Das Ende von Joachim Löw ist auch der Anfang von Hansi Flick: Was das deutsche Nationalteam von der U21-Mannschaft lernen kann, welche Rolle Flick dabei spielen könnte – und (hüstel!) was die deutsche Tugenden damit zu tun haben.
„Endlich wieder deutsche Tugenden“, sagte Joti Chatzialexiou kürzlich am Telefon, als es um die U21-Nationalmannschaft ging, die wenige Tage zuvor Europameister geworden war. Man hätte so einen Satz von ihm eigentlich als allerletztes erwartet, schließlich ist Chatzialexiou als Cheftrainer Nationalmannschaften eines der Masterminds hinter der DFB-Akademie, die nach ihrer Fertigstellung eine Mischung aus Gehirn und Hochschule des deutschen Fußballs werden soll. Außerdem versucht er zur Zeit eine revolutionäre Veränderung der Nachwuchsarbeit durchzusetzen, bei der kein Stein auf dem anderen bleibt. Es geht dabei von der überarbeiteten Trainerausbildung bis zu einer komplett umgekrempelten Ligastruktur darum, wieder mehr Weltklassespieler auszubilden. Bekanntlich ist das, besonders bei Innen- und Außenverteidigern, bei Mittelstürmern und erstaunlicher Weise auch bei Torhütern, zuletzt ins Stocken geraten, wie wir teilweise schon bei der Europameisterschaft sehen konnten.
Dass einer wie Chatzialexiou mit „deutschen Tugenden“ um die Ecke kommt, ist auf den ersten Blick also überraschend, weil das ja schon lange entweder ein Kampfbegriff von Fußball-Reaktionären oder eine hilflose Formel für jene ist, die Fußball als reine Mentalitätsfrage sehen. Zudem verweisen sie auf eine Zeit, in der deutsche Mannschaften zwar gruselig spielten, aber nach Abpfiff trotzdem stolz auf ihre dreckigen, durchgeschwitzten Trikots zeigten. Also eine eigentlich überwundene Zeit. Chatzialexiou sagte das zwar vor Beginn der gerade laufenden Euro, doch im Lichte des deutschen Scheiterns im Achtelfinale fällt der Blick auf diese Tugenden anders aus.
Chatzialexiou bejubelte die U21-Mannschaft, weil sie das Publikum begeistert hatte. Wer nur etwas Herz für Fußball hatte, musste sich in die Begeisterungsfähigkeit der Spieler verknallen, ihren Hunger und ihre Lust auf Siege. Sie zelebrierte einen Mannschaftsgeist, der jeden vor dem Fernseher nur elektrisieren konnte. Und draußen stand Trainer Stefan Kuntz wie ein Papa, der vor Stolz platzte. Wenn man mit ihm heute darüber spricht, sagt er lachend: „Ich habe mich auch in diese Mannschaft verliebt.“ Dann erzählt er, dass er seinen Spieler Angebote gemacht hat, damit sie zu der Mannschaft werden konnten, die sie wurden. „Aber die Spieler mussten sie auch annehmen.“ Sie taten es.
In die deutsche Nationalmannschaft hat sich in den vergangenen Wochen vermutlich niemand verliebt. Wer es mal war, litt still oder fluchend. Nie löste sie ein Gefühl von „das-Gesamte-ist-größer-als-die Summe-der-Einzelteile“ aus, sondern ständig wirkte alles, als ob die Einzelteile nicht richtig ineinander gestöpselt waren. An Bereitschaft fehlte es den Spielern bestimmt nicht, man sah sogar Toni Kroos grätschen, aber letztlich war alles zu verkopft, verkompliziert und vermurkst.
Es gab mal Zeiten, in denen das Publikum hierzulande in Löws Nationalmannschaft mindestens so verliebt war wie heute in die U21-Mannschaft. Bei der WM 2010 etwa und vier Jahre später erst recht, aber irgendwann verschwand dieses Gefühl. Nicht mit einem lauten Knall, sondern schleichend. Der Fußball war oft trotzdem noch gut, aber er entemotionalisierte sich im gleichen Maße wie der Bundestrainer zu einer sphärischen Erscheinung wurde, entrückt auf Mount Jogi. Man wird kaum einen Spieler finden, der schlecht über Löw spricht, dazu ist er stets ein zu freundlicher Mensch gewesen. Aber er entzündete seine Mannschaften nicht mehr.
Vermutlich wäre Stefan Kuntz sein Nachfolger als Bundestrainer geworden, was zweifellos interessant geworden wäre. Aber dann kam Hansi Flick. Bzw. er ging – weg vom FC Bayern. Seine Geschichte ist eine der erstaunlichsten der letzten Jahre im deutschen Fußball. Als er im Herbst 2019 bei den Bayern den Trainerjob von Niko Kovac übernahm, gab es kaum jemanden, der sich hätte vorstellen können, dass er es länger als ein paar Wochen bleiben würde. Ganz abgesehen davon, dass er das Triple gewinnen würde. Flick hielt nämlich so ziemlich jeder im deutschen Fußball für einen braven Mann der zweiten Reihe, und dann so was.
In vielerlei Hinsicht unterschätzt, auch in seiner Härte: Hansi Flick
Was viele übersehen hatten, oder Flick gut versteckt hatte, war der Glutkern, der in diesem Mann steckt. Das sah man spätestens, als der Krieg mit Hasan Salihamidzic begann und letztlich auch der mit dem FC Bayern. Bei Deutschlands größtem Klub sind Trainer im Prinzip immer Dienstleister bei der Beschaffung von Siegertrophäen gewesen, und dementsprechend rumgeschubst worden, selbst wenn sie Ottmar Hitzfeld oder Luis van Gaal hießen. Die meisten Coaches haben sich dem gefügt, doch der ewige Hansi wehrte sich mit erstaunlicher Härte und ging gefühlt als Sieger. War das eigentlich vorher schon mal jemandem gelungen?
Auf dem Weg zum Gewinn der Champions League hatte sein Team eine Bedingungslosigkeit entwickelt, die der deutschen Nationalmannschaft in den letzten Jahren fehlte. Und es besteht die berechtigte Hoffnung, dass man sie bald wieder sehen wird. Denn letztlich sind Mannschaften immer auch Abbild ihrer Trainer, deren Ideen und Persönlichkeiten. Löw war ein milder Moderator einer Generation großer Talente, Flick hingegen ist emotionaler, unbedingter, und das kann jetzt nur gut sein. Vermutlich wird er seinen Spielern andere Angebote machen als Löw das tat. Man wird dann sehen, ob sie diese dann so gut annehmen wie die U21-Mannschaft jene von Kuntz.
Die aktuelle Europameisterschaft hat daran erinnert, dass der Fußball der Nationalmannschaften bei großen Turnieren eher in hysterisches Durcheinander führt und in wildere Schlachten als der Vereinsfußball. Die Schweizer haben dieses Tohuwabohu angenommen, die Spanier ebenfalls, die Kroaten, die Italiener und vor allem die Dänen im Nachgang des Eriksen-Dramas. Diese Mannschaften stellten darüber eine Verbindung zum Publikum her, die bei uns inzwischen fast komplett verschwunden ist.
Es ist schon wahnsinnig viel darüber debattiert worden, wie die neue deutsche Nationalmannschaft unter Flick aussehen wird. Ob sie sich dem Pressingspiel des FC Bayern annähert (höchstwahrscheinlich), ob die Alten weiter gebraucht werden (teils teils) und oft es überhaupt genug gute Spieler gibt (klar, aber nicht auf jeder Position). Doch diese Fragen sind alle nachrangig, denn Flicks wichtigste Aufgabe wird es sein, all seine Entscheidungen so zu treffen, dass ein erloschenes Feuer wieder angefacht wird. Und sich das Publikum wieder verliebt.