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Es sind tur­bu­lente Tage im Leutz­scher Holz. Am Sonntag mel­dete sich die orts­an­säs­sige Betriebs­sport­ge­mein­schaft Chemie mit einem Pau­ken­schlag end­gültig auf der bun­des­weiten Fuß­ball-Bühne zurück. Dabei ist der Verein aus dem Leip­ziger Westen nomi­nell nur noch die Nummer drei der Stadt – hinter dem neu­rei­chen Empor­kömm­ling aus dem Hause Red Bull und dem ewigen Rivalen 1. FC Lok. Doch seit die Che­miker am Sonntag mit dem Sieg­treffer in der Nach­spiel­zeit Zweit­li­ga­klub Jahn Regens­burg aus dem DFB-Pokal geworfen haben, stehen der Ober­li­gist und seine Fans Kopf.

Dabei pras­selt der­zeit ohnehin einiges auf Teile der aktiven Fan­szene der Grün-Weißen ein. Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass jah­re­lang umfang­reiche poli­zei­liche Ermitt­lungen gegen einige Anhänger statt­fanden. 24 Per­sonen erfuhren im Juni, dass seit Sommer 2015 ein Ver­fahren gegen sie anhängig war. Der Vor­wurf: Bil­dung einer kri­mi­nellen Ver­ei­ni­gung.

Im Straf­ge­setz­buch ist dies der Para­graph 129, dort heißt es: Mit Frei­heits­strafe bis zu fünf Jahren oder mit Geld­strafe wird bestraft, wer eine Ver­ei­ni­gung gründet oder sich an einer Ver­ei­ni­gung als Mit­glied betei­ligt, deren Zweck oder Tätig­keit auf die Bege­hung von Straf­taten gerichtet ist.“ Auf die 24 Chemie-Fans trifft dieser Tat­be­stand nicht zu. Die Briefe, die sie im Juni von der Staats­an­walt­schaft erhielten, waren pos­ta­li­sche Ein­stel­lungs­be­scheide. Gegen sie wird nicht mehr ermit­telt. Warum sie über­haupt in Ver­dacht geraten waren, ist bisher unklar. Fest steht nur: Alle 24 sind enga­gierte Mit­glieder der Chemie-Fan­szene. 

Nicht zum ersten Mal

Thorsten, Ende 20 und seit rund 15 Jahren Fan der Leip­ziger, war einer der Beschul­digten. Das Spiel gegen Regens­burg sei welt­klasse“ gewesen, sagt er, und freut sich über den sport­li­chen Erfolg. Der stärke das Gemein­schafts­ge­fühl der Fans und Zusam­men­halt könne man gerade wahr­lich gebrau­chen.

In Wahr­heit heißt Thorsten anders, aber er ist vor­sichtig geworden. Die Ermitt­lungen haben ihn nicht mehr über­rascht, er hat das schließ­lich schon einmal durch­ge­macht. Von 2013 bis 2016 lief bereits ein erstes §129-Ver­fahren gegen 14 Beschul­digte in der säch­si­schen Stadt, dar­unter auch Thorsten. Wir konnten damit rechnen, dass es noch wei­tere Ermitt­lungen gibt“, meint er, also sind wir noch sen­si­bler als zuvor geworden, was die Infor­ma­ti­ons­wei­ter­gabe angeht.“

Spio­nage-Para­graph

Im ersten Ver­fahren wurde seine gesamte Tele­kom­mu­ni­ka­tion über­wacht, also Tele­fo­nate abge­hört und SMS mit­ge­lesen. Auch Obser­va­tionen ein­zelner Per­sonen fanden statt. Nicht nur Thorsten, son­dern sein gesamtes Umfeld war dadurch indi­rekt von den Über­wa­chungs­maß­nahmen betroffen. Für große Empö­rung sorgte sei­ner­zeit, dass auch Gespräche mit soge­nannten Berufs­ge­heim­nis­trä­gern, etwa Jour­na­listen und Rechts­an­wälte, bespit­zelt wurden. Sogar der Sozi­al­ar­beiter des ört­li­chen Fan­pro­jektes war betroffen. Auch die jüngsten Ermitt­lungen umfassten erneut eine inten­sive Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­über­wa­chung.

Ich halte diese Über­wa­chung ohne jeg­liche Anhalts­punkte für eine kri­mi­nelle Struktur für rechts­staats­widrig“, sagt Valentin Lipp­mann gegen­über 11FREUNDE. Der Geschäfts­führer der Grünen-Frak­tion im säch­si­schen Landtag for­dert die lücken­lose Auf­klä­rung der Ermitt­lungen. Er teilt die Ansicht vieler Chemie-Fans, dass die Ver­fahren als Mittel zum Zweck dienten. Der Para­graph 129 werde oft nicht dazu genutzt, kon­krete Straf­taten auf­zu­klären, son­dern um einen ganzen Phä­no­men­be­reich aus­zu­spio­nieren und aus­zu­for­schen.“ Dafür spreche nicht zuletzt die Ein­stel­lung aller bis­he­rigen Ver­fahren gegen die Fans.

Was die Motive der Polizei für die fast fünf­jäh­rigen – und letzt­lich auf dem Papier erfolg­losen – Ermitt­lungen waren, kann dem­entspre­chend nur gemut­maßt werden. So fielen die Fans der BSG Chemie in den ver­gan­genen Jahren häu­figer durch große Pyro-Aktionen auf, außerdem hat gerade die Riva­lität mit dem Lok‘schen Stadt­ri­valen und seinen vielen rechten Anhän­gern auch eine poli­ti­sche Dimen­sion. Die Chemie-Fans geben sich in Gesängen und auf Ban­nern offensiv anti­fa­schis­tisch, immer wieder kam es in der Ver­gan­gen­heit zu Kon­flikten. Nichts davon konnte bis­lang mit der Bil­dung einer kri­mi­nellen Ver­ei­ni­gung in Ver­bin­dung gebracht werden. In der poli­zei­li­chen Arbeit mit Fuß­ball­fans genießt der Para­graph 129 bisher ohnehin Sel­ten­heits­wert. Anfang 2015 stufte der Bun­des­ge­richtshof mit den Dresdner Hoo­li­gans Elb­flo­renz“ erst­mals eine Gruppe aus dem Fuß­ball-Milieu als kri­mi­nelle Ver­ei­ni­gung ein. Die selbst­er­nannten Hoo­li­gans hatten sich nach­weis­lich diverse Male mit anderen Gruppen zu Schlä­ge­reien ver­ab­redet.

129 Freunde gegen Struk­tur­er­mitt­lungen

In Leipzig sind ins­be­son­dere die Chemie-Ultras ins Visier der Staats­an­walt­schaft geraten, in erster Linie die Gruppe Ultra Youth“. Auch Thorsten ist Teil der Ultra­szene. Er glaubt, bei den Ermitt­lungen sei es zum Teil auch darum gegangen, die Leute zu ver­un­si­chern“, vor allem aber sollten Hin­ter­gründe und Ver­stri­ckungen“ der aktiven Chemie-Fans aus­ge­kund­schaftet werden – auch mit der Poli­tik­szene“. Der Ver­dacht kommt nicht von unge­fähr: Das erste Ver­fahren, in dem unter den 14 ver­däch­tigen Per­sonen auch Chemie-Fans beschul­digt wurden, rich­tete sich vor allem gegen Teile der links-alter­na­tiven Szene der Stadt.

Ver­un­si­chern lassen haben sich Thorsten und viele andere nicht. Im Gegen­teil: Nachdem die ersten Bescheide der Staats­an­walt­schaft im Juni in ihren Brief­kästen lan­deten, riefen sie die Kam­pagne 129 Freunde“ ins Leben, um Trans­pa­renz und Auf­klä­rung über die Dimen­sion der Ermitt­lungen“ zu for­dern. Feder­füh­rend sind auch dabei die Ultras des Ver­eins, Unter­stüt­zung erhalten sie unter anderem vom Rechts­hil­fe­kol­lektiv“, der Fan-Hilfe der Che­miker. Dieses spricht von einem Struk­tur­er­mitt­lungs­ver­fahren“, rechts­wid­rigen Über­wa­chungen“ und man­gelnder Feh­ler­kultur“ auf Seiten der Behörden.

Wo sind die Was­ser­bomben?

Dass sich die Lage ent­spannt, ist ange­sichts dessen eher nicht zu erwarten. Zumal es in der ver­gan­genen Woche gleich zum nächsten Vor­fall zwi­schen der Polizei und einem Chemie-Anhänger kam. Das Stadt­ma­gazin Kreuzer“ berichtet von einer Haus­durch­su­chung bei einem Leip­ziger. Er soll anwe­send gewesen sein, als eine Gruppe Deutsch­land-Fans wäh­rend der WM mit Was­ser­bomben und rohen Eiern beworfen wurde. Was die Beamten laut Beschluss suchten? Was­ser­bomben“, Ver­pa­ckungs­ma­te­rial von Was­ser­bomben“ und Kauf­be­lege bzw. Unter­lagen zum Kauf bzw. zur Bestel­lung von Was­ser­bomben“.

Wäh­rend der Durch­su­chung seiner Woh­nung sollen die Beamten auf­fal­lend inter­es­siert an der Zuge­hö­rig­keit des Leip­zi­gers zur Chemie-Fan­szene gewesen sein, so wurde dieser Umstand laut Kreuzer“ mehr­fach the­ma­ti­siert. Auch der Fan selber spricht in diesem Zusam­men­hang von Struk­tur­er­mitt­lungen“. Grünen-Poli­tiker Lipp­mann meint ebenso, dass Polizei und Staats­an­walt­schaft offenbar an der fixen Idee fest­halten, dass Fans sich zu einer kri­mi­nellen Ver­ei­ni­gung zusam­men­schließen.“ Diese Ent­wick­lung sei besorg­nis­er­re­gend“.