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Die Emp­fangs­halle des FC Everton ist eigent­lich nur ein win­ziger Durch­gangs­raum. Bis auf einen sil­bernen Pokal hinter einer Scheibe schim­mert hier, im Erd­ge­schoss des glor­rei­chen Sta­dions Goodison Park, nir­gendwo der Gla­mour des eng­li­schen Pro­fi­fuß­balls durch. Ein Bau­ar­beiter von der Straße schlen­dert durch die Drehtür zum Klo, ein Bäcker rem­pelt eine Art Tee­wagen über den Lin­ole­um­boden, ein Jugend­be­treuer im Trai­nings­anzug gam­melt vor dem Fern­seh­gerät herum.

Dann steht ein Mann mit kleiner, aber durch­trai­nierter Statur im Ein­gang, die dun­kel­grüne Herbst­jacke bis zum obersten Knopf geschlossen. Er nickt aus­druckslos in die Runde und könnte pro­blemlos für den Pförtner gehalten werden. Hey, mate! – What’s up, Tony? Dieser Tony schreitet durch den Raum, und wie es so ist, ver­raten die Bewe­gungen immer die ehe­ma­ligen Fuß­baller, die kurzen Trip­pel­schritte, der leicht vor­ge­beugte Ober­körper.

265 Spiele für Everton – nie ein anderer Klub

Tony Hib­bert hat 265 Spiele in der ersten eng­li­schen Liga absol­viert, tau­send Mal trai­niert, aber­tau­sende Trip­pel­schritte gemacht – und jeden ein­zelnen für den FC Everton. Im Jahr 1990 trat er dem Klub als Kind bei, im Jahr 2001 bestritt er sein erstes Spiel für die Profis, und im Jahr 2016 been­dete er hier seine Kar­riere. Ein Klub, ein gesamtes Fuß­bal­ler­leben lang. Hib­bert fühlt sich hier im schmuck­losen Durch­gangs­raum wohl, er kennt sie alle, egal ob sie Trai­nings­anzug oder Bau­stel­len­weste tragen, und sie kennen ihn. Hibbo is a legend.

Einen Wechsel brachte ich nie übers Herz“ – zum Inter­view mit Tony Hib­bert »>

Er muss dann auch gleich allen erklären, was dieses deut­sche Magazin von ihm will. Sie schreiben etwas über mein Tor“, sagt er. Und von der Seite kommt post­wen­dend: Oh, von wel­chem?“ Der ganze Raum grinst, Hib­bert mit ihnen. Jede Legende hat auch hier das Recht darauf, ordent­lich ver­arscht zu werden. Denn Hib­bert hat nur ein ein­ziges Tor in seiner Kar­riere geschossen. In 329 Pflicht­spielen, inklu­sive Pokal. Er kam nur ein wei­teres Mal in die Nähe, ein Pfos­ten­treffer, der von den Fans wie ein Welt­wunder gefeiert wurde. Als Hib­bert über zehn Jahre hinten rechts in Ever­tons Mann­schaft alles abge­räumt hatte, ver­selb­stän­digte sich seine Tor­flaute zum Mythos.

Die Fans pil­gerten zu jedem Spiel, denn ein Fern­bleiben hätte fatale Folgen haben können. Was, wenn Hib­bert heute trifft, und du bist nicht im Sta­dion? Oder eine andere simple Frage: Was machen wir eigent­lich, wenn Hib­bert mal trifft? Die Ant­wort pin­selten die Fans auf ein Banner und hängten es im Sta­dion auf: When Hibbo scores, we riot. Wenn Hib­bert trifft, rasten wir aus. Vor der Saison 2012/13 bestritt Everton ein Test­spiel gegen AEK Athen, es sollte ein ganz nor­males Vor­be­rei­tungs­spiel werden, bestimmte Trainer David Moyes. Der Verein aber gab es als Tes­ti­mo­nial, als Jubi­lä­ums­spiel für Tony Hib­bert aus, nach zehn Jahren treuer Dienste für Everton. Ein lau­warmer August­abend, ein inter­na­tio­naler Gegner, im Goodison Park knipsten sie das Licht an. Es wurde ein denk­wür­diges Spiel.

Schon nach ein paar Minuten zusammen mit Tony Hib­bert an einem Tisch im Sta­di­on­in­nern ver­steht man seine Popu­la­rität. Hib­bert hat diesen Blick, der eine gewisse Uner­schüt­ter­lich­keit gegen­über den Auf­ge­regt­heiten da draußen aus­strahlt. Die blonden Haare kurz, das Gesicht all­wet­ter­im­prä­gniert. Wenn er dann noch die Mund­winkel beim Spre­chen her­un­ter­zieht, wirkt er ein biss­chen wie Charlie Watts.

Das Grün­dungs­mit­glied der Rol­ling Stones sitzt seit den Sech­zi­gern beständig an den Drums der Band. Wenn er sich bei der Vor­stel­lungs­runde der Musiker nach all den anderen Exzen­tri­kern still erhebt, brandet der lau­teste Applaus auf. Tony Hib­bert hat nicht Schlag­zeug gespielt, son­dern Rechts­ver­tei­diger. 15 Jahre in der ersten Liga, er hätte Fami­li­en­fotos und Zim­mer­pflanzen an die Außen­linie stellen können. Gab es nie Ange­bote anderer Klubs? Zwei Mal haben mich andere Ver­eine ange­rufen“, erzählt Hib­bert. Doch ich habe ihnen direkt abge­sagt. In mir drin war immer das Gefühl, dass ich hier nie­mals weg­gehen möchte. Ich hätte es ein­fach nicht übers Herz bringen können.“

In der Schule mit Steven Ger­rard

Hib­bert muss bei der Ant­wort nicht lange nach­denken, es kommt direkt aus ihm heraus. Im Scouser-Dia­lekt dieser Gegend, bei dem die Worte manchmal klingen, als hätte man sie noch einmal durch den Mersey River gezogen, sie dann aus­ge­wrungen, bis sie auf den Tisch vor einem plat­schen. Hib­bert wuchs im Liver­pooler Arbei­ter­be­zirk Huyton auf, zusammen mit Steven Ger­rard, der Legende des Lokal­ri­valen. Die beiden spielten zusammen in der Schul­mann­schaft, doch spä­tes­tens, als sie sich ihren jewei­ligen Klubs anschlossen, endete der Kon­takt. Hib­bert kickte in der Jugend für Everton, stieg bei den Spielen der ersten Mann­schaft auf die Tri­büne und schaute am anderen Tag seinem Vater in der Frei­zeit­liga zu. Das war für ihn ein per­fektes Wochen­ende.

Wie lange Hib­bert bei Everton spielte, zeigt sich daran, dass er sowohl mit Paul Gas­coigne in dessen letzten Schaf­fens­jahren als auch mit Wayne Rooney in dessen erster Pro­fi­saison auf­lief. Hib­bert schwärmt noch heute davon, welch eine Freude es für ihn als Mit­spieler gewesen sei, den beiden zuzu­schauen. Er selbst schaffte es nie zu höheren Weihen, nur in einer Saison wies ihn die offi­zi­elle Sta­tis­tik­seite der Liga als besten Rechts­ver­tei­diger aus. Zu einem Län­der­spiel für Eng­land reichte es aber nie.

When Hib­bert scores, we riot

Dass er nie ein Tor schoss, störte ihn nicht, sagt er. Er hatte einen Job zu erle­digen, und das war nun mal das Ver­tei­digen. Seine Kar­riere endete, als der Klub im Sommer 2016 auf seiner Home­page schlicht mit­teilte, dass Hib­berts Ver­trag und der seines Kum­pels Leon Osman nicht ver­län­gert würden. Hib­bert erfuhr nur davon, weil seine Frau die Mel­dung gelesen und ihn ange­rufen hatte. Es war wie die Geschichte eines Fließ­band­ar­bei­ters, 40 Jahre für die Firma geschuftet, keinen Tag krank­ge­feiert, dann ohne Blu­men­strauß in Rente geschickt.

Die Wert­schät­zung der Fans brachte der Klub nur selten auf. Hib­bert fragte zwei Jahre lang, wann er sein Tes­ti­mo­nial bekäme. Dann legte David Moyes, der lang­jäh­rige Trainer, dieses Jubi­lä­ums­spiel auf einen schnöden Vor­be­rei­tungs­kick gegen AEK Athen. Alles solle bitte so sein wie immer, ord­nete Moyes an. Die Mann­schaft solle sich auf die Saison vor­be­reiten – und zu Frei­stößen oder Elf­me­tern die übli­chen Schützen antreten, auf keinen Fall Hib­bert. Die Fans konnten solch nüch­terne Ansagen nicht bremsen, sie druckten weiter Shirts und beschrieben Banner mit der Ansage: When Hib­bert scores, we riot.

Hib­bert selbst fragte den Trainer David Moyes und die Funk­tio­näre, wie sie denn damit umgehen würden, wenn er treffen würde und die Fans aus­ras­teten, sprich: den Platz stürmen. Er wurde belä­chelt. Sie stürmen schon nicht.“ Hib­bert sagte: Das tun sie. Glaubt es mir.“ Warum war er sich da so sicher? Ich kenne die Fans, ich stand mit ihnen zusammen im Block, ich komme von hier. Ich wusste: Sie stürmen.“

Nach einer halben Stunde liegt Everton bereits mit 3:1 in Füh­rung, das Spiel ist ent­schieden. Kurz nach der Pause bekommt das Team einen Frei­stoß in aus­sichts­rei­cher Posi­tion vor dem geg­ne­ri­schen Straf­raum zuge­spro­chen. Nicht Hib­bert, hat der Trainer gesagt. Doch der läuft nach vorne. Bainsey (Leighton Baines, d. Red.) schaute mich fra­gend an. Ich sagte nur Yeah‘ und nahm mir den Ball.“ Die knapp 18 000 Fans im Sta­dion vibrieren, sie stam­meln fast diesen einen Namen. Hib­bert. Hib­bert. Er nimmt sich den Ball. Viele zücken ihre Handys. Könnte das der Moment sein, nach 308 Spielen ohne Tor? There is a big roar among the fans. Is this the moment?“, fragt der Kom­men­tator.

Leon Osman, Mit­tel­feld­spieler bei Everton und Hib­berts bester Kumpel, hat einen Plan. Er stellt sich in die Frei­stoß­mauer der Grie­chen. Er packt die Gegen­spieler beim Trikot. Hib­bert macht sich bereit und Osman legt seinen Körper zur Seite und schiebt die Athener mit allem weg, was er hat. Es ist ein glas­klares Foul, doch wenn der Zweck jemals die Mittel gehei­ligt hat, dann jetzt in diesem Moment im Goodison Park.

Hib­bert zieht die Stutzen hoch, tritt einen Schritt nach vorne, dann zurück, er läuft an und trifft den Ball, nicht unbe­dingt hart, aber der Schuss fliegt gerade nach vorne. Mitten durch die Lücke. Athens Tor­wart sieht den Ball spät, er springt runter und erwischt ihn mit den Fin­ger­spitzen. Doch das reicht nicht. Der Ball flutscht, er flutscht über die Finger, über die Linie, ins Eck, ins ver­dammte Tor.

Die Fans rut­schen kopf­über über den Rasen

It’s in. Tony Hib­bert scores! A moment we never thought we’d see!“ So schreit es der Kom­men­tator heraus. Im Sta­dion ploppt ein urge­wal­tiges Yeaaaah“ aus den Tri­bünen, sie japsen vor Freude, als hätte Everton einen Pokal gewonnen. Sekunden danach springt der Erste wie von Sinnen über die Bande und rennt auf Hib­bert zu. Ihm folgen zwei, drei, dann ein Dut­zend, dann 50, die Ordner in ihren gelben Westen jagen ihnen nach. Doch die Fans kommen von allen Tri­bünen, es dauert nicht lange, dann sind Hun­derte auf dem Rasen, Halb­starke, alte Leute, Frauen, Kinder.

Sie rennen mit aus­ge­brei­teten Armen durch den Straf­raum, rut­schen kopf­über hin und her. Hib­bert hat sich gerade aus dem Jubel­knäuel seiner Mit­spieler gelöst und dreht sich zur Seite, als der erste Fan ihn erreicht. Doch dieser ist zu über­mo­ti­viert, er rutscht aus und grätscht Hib­bert im Fallen um. Hib­bert liegt auf dem Fan und die anderen schmeißen sich auf ihn. Ever­tons Spieler müssen ihren Kol­legen von den aus­ras­tenden Fans befreien und zur Mit­tel­linie bringen. Die Spieler von Athen sprinten in die Kabine. Nie­mand hat ihnen erzählt, was los ist. Und nun stehen hun­derte Fans auf dem Platz.

Hib­bert spricht über den ersten Moment, an dem er wieder klar denken konnte. Er ver­spürt Genug­tuung. Ich habe gelacht. Mein erster Gedanke war, nach dem Spiel zum Trainer und zu den Ver­ant­wort­li­chen zu gehen. Ich hab’s euch doch gesagt. Sie stürmen. Ich hab’s euch doch gesagt.‘“ Hun­derte auf dem Rasen und Tau­sende auf den Rängen rufen der­weil so laut sie können in den Nacht­himmel über dem Goodison Park: He scores when he wants – oh Tony Hib­bert, he scores when he wants.“ Oh Tony Hib­bert, er trifft, wann er will.

Eine große Party können die Spieler aller­dings nicht feiern. Trainer Moyes will die Vor­be­rei­tung nicht gestört wissen, das Trai­nings­lager steht an. In der Kabine über­reicht Hib­bert seinen Mit­spie­lern ein Geschenk, wie es Tra­di­tion bei sol­chen Jubi­lä­ums­spielen ist. Viele geehrte Spieler ver­teilen iPads oder Uhren. Hib­bert gibt jedem eine kleine Fla­sche Brandy, auf der das Datum und das Spiel ein­gra­viert sind. Das fand ich irgendwie pas­send.“ Danach fährt er nach Hause und trinkt eine Tasse Tee.

Nach seinem Kar­rie­re­ende hat sich Hib­bert aufs Fischen kon­zen­triert und ein kleines Haus an einem See in Frank­reich gepachtet. Nachdem er einen knapp zwanzig Kilo­gramm schweren Karpfen gefangen hatte, inter­viewte ihn das Portal Go Fishing. Das war es mit dem Ruhm. Everton hat weniger Inter­esse an seinem lang­jäh­rigen Ver­tei­diger, Gespräche über eine Anstel­lung im Klub gab es nie.

Goodison, Flut­licht, das Tor

Was bleibt, sind Erin­ne­rungen, wie jener Abend gegen Athen. Für Hib­bert ist das Tor jedoch bei weitem nicht der beste Moment seiner Kar­riere. Mein Debüt ran­giert ganz oben, zum ersten Mal für meinen Klub zu spielen, das war groß. Dann kommen all die Der­by­siege. Und irgend­wann dieser Treffer. Aber in dieser gesamten Kon­stel­la­tion, Goodison, Flut­licht, das Tor, Platz­sturm, das alles war schon groß­artig.“

Noch heute trifft er min­des­tens einmal pro Woche einen auf­ge­regten Everton-Fan auf der Straße, der ihm mit glän­zenden Augen erzählt: Ich war da, als du das Tor geschossen hast. Und Hib­bert fragt zurück: Ah ja, bei wel­chem denn genau?

Die Repor­tage stammt aus unserem 11FREUNDE SPE­ZIAL Tore“, erhält­lich bei uns im Shop.