Der HSV entlässt Coach Daniel Thioune und ersetzt ihn durch Nachwuchsdirektor Horst Hrubesch. Der 70-Jährige soll das Unmögliche noch möglich machen: den Aufstieg. Für den Verein ist es der letzte Trumpf.
Die Männerfreundschaft von Horst Hrubesch und HSV-Vorstand Jonas Boldt begann vor gut einem Jahr bei Mettbrötchen und frisch gebrühtem Kaffee im trauten Heim des Ehepaars Hrubesch bei Neumünster. Der Alte quatscht gern, er fühlt sich wohl im Kreise junger Leute, ist immer neugierig auf Menschen, auf neue Sichtweisen und er freut sich, wenn etwas passiert.
Boldt musste mehrfach anreisen, ehe er den mittlerweile 70-Jährigen soweit hatte, sich noch einmal für einen Job im operativen Geschäft zu erwärmen. Nachdem er in knapp zwanzig Jahren außer Hausmeister und Bundestrainer der A‑Nationalelf so ziemlich jeden Job beim DFB gemacht und stets die Zielstellungen erreicht hatte, war er nach seinem – wie er sagt – „schönsten Job“ als Interimstrainer bei der Frauennationalelf auf Altenteil gewechselt. Er wollte mit seiner Gattin endlich die versprochene Weltreise machen, ein Buch übers Fliegenfischen schreiben, sich um die Enkel kümmern. Ergo: Rentner sein!
Finde den Fehler! Der HSV-Chef fand ihn recht schnell. Als Corona alles in Schockstarre versetzte, schlich sich auch im Hause Hrubesch bald die Langeweile ein. Boldt kam öfter vorbei, stopfte artig Fleischsemmeln in sich rein und gewann sukzessive das Vertrauen des emeritierten Kopfballungeheuers. Als er ihm schließlich das Angebot machte, 37 Jahre nach seinem Abschied als Profi („Ich sag’ nur ein Wort: Herzlichen Dank“) als HSV-Nachwuchsdirektor am Volkspark anzuheuern, war seine Rückkehr nur noch eine Formalität.
Hrubesch hatte Bock. Aber so richtig. Und seine Menschenkenntnis, die es ihm ermöglicht hat, fast fünfzig Jahre im Profifußball zu überleben, ohne sich charakterlich zu verbiegen, gab ihm die Gewissheit: „Mit Boldt kann es klappen.“
Niemand weiß, ob wieder Mettbrötchen auf dem Tisch standen, als der junge HSV-Vorstandsboss und Sportdirektor Michael Mutzel am Wochenende überein kamen, dass Hrubesch ab sofort das Traineramt bei Profis übernimmt. Mit Sicherheit aber werden ihm die beiden vergegenwärtigt haben, wie dringend sie seine Hilfe brauchen.
Nach dem euphorischen Start in die Saison unter Trainer Daniel Thioune geriet der HSV zuletzt in einen Abwärtsstrudel. In der Rückrunde konnte der Klub von bislang 14 Spielen nur drei für sich entscheiden. In den letzten fünf Partien blieb der Aufstiegsaspirant ohne Sieg. Sollte Holstein Kiel nach der coronabedingten Pause alle Nachholspiele gewinnen, wäre der HSV sieben Punkte von einem Aufstiegsplatz entfernt. Eine Katastrophe, sportlich und wirtschaftlich. Und für viele Kritiker der Nachweis, dass der erhoffte Neustart, den bereits Funktionäre wie Didi Beiersdorfer und Bernd Hofmann versprochen hatten, auch unter Boldt gescheitert ist.
Hrubesch macht keinen Hehl daraus, dass seine Rückkehr und sein Verbleib am Volkspark eng mit dem Vorstandchef verknüpft sind. Sollte Boldts Schicksal durch den erneuten Nicht-Aufstieg beim HSV besiegelt sein, ist nicht auszuschließen, dass auch Hrubesch zeitnah wieder vom Hof reitet. Es besteht also Handlungsbedarf.
Zumal Daniel Thioune nach dem 1:1‑Unentschieden gegen den KSC am Donnerstag die Lage recht hoffnungslos kommentierte: „Wir müssen nicht mehr über Plätze reden, nicht mehr über Mannschaften um uns herum. Das macht keinen Sinn mehr.“ Der Coach, der erst im Sommer vom VfL Osnabrück nach Stellingen kam, war zweifellos mit seinem Latein am Ende.
Bezogen auf Sinn und Unsinn im Fußball zitiert Horst Hrubesch gern ein Bonmot seines einstigen Trainers Ernst Happel. Es lautet: „Für eine gute Mannschaft macht Verlieren überhaupt keinen Sinn!“ Daran hat wohl die HSV-Führung gedacht, als sie sich am Wochenende mit Hrubesch zusammenfand. Gemeinsam wurden einige Nachfolgepersonalien für Thioune durchgesprochen. Am Ende waren sich alle Beteiligten einig, dass ein Schnellschuss nur unnötig Geld kostet – und wenig Aussicht auf Erfolg verspricht. Wieder stellte Horst Hrubesch am Ende die Frage nach der Sinnhaftigkeit: „Bei nur drei oder maximal fünf verbleibenden Spielen machen andere Lösungen nicht viel Sinn“, so der Veteran, „ich brauche keine Kennenlernphase.“
Ab sofort leitet er also das Training. 26 Jahre nach seinem letzten Job kehrt er noch einmal auf die Bundesliga-Trainerbank zurück. Zur damaligen Zeit fehlte ihm im Lizenzbereich oft das Quäntchen Glück. Er kam nicht mit der Arbeitseinstellung gestopfter Profis zurecht. Klubbosse wie der Baulöwe Rolf-Jürgen Otto bei Dynamo Dresden behandelten ihn respektlos und von oben herab. Als Co-Trainer von Erich Ribbeck bei der EM 2000 war er geschockt von der Willenlosigkeit deutscher Nationalspieler. So sehr, dass er nach Ausscheiden gegen Portugal in der Vorrunde hemmungslos weinend auf der Ersatzbank kauerte. Er zog sich in den Jugendfußball zurück, weil es ihm dort leichter erschien, seine Werte zu vermitteln – und fand seine wahre Passion.
Nun muss sich erweisen, ob auch die aktuellen HSV-Profis bereit und willig sind, ihm zuzuhören. Hrubeschs Engagement bis Saisonende dient nur einem Ziel: Er muss einen neuen Impuls setzen, die Mannschaft aus der Depression herausholen. Hrubesch muss einem völlig verunsicherten Kader das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurückgeben. „Zuletzt hat die Mannschaft leider oft unter Wert gespielt“, sagte er beim Amtsantritt mit gewohnt windschiefer Hrubesch-Symbolik, „wir müssen alles daran setzen, den Mist, den wir verbockt haben, wieder geradezurücken.“ Er wolle jetzt viele Gespräche führen, reinhören und versuchen, ein paar Akzente zu setzen. Ob seine Bemühungen Früchte tragen und er ein neues Selbstbewusstsein im Kader schüren kann, entscheidet sich also im Prinzip schon in diesen Stunden. Mehr kann er nicht tun. Niemand weiß das besser als Hrubesch selbst, er ist lange genug dabei.
Es ist selbstloser Akt. Im Gegensatz zum 67-jährigen Friedhelm Funkel, der vor einigen Wochen den 1. FC Köln in dem Wissen übernahm, mit dem Klub noch aus eigener Kraft dem Abstieg entrinnen zu können, ist Hrubesch bei seiner Mission auf das Scheitern der Konkurrenz angewiesen. Es geht ihm nicht um Geld. Nicht darum, seinen Ruhm noch zu mehren. Es geht schlichtweg darum, den HSV vor einem weiteren Tiefschlag zu bewahren.
Es ist ein großes Wagnis. Denn klar ist: Selbst wenn der Klub unter seiner Führung alle noch ausstehenden Spiele gewinnt, würde der erneute Zweitligaverbleib mit seinem Gesicht verbunden bleiben. Sollte er zudem auch die Ergebnisse schuldig bleiben – was angesichts der jüngsten Auftritte des Teams durchaus denkbar wäre – werden im Umfeld des chronisch nervösen Vereins auch wieder Stimmen laut werden, die ihm seinen unzweifelhaften Ruf streitig machen wollen. Kurz: Seine Chancen, als Gewinner aus dieser schwierigen Gemengelange hervorzugehen, sind eher gering.
Aber das kennt er ja nicht anders. Als er 1983 in löchriger Trainingshose vor dem Endspiel im Landesmeisterpokal den Rasen betrat und die Spieler von Juventus Turin in ihren dunklen Maßanzügen ins Stadionrund schlendern sah, hätte auch keiner einen Pfifferling auf das Hamburger Team gesetzt. Am Ende aber stemmte Hrubesch den Cup in den Athener Nachthimmel.
Als er von 11FREUNDE gefragt wurde, wie er sich erkläre, dass der HSV damals gegen alle Wahrscheinlichkeiten zu Europas bester Mannschaft aufstieg, sagte er: „Wir sind füreinander eingestanden und haben die Scheiße durchgezogen.“ Darauf wird es auch diesmal ankommen. Für gute Mannschaft macht Verlieren eben wenig Sinn. Nur ist Horst Hrubesch darauf angewiesen, dass diesmal andere Teams diesen Gedanken bis zum Saisonende nicht beherzigen.