Im November wäre Ernst Happel 90 Jahre alt geworden. Günter Netzer, der als HSV-Manager mit dem Wiener Coach große Triumphe feierte, erinnert sich.
Für unsere große Reportage über Ernst Happel sprachen wir auch mit etlichen Wegbegleitern, Spielern und Freunden. „Zauberer“ lest ihr in 11FREUNDE #168, jetzt am Kiosk, im 11FREUNDE-Shop und im App-Store.
Günter Netzer, was machte den Trainer Ernst Happel so einzigartig?
Wissen Sie, was ich in meinem langen Leben festgestellt habe? Das man nur sehr wenig über Phänomene sagen kann. Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann.
Mit anderen Worten: Happel war ein Phänomen, das sich nicht erklären lässt?
Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Als Happel zum HSV kam, hatten wir sechs Wochen Vorbereitung. Beide Torhüter, Jupp Koitka und Uli Stein, haben gehalten wie die Weltmeister. Am Abend vor dem ersten Spiel fragte ich Happel, wer denn nun im Tor stehen würde. Er sagte: „Ich weiß es nicht. Aber wenn ich morgen früh die Augen aufmache, werde ich es wissen.“ Am nächsten Tag stellte er den Stein ins Tor – und der wurde Nationalspieler.
Wie kamen Sie 1981 auf die Idee, ihn zu verpflichten?
Als es mit Branko Zebec nicht mehr weiterging, hörte ich ein wenig rum. Und immer wieder fiel Happels Name.
Happel hatte 1970 mit Feyenoord Rotterdam den Landesmeistercup gewonnen. Er muss eine große Nummer im Business gewesen sein.
Na, hören Sie mal, das war mehr als zehn Jahre her. Außerdem hatten Trainer damals längst nicht so einen Stellenwert wie große Spieler.
Wie ging es weiter?
Ich schaute mir ein Spiel von Standard Lüttich an und war völlig verwundert angesichts des Fußballs, den er spielen ließ. Die gegnerische Mannschaft stand ständig im Abseits, sie hatte keinen Platz und wurde bis zur Mittellinie rausgedrängt. Ein tolles Spiel, das unverkennbar die Handschrift des Trainers trug. Für die damalige Zeit war das einzigartig.
Die Happel-Ära war die erfolgreichste Periode in der Geschichte des Hamburger SV. Wie empfanden die Spieler die Verpflichtung von Happel?
Ich erinnere mich, dass ich dem Magath gesagt habe: „Ich habe das Gefühl, wir kriegen einen noch besseren Trainer als den Zebec“. Daraufhin erwiderte er: „Den gibt es nicht.“ Ich sagte ihm, Happel sei im Gegensatz zu Zebec ein menschlicher Schleifer. Aber mit dem Begriff konnte Magath nichts anfangen. Happel und Zebec haben unglaubliche Disziplin vermittelt. Beide haben die Mannschaft nicht geschont, aber Happel hat seine Methoden spielerischer verpackt.
Man sagte Happel nach, dass er maulfaul sei, ein Eigenbrötler.
Es war äußerst unterschiedlich, mit wem und wie viel er geredet hat. Da war er durch und durch Gefühlsmensch. Entweder hat er einen Menschen gemocht oder er hat ihn abgelehnt.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Ein Journalist fragte mich, ob ich ein Interview mit Happel vermitteln könnte. Ich wusste, dass er höchst ungern Interviews gab, habe es aber trotzdem vermittelt. Happel kam mürrisch an den Tisch, die beiden fingen an zu sprechen. Am Ende musste ich sie nach drei Stunden trennen, damit das Gespräch nicht völlig den Rahmen sprengte.
Happel sprach ein Kauderwelsch aus wienerisch, belgisch und englisch. Konnten Sie ihn verstehen?
Als ich ihn kennenlernte, war es hart. Da habe ich kaum etwas verstanden. Er hat Worte gebraucht, die ich in meinem Leben nie gehört hatte. Später hat sich das ein bisschen gebessert, war aber immer noch schlimm!
Heutzutage wäre es unvorstellbar, dass ein Trainer nicht zu verstehen ist.
Happel lebte eben von seiner Intuition. Er hat auch Dinge getan, die man nicht verstanden hat – so wie Pep Guardiola. Aber es kamen fast immer geniale Sachen dabei heraus.
Mit seinem Pressing war er seiner Zeit voraus.
Und das System brachte er sehr schnell den Spielern in Hamburg bei. Wir spielten so offensiv, dass es der Mannschaft zeitweise zu viel wurde.
Wie äußerte sich das?
Durch die Spielweise mussten die Spieler viel mehr Torchancen zulassen, als sie es von Zebec gewohnt gewesen waren. Das kannten sie so nicht. Aber den Happel hat das nicht irritiert, er gewann lieber 6:5 als 1:0.
Nach dem Europacupsieg 1983 mit dem HSV war vermutlich halb Europa scharf auf ihn.
Er hatte Angebote aus Madrid und Barcelona, später kam auch eine Millionenofferte aus Neapel. Damals verdienten Trainer in der Bundesliga selten mehr als 300.000 Mark brutto. Es war also verlockend.
Dennoch gelang es Ihnen, ihn beim HSV zu halten. Wie haben Sie das gemacht?
Als er mir von dem Angebot aus Neapel erzählte, sagte ich: „Herr Happel, lassen Sie es sein. Sie können sich doch gar nicht mit denen unterhalten, Sie sprechen die Sprache nicht. Und dort trainieren Sie Maradona, der hat seinen eigenen Trainer, der kommt sowieso nicht zum Training.“ Das hat er mir geglaubt, und ist geblieben. Er hat sich bei uns sehr wohl gefühlt.
Was mussten Sie tun, damit sich Happel wohlfühlt?
Ich habe ihm alles Unbequeme vom Hals gehalten. Ich bin mit ihm nach Sylt gefahren und unser Wintertrainingslager fand in Südfrankreich statt, wo es viele Casinos gab, die wir auch reichlich nutzten.
Das Spiel nach dem Spiel hat ihn immer gereizt.
Ja, aber auch in der Hinsicht war er höchst diszipliniert. Sobald er kleinere Mengen gewonnen oder verloren hatte, konnte er aufhören. Ein echter Spieler kann das nicht. Er wusste genau, wo seine Grenze ist. So wurden ihm auch Alkoholgeschichten angedichtet. Aber ich kann Ihnen versichern: Ernst Happel war immer der erste beim Training und der letzte der gegangen ist. Ausfälle wie beim Zebec hat es bei ihm nie gegeben.
Er übernahm von Zebec eine intakte Mannschaft, die sich gewissermaßen selbst disziplinierte.
Er hat dieses Team veredelt und es einen Fußball spielen lassen, den man so in Deutschland noch nicht gesehen hatte. Er ließ Forechecking in Perfektion spielen. Viele Elemente unseres damaligen Spiels sind bis heute im Fußball üblich.
Horst Hrubesch war sein verlängerter Arm auf dem Platz. Was machte das Verhältnis zwischen den beiden aus?
Happel wusste, dass der Hrubesch einen tadellosen Charakter hat und alles für ihn und die Mannschaft tun würde, auch jenseits des Platzes. Deshalb mussten die beiden auch nicht viel sprechen, die haben sich intuitiv verstanden.
Als Horst Hrubesch und Lars Bastrup den HSV 1983 verließen, folgten Dieter Schatzschneider und Wolfram Wuttke, die sich weniger gut integrierten.
Wuttke war eines der größten Talente des deutschen Fußballs. Aber beide waren vom Charakter nicht ausreichend. Ich dachte, es kann nicht sein, dass zwei Neulinge die ganze Mannschaft durcheinander wirbeln mitsamt dem alten Happel. Aber genau das ist passiert.
Warum hat Happel das nicht in den Griff gekriegt?
Eine berechtigte Frage. Ich glaube, es war ihm zu dumm. Selbstverständlich hat er es versucht, aber der Wuttke hat gemacht, was er wollte. Und Happel ist ihm nicht hinterhergelaufen.
Ein Defizit?
Das muss man im Nachhinein wohl so sagen, da hätte er mehr draus machen können. Aber Happel wollte mündige Spieler. Leute, die von sich aus Verantwortung übernehmen.
Hat er sich von Wuttke und Schatzschneider vor dem Transfer kein Bild gemacht?
Wie wollen Sie das in einem kurzen Gespräch erkennen? Wuttke hatte in Schalke gespielt und kam zum Europacupsieger. Wir gingen davon aus, dass er sich ganz hinten anstellen würde. Aber das hat Wuttke nicht gemacht.
Inwieweit mischte sich Happel in Transferfragen ein?
Er hat von sich aus nie Spieler geholt. Happel war unendlich belastbar, man konnte ihn nachts um drei wecken und mit ihm irgendwohin fliegen, um einen Spieler anzuschauen, aber von sich aus hat er keine Vorschläge gemacht. Happel hat keine Mannschaften gebaut, sondern aus dem, was er hatte, das Optimale rausgeholt.
Wäre ein Typ wie Happel in der heutigen Fußballzeit noch denkbar?
Er hat sich nie verbiegen oder zwingen lassen, irgendetwas zu tun. So gesehen wäre allein sein Umgang mit den Medien heute unvorstellbar. Der war schon damals fast vereinsschädigend. Ab und zu konnte ich ihn überreden in den Medien aufzutreten, aber meistens sind Präsident Klein und ich für ihn eingesprungen. Ich muss sagen, dass die Hamburger Medien sehr großzügig mit ihm umgegangen sind. Sie waren wohl auch dankbar für den Erfolg, den er uns gebracht hat. Ob Medien heute so mit einem Trainer umgehen würden, der sich verweigert, kann ich mir nicht vorstellen.
Happel war berüchtigt für seine extrem kurzen Pressekonferenzen.
Er war nun mal kein Diplomat. Und er hasste Pressekonferenzen. Lieber wäre es ihm gewesen, mit jedem Journalisten einzeln zu reden, wenn es sein musste. Deshalb sind Pressekonferenzen auch, wenn sie überhaupt stattfanden, sehr kurz ausgefallen. Ich habe immer die Luft angehalten, so habe ich dabei gelitten. Das Beste was ein Journalist dort erzielen konnte, war, dass Happel geschwiegen hat.
Noch einmal: Wäre er als Trainer heute noch denkbar?
Im medialen Umgang sicher nicht. Aber aus sportlicher Perspektive habe ich keinen Zweifel, dass er mit seinem Gespür eine Mannschaft auch heute zu Höchstleistungen führen könnte. Im Übrigen finde ich es furchtbar, wenn ein Coach ein besserer Kommunikator als ein Trainer ist. Mir sind Typen, die wenig und akzentuiert sprechen immer noch lieber, als diejenigen, die eine Show abziehen.
Günter Netzer, Ihre persönlichste Erinnerung im Zusammenhang mit Ernst Happel?
Ich werde oft gefragt, was der schönste oder traurigste Moment in meinem Leben war. Ich behalte so etwas nicht. Ich weiß also nicht, was der persönlichste Moment von uns war. Ich weiß aber, dass Ernst Happel und ich sehr viele gute Momente hatten.
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