marley und den Streit mit Jens Lehmann zurück. Und beantwortet die große Frage: Wie wird eine Mannschaft unbesiegbar?
Vor jener Saison holten Sie nur einen Neuen dazu: Jens Lehmann.
Er war das letzte fehlende Puzzleteil. Ein Gewinnertyp durch und durch. Bevor er unterschrieb, führten wir beide lange und heftige Diskussionen. Jens hatte keinen Berater dabei, er war hart. Ich bekam einen Eindruck davon, welch schwieriger Typ er sein konnte. Aber ich dachte: Ok, wenn er so geradeaus und entschlossen auf dem Rasen ist, dann soll es mir recht sein.
In seiner Biografie schrieb Lehmann, es habe manchmal zwanzig Minuten lang zwischen Ihnen beiden geknallt. Danach besprachen Sie private Themen, als sei nichts gewesen.
Korrekt. Ich mag ihn sehr. Er ist ehrlich und steht für seine Meinung ein. Am wichtigsten: Er ist verlässlich. Und er hasst es, durchschnittlich zu sein.
Stimmt es, dass Sie nach der gewonnenen Meisterschaft mit Lehmann und Campbell in der Kabine aneinander gerieten?
Wir bekamen uns in die Köpfe wegen des Elfmeters für die Spurs in der letzten Minute, den Jens verschuldet hatte. Die Spurs glichen damit aus, wir spielten unentschieden, aber waren damit Meister. Es muss verrückt klingen, aber wir waren nun mal alle etwas anders gestrickt. Deswegen schäumten wir selbst vor Wut, weil wir das Spiel nicht gewonnen hatten. Wenn Sie in diesem Moment die Kabine betreten hätten, hätten Sie nie, nie, nie für möglich gehalten, dass dieses Team gerade Meister geworden war. Es ging sehr aggressiv zu, es gab Schreie wie „Warum hast du den Elfer verschuldet?“ oder „Was ist dein Problem, Mann?“ Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns alle beruhigten.
Sie haben den Titel also nicht gefeiert?
Erst später. Die Arbeit war noch nicht erledigt. Vier Spiele blieben schließlich noch, um die gesamte Saison über unbesiegt zu bleiben. Es ging nicht mehr um die Meisterschaft, sondern um die Unsterblichkeit. Das habe ich der Mannschaft auch direkt gesagt. 99 Prozent der Meisterteams schenken das folgende Spiel ab. Also war ich gefordert. Und es wurde knapp: Gegen Portsmouth hatten wir viele Verletzte, Johan Djourou musste rechts spielen und der Gegner war stark. Nur mit Glück spielten wir unentschieden. Im allerletzten Saisonspiel lagen wir gegen Leicester zurück und ich dachte: „Verdammt noch mal, wie dumm kann man sein, ausgerechnet das letzte Spiel zu verlieren!“ Aber am Ende setzte sich der Stolz der Mannschaft durch, wir siegten 2:1.
Gab es andere Momente in der Saison, in denen Sie Ihren Lebenstraum in Gefahr sahen?
Viele. Wir gewannen 26 Spiele, spielten 12 Mal unentschieden. Jedes dieser Remis hätte auch gegen uns laufen können. Es ist hilfreich, gute Spieler zu haben, aber sie müssen von einer tieferen Motivation angetrieben sein. Meine Spieler stemmten sich gegen die Niederlage, weil es um mehr als ein Spiel ging.
„Die früheren Teams von Bayern, Real oder Barcelona auf ihrem Höhepunkt waren alle technisch besser als die heutigen Mannschaften“
Arsenals Fußball war herausragend. Beim Spiel gegen die Spurs dauerte es nur elf Sekunden vom Ballgewinn im eigenen Strafraum bis zum Tor auf der anderen Seite. Die Konter sahen aus wie Choreographien. Wie kann man so etwas einstudieren?
Die Voraussetzung dafür sind die herausragenden Fähigkeiten der Spieler. Wenn du darüber verfügst, kannst du an zwei Merkmalen arbeiten: dem genauen Timing des Passes und der Qualität der Entscheidung unter Druck. Der heutige Fußball ist mehr von Individualität geprägt, es geht darum, Stars zu fabrizieren. Ich habe meinen Spielern damals gesagt, dass sie tief ins Spiel eintauchen müssen, um zu verstehen: Der Erfolg aus einem gemeinsamen Fußball wird immer größer sein als der persönliche Erfolg bei einem individuell geprägten Spielstil. Erst im Zusammenspiel kann der Fußball dir mehr geben. Heute aber ist das noch schwieriger, weil das Spiel physisch geprägt ist und die technische Seite vernachlässigt wird. Das müssen wir in der Ausbildung ändern.
Sprich: Mehr Fokus aufs Spielen denn aufs Rennen?
Heute spielen Monster in jedem Klub, die die 100 Meter in unter elf Sekunden laufen. Alles dreht sich um die Physis. Doch die früheren Teams von Bayern, Real oder Barcelona auf ihrem Höhepunkt waren alle technisch besser als die heutigen Mannschaften.
Ist dieser Schwerpunkt auf der Athletik der Grund, warum so viele 16-Jährige spielen und 31-Jährige ihre Karriere beenden?
Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Aber ich weiß: Wenn du eine Gruppe von begabten Unter-20-Jährigen hast, kannst du deren Entwicklung nie voraussagen. Mit 20 trennen sich die guten von den durchschnittlichen Spielern. Mit 23 trennen sich die exzellenten von den guten Spielern. Dann erkennst du die Messis oder Ronaldos anhand ihrer Widerstandsfähigkeit und ihres mühelosen Umgangs mit Schwierigkeiten auf dem Platz.
Welcher Ihrer Spieler entwickelte sich nach 23 besser, als Sie es erwartet hatten?
Thierry Henry. Er entwickelte sich unglaublich schnell. Ich habe ihn als Mittelstürmer aufgestellt, weil ich ihn so in Monaco gesehen hatte. Doch danach hatte er seinen Instinkt verloren und war auf die Außenbahn geschoben worden. Ich wollte seine Sinne schärfen und habe in den ersten Trainingseinheiten nur an dem Timing seiner Sprints gearbeitet. Er musste erkennen, wann und wo er auf dem Feld seine Läufe anzieht. Das war es.
Henry steht als Sinnbild für die taktische Flexibilität Ihrer Spieler. Er wich auf den Flügel aus, um dann den Raum in die Tiefe zu nutzen. Bei den Angriffen von Arsenal tauschten die Spieler Positionen und immer füllte ein anderer automatisch die entstandenen Lücken.
Lassen Sie mich das an (Thierry) Henry erklären: Er war schnell darin, den Gegner zu analysieren. Nach zehn Minuten wusste er, welcher Verteidiger sich auf welche Seite bewegte, welcher Gegenspieler einen schwachen Fuß hatte. Er erkannte von selbst die Schwächen der anderen und wusste sie zu nutzen. Robert Pires dahinter verstand es, seine Läufe mit Thierrys Läufen zu synchronisieren. Robert war unglaublich und bereit, sich für Henry aufzuopfern, ihm die Bälle zu servieren. Als Robert 45 Jahre alt war, habe ich ihn immer noch zum Training der aktuellen Arsenal-Mannschaft eingeladen. Selbst da gehörte er technisch immer noch zu den Besten auf dem Feld.
Sie achteten immer auf die Spielintelligenz Ihrer Akteure. Später führten Sie Tests zur Informationsverarbeitung auf dem Platz durch. Wie sahen diese aus?
Ich wollte herausfinden, wie viele Informationen die Spieler unmittelbar vor der Ballannahme aufnehmen: Wo sind meine Mitspieler? Wie viel Raum und Zeit habe ich? Wo steht der Gegner? Wenn du den Fußball einfach spielst, nimmst du den Ball an, triffst eine Entscheidung und führst sie aus – das ist alles. Mich interessierten die zehn Sekunden vor dieser Entscheidung. Ich arbeitete mit einer Universität zusammen und wir stellten Kameras auf, die die Bewegungen und Sichtweisen des Spielers in dieser Zeitspanne festhielten. Die ganz großen Spieler nehmen sechs bis acht Informationen auf, die guten vier bis sechs. Also je besser du deine Umgebung scannst, umso besser spielst du. Großartige Spieler drehen immerzu den Kopf herum, bevor sie den Ball bekommen. Spielen Sie Fußball?
Auf Amateur-Niveau.
Ok, dort nimmt man wohl null bis eine Information auf. (lächelt.)
Es gibt einige Mythen um Ihre Trainingseinheiten. Zunächst: Sie ließen die Spieler im 11 gegen 0 spielen oder im 11 gegen 11, wobei ein Team sich nicht bewegen durfte.
Stimmt. Ich wollte die Bewegungen und Verbindungen der Spieler zueinander einstudieren; Passen und Laufen ohne Gegenwehr.
Zweitens: Das erste, was sie sich vor dem Training anzogen, war Ihre Stoppuhr.
Das ist wahr. Das Spiel hat sich dahin entwickelt, dass der Trainerstab personell angewachsen ist. Ein Trainer übergibt seine Mannschaft heute an Spezialisten. Doch ich war damals der Taktiktrainer, Athletiktrainer und so weiter in einem. Es gab nur mich und das Team. Ich musste die Einheiten unterbrechen anstatt sie nur zu beobachten. Also brauchte ich eine Stoppuhr. Noch heute time ich mein Leben so genau, wie ich es damals bei jeder Einheit und jedem Spiel getan habe.
Sie haben die physische Seite des Spiels angesprochen. Viele ehemalige Arsenal-Spieler sagen, Sie seien nur so fit geworden, weil Sie die Ernährung im Klub umgestellt haben. Alkohol war verboten, statt Pommes gab es Hähnchen. Das war seinerzeit fast revolutionär.
Nein, ich glaube nicht, dass dies der Schlüssel für unsere physische Stärke war. Die Ernährung ist nur ein Teil davon, wenn auch ein nicht unwichtiger. Es ist wie das Benzin im Tank. Es gibt das sichtbare und das unsichtbare Training, sprich Ernährung, Schlaf, Vorbereitung auf ein Spiel. Ein Verein muss die Grundlagen für die optimale Leistungsfähigkeit schaffen. Ich engagierte damals einen Ernährungsberater, der den Spielern vermittelte, warum ihnen bestimmte Nahrungsmittel bei ihrem Spiel helfen können. Ich selbst bin kein Spezialist, aber ich schaffte es auf diese Art, die Spieler zu überzeugen. Es geht um die Überredung der Spieler, nicht darum, bloße Vorgaben zu erlassen.