Heute tritt Deutschland nicht nur gegen Italien an, sondern auch gegen den Fußballgott. Zumindest, wenn es nach Cesare Prandelli geht. Mit seinen nächtlichen Wallfahrten sorgt der Trainer für ein Kuriosum dieser EM.
Fußball und Glaube gehören zusammen, nicht selten wird die schönste Nebensache der Welt gar zur Ersatzreligion gesalbt. Es durfte also nicht verwundern, als Cesare Prandelli in der Nacht von Sonntag auf Montag in ein kleines Kloster nahe dem italienischen Quartier pilgerte. Zu Fuß, wohlgemerkt. Die Squadra Azzurra hatte gegen England das Halbfinale gelöst und Prandelli wollte sich bedanken, da oben, bei IHM!. Es gibt vielleicht keinen Fußballgott, aber Gott existiert, daran glaubte der Maestro und war dann mal weg. Tatsächlich ist seine Mannschaft bei der Euro gegen alle Widrigkeiten auferstanden. Die Vorbereitung – überschattet von Erdbeben, Verletzungspech und dem Manipulationsskandal – glich einem Martyrium. In der Gruppenphase segneten erst die letzten Minuten des letzten Spieltages das Weiterkommen, weil Kroatien nicht mehr gegen Spanien traf. Schon nach diesem Etappenerfolg versammelte Prandelli die italienischen Verbandsspitzen und seine Co-Trainer, um mit dem treuen Gefolge auf das Kloster Camaldolesi zu marschieren. Der Pfad von Wieliczka bei Krakau bis nach Bielany wurde dem kleinen Gefolge sein Jakobsweg. Linker Fuß, rechter Fuß, drei Stunden durch die sternenklare Nacht. Leuchtete ein heller Komet, dessen Form an den EM-Pokal gemahnte, den Weg? Im Kloster angekommen, diskutierte der Calcio-Apostel mit den Mönchen und Nonnen, ließ Gruppenbilder machen (digital, nicht in Öl) und den Sakralbau begehen. Und jetzt nochmal. Glaube kann Berge versetzen, heißt es. Italien versetzte er ins Halbfinale. Cesare Prandelli, dieser Zeremonienmeister mit Gelhelm, hat einer Nation, die zu glauben verlernt hatte, neue Zuversicht gegeben. Gefeiert wird er dafür in den heimischen Gazetten wie ein Heiland. Im Juli 2010 noch lähmte der Schock über das vorzeitige WM-Aus den Stiefel, jetzt tönt die tausendhändige Monstranz Buffon schon wieder: „Wir müssen vor Deutschland keine Angst haben.“ Prandelli hat die Wagenburgmentalität eines Marcello Lippi in einen heiligen Konzil überführt, der ernsthafte Ambitionen auf den Titel anmelden kann. Und er hat sein Team Demut gelehrt: „Wenn man uns um ein Foto oder Autogramm bittet, darf uns das nicht nerven. Wir sind privilegiert, wir sollten offen sein. Wir wollen den Wandel und uns verändern.“ Der Boulevard unkte über die monastische Nachtexkursion, der Allenatore habe sicherlich auf dem Beichtstuhl um Ablass für die Wettsünden eines Domenico Criscito gebeten – oder gleich den Fußballgott bestochen. Das ist zynisch. Prandellis Italien ist nicht so hässlich, wie es beizeiten geschrieben wird. Die fürsorgenden Pässe eines Andrea Pirlo verzücken am TV, die chirurgischen Grätschen von De Rossi will man mit einer Fußwaschung belohnen. Im Zweifelsfall gilt die Unschuld bis zum Beweis der Schuld. Bei Titelgewinn scheint Prandellis Konsekration sicher, und für das kleine Kloster in Südpolen fiele mit der silbernen Coupe Henri Delaunay sicher eine schicke Hostie ab.