Mesut Özil ist aus der Nationalmannschaft 2018 per Rundumschlag zurückgetreten. Nach dem WM-Spiel gegen Spanien steht er trotzdem wieder im Fokus. Wieso?
Für Ilkay Gündogan war die Sache ganz einfach. „Ich bin der Meinung, dass mit Politik jetzt Schluss ist“, sagte der deutsche Mittelfeldspieler der Sportwebsite „The Athletic“ nach dem 1:1 gegen Spanien. Gündogan bezog sich dabei auf etwaige weitere Protestaktionen der DFB-Elf nach der Mund-zu-Geste auf dem Mannschaftsfoto vor dem Spiel gegen Japan. Man mag von dieser Aussage halten, was man will. Dass sie in ihrer Absolutheit bei dieser WM in keinem Fall zutreffen würde, hatte sich schon gezeigt, als das Spiel noch lief.
Von der deutschen Mannschaft waren auf und neben dem Platz keine politischen Statements mehr zu sehen, in dieser Hinsicht hatte Gündogan also Recht. Und darauf hatte er sich im Interview auch primär bezogen. Dass es trotzdem brisant wurde, dafür sorgten einige Zuschauer nahe des deutschen Fanblocks. Sie reckten Fotos und Zeichnungen von Mesut Özil in die Luft und hielten sich dabei den Mund zu. Letzteres, das war eindeutig, bezog sich aufs deutsche Mannschaftsfoto beim Japan-Spiel. Doch was hatte der ehemalige deutsche Spielmacher damit zu tun, der seine Nationalmannschaftskarriere vor über vier Jahren beendet hatte?
Vereinfacht gesagt: Wenig. Er hatte sich im Vorfeld der Partie in keiner Form zur Weltmeisterschaft oder zur deutschen Nationalmannschaft geäußert. Ein Blick in die sozialen Netzwerke verrät aber, wie die Aktion gemeint gewesen sein könnte. Zumindest wurden dort bereits nach dem Japan-Spiel immer wieder Tweets veröffentlicht, die einen Zusammenhang zu Özil herstellten. Das Narrativ: Der DFB mache sich mit der Protestaktion wegen seines Verhaltens gegenüber Mesut Özil lächerlich. Von einer „westlichen Doppelmoral“ war dabei immer wieder die Rede.
Welches Verhalten des DFB genau gemeint war, unterschied sich innerhalb der Tweets. Einige Autoren bezogen sich auf die WM 2018 und die Rassismus-Vorwürfe, die Özil dem Verband im Zuge seines Rücktritts aus der Nationalmannschaft gemacht hatte. Die anderen, und das war die deutliche Mehrheit, warfen dem DFB vor, er habe Özil nach dessen Aussagen zur Situation der Uiguren in China im Stich gelassen. In einigen Tweets war sogar die Rede davon, Özil sei wegen seiner Aussagen zu den Uiguren nicht mehr für die Nationalmannschaft berücksichtigt worden.
Während die Vorwürfe bezüglich der Situation während und nach der WM 2018 durchaus ihre Berechtigung – oder zumindest eine faktische Grundlage – haben, gerät hinsichtlich Özils Uiguren-Statement einiges durcheinander. Im Dezember 2019 hatte er mit einem Social-Media-Post für Aufregung gesorgt, in dem er das Leid der uigurischen Minderheit in China scharf verurteilte. Die turksprachige Ethnie, die dem Islam angehört, lebt vor allem im Westen Chinas und leidet dort unter Masseninhaftierungen, Drangsalierungen und Repressionen. Westliche Regierungen bewerten das Verhalten der Chinesen als Genozid. Özil setzt sich in öffentlichen Statements seit langem für die Uiguren ein und macht auf ihr Schicksal aufmerksam. Vorwürfe machte er dabei allerdings vor allem den muslimischen Ländern: „Die Muslime schweigen. Ihre Stimme wird nicht gehört.“
Rückendeckung aus der Fußballwelt hatte Özil auch damals nicht bekommen, unter anderem sein damaliger Verein, der FC Arsenal, distanzierte sich von der Aussage seines Spielmachers. Auch der DFB äußerte sich nicht, allerdings war Özil zum Zeitpunkt der Aussage auch seit über einem Jahr kein Nationalspieler mehr. Deshalb ist auch der Vorwurf, sein Statement hätte zum Ausschluss aus der Nationalmannschaft geführt, faktisch falsch. Noch absurder war ein Vorwurf, den beispielsweise ein arabischer Reporter äußerte, als er auch noch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser kritisierte, obwohl diese erst drei Jahre später ihr Amt angetreten hatte.
Wie die Aktion mit den Özil-Fotos am Sonntagabend ins Stadion kam und wer sie initiiert hat, ist unklar. Viele der Zuschauer, die sich an der Aktion beteiligten, trugen das katarische Thawb-Gewand, was darauf hinweist, dass sie nicht von deutschen Fans ausging. Die Bild berichtet zudem von einem Zuschauer, nach eigener Angabe ein Wanderarbeiter aus Bangladesch, der sagte, die Poster bei der Ankunft an seinem Platz schon vorgefunden zu haben. „Dann kam ein Katarer und hat uns gezeigt, was wir damit machen sollen. Hochhalten und den Mund zuhalten. Das haben wir dann gemacht. Was die Poster zu bedeuten hatten, weiß ich nicht.“
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