Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind die zwei größten Vereine der Hauptstadt große Rivalen. Das war mal anders. Ein Rückblick in die Zeiten, als sich Hertha und Union noch lieb hatten.
Am 8. Mai 1979 herrschte im Berliner Olympiastadion gähnende Leere. Gerade einmal zehntausend Besucher hatten den Weg zur deutsch-deutschen Begegnung zwischen Hertha BSC und Dynamo Dresden gefunden. Der DDR-Kontrahent aus dem Elbtal weckte nur wenig Begeisterung beim Berliner Publikum. Nur 14 Tage zuvor war die Hertha vor 75.000 Zuschauern trotz eines glanzvollen Auftritts im UEFA-Cup-Halbfinale gegen Roter Stern Belgrad ausgeschieden. An diesem Tag stand allerdings nur ein sportpolitischer Auftrag für die Hertha auf der Tagesordnung: die Demonstration gesamtdeutscher Annäherung.
Die Hertha-Fankurve im Olympiastadion nahm diesen Auftrag ganz besonders ernst. Kurz nach dem Anpfiff intonierten die Hertha-Fans wie immer Gesänge und Sprechchöre. Jedoch war das Außergewöhnliche daran, dass die Sympathiebekundungen der Zuschauer auf den Rängen nicht den beiden Teams auf dem Rasen, sondern einer nicht anwesenden Ost-Berliner Mannschaft galten. Die Hertha-Fans schickten mit ihren „Union, Union, eisern Union!“-Sprechchören deutlich vernehmbare Grüße via SFB-Fernsehen über die Mauer hinweg zu den Fans des 1. FC Union nach Ost-Berlin. Eine Spielpaarung Hertha BSC gegen den 1.FC Union hätte in jener Zeit weit mehr Zuschauer ins Olympiastadion gelockt. Doch eine solche Begegnung wurde von DDR-Seite mit Absicht verhindert. Mit Argwohn hatte die DDR-Sportführung zur Kenntnis nehmen müssen, dass ein Gesamtberliner Zugehörigkeitsgefühl im Fußball über Grenzen und Mauern hinweg entstanden war, das der offiziellen Berlin-politischen Ausrichtung der DDR konträr entgegen stand.
Ein Ost-West-Doppelpass aus der Fankurve
Für die DDR waren solcherlei Fangesänge ein schockierendes Signal. Bisher hatte man ausschließlich mit der Sympathie der DDR-Fans für Bundesliga-Mannschaften zu kämpfen gehabt. Nun war mit den nicht zu überhörenden Sympathiebekundungen aus der Hertha-Fankurve eine neue und unerwartete Qualität im deutsch-deutschen Fußball offenbar geworden, die man überhaupt nicht auf der Rechnung hatte: die Erwiderung der Sympathien, quasi ein Ost-West-Doppelpass.
Nur mühsam fand die DDR mit Hilfe des Ministeriums für Staatsicherheit Erklärungen für das Berliner Phänomen. Aus den Akten des MfS lässt sich heute gut rekonstruieren, wie die DDR-Spitzelbehörde anfangs im Dunkeln tappte und hilflos dem Agieren der Fangruppen aus Ost und West gegenüber stand.
Hertha BSC zog seit den 1970er Jahren insbesondere viele Fans aus der DDR und Ost-Berlin in seinen Bann, darunter eine Vielzahl Fans des 1. FC Union Berlin. Die Sympathie von Union-Fans zur Hertha resultierte aus der Konkurrenz zum Hauptstadtclub BFC Dynamo. Der als Stasi-Verein verschriene Abonnement-Meister avancierte sportlich zum Vorzeige-Club der DDR-Hauptstadt. Beliebter bei den meisten Fußballanhängern in Ost-Berlin war jedoch der 1. FC Union, der in seiner Vereinsgeschichte einige Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen. Sportlich führte Union zwar ein Schattendasein, konnte in seiner Rolle als Underdog jedoch viele Sympathiepunkte bei den Ost-Berlinern sammeln. Als Reflex auf das Dauermeisterabonnement des BFC lautete deshalb ein Schlachtruf der Union-Fans: „Es gibt nur zwei Meister an der Spree, Union und Hertha BSC!“ Die Hertha besaß in den Augen der Ost-Berliner ein ähnliches Underdog-Image wie Union. Diese Parallelen ließen sich in der Vereinsgeschichte von Hertha BSC insofern finden, da der Verein durch Skandale, Abstiege und Benachteiligungen aufgrund der Insellage im Kalten Krieg ebenfalls keine überragenden sportlichen Erfolge erzielt hatte.
Erste Kontakte gab es schon in den frühen siebziger Jahren
Die Ausgangslage für die Pflege einer Fanfreundschaft über die Mauer hinweg schien auf den ersten Blick unmöglich. Allerdings zeigten sich die Fangruppen geradezu kreativ beim Umspielen der Mauer. Erste schüchterne Kontakte zwischen den Fangruppen aus Ost und West ermöglichten die Europacup-Begegnungen der Hertha in den Ostblockstaaten in den frühen 1970er Jahren, zu denen auch Ost-Berliner Unionfans reisten. Ein erstes Ost-West-Fanfest fand dagegen im April 1978 öffentliche Beachtung: Eine Wagenkolonne aus Wartburgs und Trabbis mit blau-weißen Wimpeln an der Heckscheibe setzten sich aus Ost-Berlin in Richtung Dresden in Bewegung, um die Hertha bei der Sportkalender-Begegnung gegen Dynamo anzufeuern. Da die Ost-Berliner Fußballfans nur begrenzt Einlass ins Dresdner Stadion erhielten, verlagerte sich die Verbrüderung zwischen Ost-Berliner Unionfans und West-Berliner Herthafans in die Straßen Dresdens, was der Dresdner Dynamo-Vorsitzende in seinem Bericht an den ostdeutschen Sportbund DTSB missmutig weitergab. Diese doch offensichtliche Fraternisierung verdutzte auch den aus Dresden berichtenden West-Berliner SFB-Reporter Jochen Sprentzel, der die zusammen feiernden Fans vor laufender Kamera zu Wort und zu Sprechchören kommen ließ. Begeistert kommentierte er dann, dass Fans aus Ost-Berlin angereist waren, „um dem populären Club aus dem Westen der geteilten Stadt den Rücken zu stärken. Hertha muss sich die Sympathien der jungen Leute aus dem Osten mit dem 1. FC Union, eine der wenigen Traditionsmannschaften aus dem Osten, teilen.“