Direkt nach seinem Amtsantritt erklärte Alf Ramsey die Three Lions zum einzigen WM-Favoriten 1966. Davor wollte er den EM-Titel quasi im Vorbeigehen mitnehmen – und scheiterte krachend.
Just in der Woche, in der die Three Lions zum Rückspiel antraten, stürmten die Beatles mit ihrer zweiten Single „Please Please Me“ erstmals fast bis an die Spitze der Charts – Frank Ifields „Wayward Wind“ ließ sich nicht vom ersten Platz verdrängen –, was ein erster Hinweis darauf war, dass sich London alsbald über den Umweg Liverpool zum Epizentrum einer neuen, die Jugend der gesamten westlichen Welt nachhaltig prägenden Popkultur entwickeln sollte. Im Frühsommer dieses denkwürdigen Jahres wurde dann das Establishment der britischen Gesellschaft und später auch der Regierungsapparat durch eine Affäre erschüttert, die alle vergleichbaren Sexskandale (und die englische Geschichte hat in dieser Hinsicht einiges zu bieten) in den Schatten stellte.
Scheibchenweise kam heraus, dass Heeresminister John Profumo eine (wie es Teile der Presse nannten) „unschickliche“ Beziehung zu dem aAll-Girl Christine Keeler unterhielt, und das zur selben Zeit, in der 21-Jährige auch den sowjetischen Militärattaché Eugene Ivanow zu ihren Kunden zählte.
Spätestens nachdem Profumo in dieser delikaten Angelegenheit das Unterhaus belogen hatte, schien die nationale Sicherheit bedroht, weil man befürchten musste, dass Ivanow versucht haben könnte, Keeler zu instrumentalisieren, um dem Minister irgendwelche Atomgeheimnisse zu entlocken – wenige Monate nach der Kuba-Krise lagen diesbezüglich die Nerven verständlicherweise blank. Christine Keeler, die selbstbewusst und schlagfertig war, bestritt dies vor Gericht aber vehement. Trotz der anfänglichen Aufregung verlief die Affäre letztlich im Sand, weil die Russen Ivanow natürlich umgehend abberiefen und der einzige Mann, der für Aufklärung hätte sorgen können, nämlich Keelers Zuhälter, der windige Modearzt Stephen Ward, Selbstmord beging.
Christine Keeler wurde zwar zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt, aber ihre Popularität und das Interesse an der jungen Frau, die wie Julie Christie, Jean Shrimpton, Twiggy, Pattie Boyd oder Sandie Shaw zur ersten Garnitur der weiblichen Sixties-Ikonen Englands zählt, minderte das kaum. Noch viele Jahre danach, als John Profumo, der lange Jahre als Sozialarbeiter in Slumvierteln Buße geleistet hatte, schon von der Queen rehabilitiert worden war, wurde ihre, noch später gar erfolgreich verfilmte Autobiografie zum Bestseller.
Das nächste trivialmythische Großereignis ereignete sich kurz darauf. Ein Robin-Hood-artiges Gaunerstück, das bis heute fest im Gedächtnis der meisten Briten verankert ist und längst zur modernen Folklore zählt: Gemeint ist der spektakuläre, mit militärischer Präzision geplante und durchgeführte Coup, bei dem die beiden Londoner Firms (wie man lokale Gruppierungen der Organisierten Kriminalität dort nennt) von Bruce Reynolds und Thomas Wisbey in der Nacht des 7. August den Postzug von Glasgow nach London auf freier Strecke stoppten und die damals schier unvorstellbare Summe von 2,6 Millionen Pfund erbeuteten. Sicherlich waren dies, auch wenn sie weitgehend gewaltfrei vorgingen, Kriminelle, aber ihre Dreistigkeit verschaffte ihnen weltweit Sympathien.
Wer nun fragt, was das mit Fußball zu tun hat, dem sei erwidert, dass der niemals und nirgends losgelöst von den die Gesellschaft gerade prägenden Ereignissen gespielt wird.
All das Erwähnte – die lärmende Beatmusik und die anderen Facetten der Popkultur, die Infragestellung der bigotten Sexualmoral der Engländer (was ja auch ein Nebenaspekt der Profumo-Affäre war) oder die wagemutige Raffinesse der Posträuber trug nicht unerheblich dazu bei, dass sich der Zeitgeist, das Sozialklima und das Lebensgefühl zum Besseren veränderten, so als hätte jemand alle Fenster aufgerissen, um frische Luft hereinzulassen.
Und dieser Stimmungswandel wiederum zeitigte bald Auswirkungen auf den britischen Fußball und seine Protagonisten, die nach und nach in Auftreten und Erscheinungsbild weniger normiert, schlichtweg individueller wirkten. Zumindest ansatzweise begannen sie zu verstehen, dass sie nicht nur professionelle Leistungssportler, sondern in den Augen von vielen (vor allem jüngerer) Anhänger auch Entertainer und Vertreter der neuen Popkultur waren. Nichts belegt dies besser als George Best, der sein Pflichtspieldebüt für Manchester United ebenfalls im magischen Jahr 1963 gab, nämlich am 14. September im Punktspiel gegen West Brom.