Seit 1989 hat Chris Kemp kein Spiel der Queens Park Rangers im Stadion verpasst. Nun droht die Serie zu reißen. So wie die von weiteren überaus treuen Seelen.
Am 9. September 1989 verloren die Queens Park Rangers an der Maine Road gegen Manchester City mit 0:1. Damals noch in der Football League First Division, die später zur Premier League wird. 31 Jahre später, am 7. März 2020, gewinnt QPR die Championship-Begegnung bei Preston North End mit 3:1. Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen 1503 Spiele der Queens Park Rangers – Chris Kemp hat jedes davon live im Stadion gesehen. Doch nun ist sein imposanter Lauf durch die Coronakrise gefährdet.
Dabei steht der Brite nicht zum ersten Mal vor Komplikationen, die ihm den Stadionbesuch erschweren. In den Achtzigern – der Hochphase der Hooligans – verwehrte Luton Town den Auswärtsfans von QPR den Zutritt zur heimischen Kenilworth Road. Dennoch ergaunerten sich einige Supporter, unter ihnen Chris Kemp, den Weg auf die Haupttribüne. „Eine kleine Enklave von QPR-Fans sang „You’ll never ban a Rangers fan“, erzählt Kemp im Gespräch mit Sky Sports.
Selbst die Geburt seiner ersten Tochter habe er 1998 minutiös in den Liga-Spielplan integrieren müssen. Er hatte gehofft, die Geburt gehe in einer spielfreien Phase über die Bühne. Doch als die Saison so richtig ins Rollen kam, war das Baby immer noch nicht da. Zu dieser Zeit war das Handy noch nicht weltumspannend und in jedermanns Hosentasche eingenäht, also besorgte er sich einen Pager, den seine damalige Frau zum Piepen bringen sollte, sobald die Fruchtblase platzte. Ein ausgeklügelter Plan, den Kemp insgeheim aber keineswegs verfolgte.
Denn zu dieser Zeit spielte QPR in der zweiten Liga. „Wir machten Vier-Stunden-Trips durchs ganze Land“, erzählt Chris Kemp, „ehrlicherweise gab es keine Chance, dass ich ein Spiel hätte ausfallen lassen“.
So wartete in der ersten Novemberwoche 1998 ein schwer bepackter Spielplan: Am Mittwoch spielten die Queens Park Rangers gegen Barnsley FC, drei Tage später gegen Bolton Wanderers – beides zu Hause an der Loftus Road. Nicht minder schwer bepackt war Kemps Frau dieser Tage. Also klopfte er sanft auf den Bauch und sagte seiner noch nicht geborenen Tochter: „Komm noch nicht raus, Daddy geht jetzt zum Fußball.“ Als er vom Barnsley-Spiel wiederkam, gab er seiner Tochter dann das Go. Und tatsächlich: Noch vor dem Heimspiel am Samstag gegen Bolton erblickte sie das Licht der Welt. Natürlich stand der frisch gebackene Vater beim 2:0‑Sieg schon wieder auf der Tribüne.
Mittlerweile ist Chris Kemp 52 Jahre alt, aufgewachsen in Harrow im Großraum London, ein paar Meilen von der Loftus Road, der Heimstätte der Rangers, entfernt. Beruflich ist er im Gefängnisdienst angestellt und hat laut eigenen Angaben knapp 80.000 Pfund für Tickets und Reisekosten ausgegeben, um seine „Super Hoopers“ spielen zu sehen. Dabei hat er 95 verschiedene Gegner gesehen und 104 Stadien besucht. Keines davon international. Denn QPR hat in den vergangenen 30 Jahren nicht einmal im Europapokal gespielt. Alle Spiele fanden auf der Insel statt. Ob zumindest walisische Reiseziele wie Cardiff, Swansea und Wrexham als Auslandsstationen zählen? Da ist sich Kemp selbst nicht ganz sicher.
Aufmerksam auf den Klub aus dem Nordwesten Londons wurde er in der Saison 1975/76, in Zeiten, als QPR sogar noch um die Meisterschaft mitspielte. „Zunächst mochte ich einfach nur den Sound des Vereinsnamens.“ Sein erster Gang ins Stadion sollte erst drei Jahre später folgen. Zum Heimspiel gegen Newcastle United nahm ihn der Dekorateur (!) seiner Oma (!) mit, der eine Dauerkarte hatte. „Er setzte mich auf einen Holzhocker, sodass ich mehr sehen konnte.“ Und seither hat Kemp mehr als 25 Prozent aller Spiele der Vereinsgeschichte gesehen. Die Queens Park Rangers gründeten sich 1882.
Legendäre, geschichtsträchtige Spiele sind, nun ja, selten Queens-Park-Rangers-Spiele. Dafür ist der Klub schlicht nicht erfolgreich genug. Aber als Sparringspartner für Premier-League-Meilensteine brillierten die Blau-Weißen in den vergangenen Jahrzehnten durchaus. Etwa als der FC Liverpool 1990 in Anfield gegen QPR spielte und die Reds durch Tore von Ian Rush und John Barnes die letzten Meisterschaft der Vereinsgeschichte klarmachten. Oder bei ManCitys Last-Minute-Meisterschaft 2012, als Kun Agüero im Etihad Stadium gegen die Rangers das Spiel drehen konnte.
Chris Kemps Fan-Vita durchziehen sämtliche Höhen und Tiefen: Er hat den Premier-League-Aufstieg 2014 im Wembley Stadium erlebt, einen 4:1‑Sieg über ManUnited im Old Trafford 1992, Siege über den FC Liverpool, FC Arsenal, Spurs und ManCity, ein 4:4 nach 0:4‑Rückstand gegen Port Vale, und genauso hat er 0:6‑Heimniederlagen gegen Newcastle United gesehen, verlorene Playoffs in der Aufstiegsrunde, vergeigte Elfmeterschießen, torlose Remis am Montagabend. Daher meint er auch: „Das schöne daran, Fan von QPR zu sein, ist, dass du nie weißt, was als nächstes passiert.“
Eine Ungewissheit wie die der gegenwärtigen Krise wird allerdings auch er noch nicht erlebt haben. Wann er ein Stadion das nächste Mal betreten darf, wissen nicht einmal die Entscheidungsträger des englischen Fußballs. Sollte die Saison aber in nächster Zeit fortgesetzt werden, dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Da wird er sich nicht zu einer kleinen QPR-Enklave auf der Haupttribüne schleichen können wie damals bei Luton Town. Es seien schwierige Tage für ihn, erzählt Chris Kemp.
Um aber halbwegs unbeschadet durch die fußballfreie Zeit zu kommen, hält er an seinen Routinen fest: „Ich trage immer noch Samstags mein QPR-Trikot und mache meinen Lauf durch den Park, wie vor jedem Heimspiel.“ Zum Zeitvertreib habe er einige seiner alten „Roy of the Rovers“-Comics rausgekramt. Er besitzt die gesamte Sammlung von 872 Exemplaren. Irgendwie müsse es weitergehen. Hauptsache nicht nichts.
In turboschnellen Fußballzeiten ist Chris Kemp ein schönes Überbleibsel, eine Loyalitätsfigur, eingepackt ins blau-weiß gestreifte Trikot. Ein Einzelfall ist er aber nicht. Denn fast jeder Verein dürfte einen Fan haben, der seit zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, vielleicht sogar siebzig Jahren kein Spiel verpasst hat.
2018 ist Derek Eston, Fan von Swindon Town, für sein 2000. Spiel in Folge geehrt worden. Die letzte Begegnung, die er verpasst hatte, fand 1981 statt. Dabei lebt er nicht einmal in Swindon, sondern in Northampton – siebzig Meilen entfernt. Oder Keith McAllister, Fan des schottischen Queens Park FC, der sogar seit 1979 kein Spiel mehr verpasst haben soll. Die Legende des „Superfans“ von Leeds United, Gary Edwards, besagt, er habe gar seit 1968 nur ein Vorbereitungsspiel seiner Mannschaft in Toronto verpasst, weil das Personal der Flugsicherung seinerzeit streikte und die Maschine nicht abheben konnte.
Und doch gibt es immer einen, der noch länger dabei ist. Die imposanteste Serie hält wohl Derek Eley: Der 102-jährige Fan von Derby County soll in den vergangenen 88 Jahren nur ein Spiel seines Klubs verpasst haben – und das aus gutem Grund: Er ist 1939 in den Zweiten Weltkrieg eingezogen worden. Als der Fußball 1945 wieder aufgenommen wurde, stand Eley wieder auf der Tribüne.
Nun könnten all diese Serien reißen.