Mit seinem Wechsel zu Stahl Brandenburg wurde Jörg Blüthmann 1990 zum ersten Westprofi im Osten. Und das, obwohl ihn Brandenburg erst mal schockte.
Jörg Blüthmann, Sie waren der erste Wessi im Ostfußball. Wie kam es denn dazu?
Ich spielte für die Reinickendorfer Füchse und wollte eigentlich zu Hannover 96. Das zerschlug sich aber. Dann nahm Stahl Brandenburg Kontakt auf.
War Ihr Wechsel kein Kulturschock?
Ostberlin kannte ich, aber die DDR nicht. Die Verhandlungen liefen in Berlin, aber vor der Unterschrift wollte ich das Trainingsgelände sehen. Ich fuhr nach Brandenburg – und war geschockt.
Warum?
Auf dem Weg kam ich an einem alten Stahlwerk vorbei. Fünf riesige Schlote, die schwarzen Rauch in die Luft bliesen. Alles war dunkel und schmutzig, kaputt und roch seltsam. Bei Stahl gab es ein Wohnhaus am Stadion, da sollte ich ein Zimmer bekommen. Ich ging einen Schritt in das Haus und drehte sofort um.
Trotzdem blieben Sie. Warum?
Wegen der Herzlichkeit der Menschen. Ich wurde mit offenen Armen empfangen. Und die Trainingsanlage war toll. Also pendelte ich jeden Tag 75 Kilometer.
Viele Ostfußballer wurden von Westklubs abgeworben. Haben Sie diese Goldgräberstimmung mitbekommen?
Günther Netzer war oft da, er hatte Kontakte nach Brandenburg. Ansonsten waren die Manager eher bei anderen Klubs, denn Stahl war damals dafür bekannt, Spieler zu haben, die in anderen Klubs negativ aufgefallen waren.
Was meinen Sie?
Ein Mitspieler wurde aus Berlin nach Brandenburg delegiert, weil er oft handfeste Auseinandersetzungen mit seiner Frau hatte und eines Tages betrunken und mit einer Stichwunde im Bauch bei der Polizei stand. Ein anderer kam aus Jena, weil er sich in der Friedensbewegung engagiert hatte. Bei zwei anderen hatte es den Vorwurf der versuchten Vergewaltigung gegeben.
Du lieber Himmel.
Eine unglaubliche Kanonentruppe. Es war keine Seltenheit, dass noch am Vorabend der Spiele ein paar Biere getrunken wurden. Mit der Zeit hat sich eine Gruppe von fünf oder sechs Spielern herauskristallisiert, die dem Feiern nicht abgeneigt war und an den Wochenenden immer mit zu mir nach Westberlin kam. Ich musste sogar Schlüssel nachmachen lassen, weil die Jungs immer noch weiterziehen wollten, wenn ich schon ins Bett ging.
Klingt nicht nach Leistungssport.
Quatsch, die Mannschaft war sensationell. Steffen Freund, Timo Lange, Eberhard Janotta, der junge Roy Präger. Wir wurden Achter und qualifizierten uns für die zweite Liga.
Trotzdem gab es Probleme.
Im Winter kamen noch zwei Wessis, der eine oder andere war plötzlich nicht mehr gesetzt und es wurde unruhig. Gerüchte machten die Runde, ich würde mehr verdienen, woraufhin einige Mitspieler meinen Vertrag sehen wollten. Als unser Präsident der Forderung nachkam, war mir klar, dass ich nicht bleiben würde.
Haben Sie denn mehr verdient?
Ich habe vom Verein eine kleine Summe bekommen, und noch mal eine größere vom Stahlwerk. Dort war ich alibimäßig als Schlosser angestellt. Mein Gehalt holte ich bar im Stahlwerk ab. Die Scheine waren so frisch, dass sie aneinanderklebten. So habe ich jeden Monat ein paar hundert Mark mehr bekommen.
Würden Sie den Schritt wieder gehen?
Die Zeit war sensationell. Diese in Trümmern liegende Republik zu sehen, die Stadien, die Städte, und dann die Herzlichkeit der Menschen, das hat mich sehr bereichert. Es war ein Abenteuer.