Es ist trist auf dem Flur vor den Umkleidekabinen. Ein leises Plätschern aus den Duschräumen, sonst herrscht Stille. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, wer hier lang läuft, kommt automatisch ins Schwitzen. Am Ende des Korridors liegt die Schiedsrichterkabine, eng und spartanisch eingerichtet. Auf einer schlichten Holzbank sitzt Cem Yazirlioglu. Er schnürt die Schuhe, schließt die Augen und geht noch mal in sich. Höchste Konzentration. Dann steht er auf und verlässt die Kabine. Ein Schiedsrichter wie jeder andere. Kein Schiedsrichter wie jeder andere. Einsachtunddreißig.
Cem Yazirlioglu ist einer von 80 000 Fußballreferees in Deutschland. Der 23-Jährige ist in Berlin geboren und aufgewachsen, seine Wurzeln hat er in der Türkei. Eine ganz normale Biografie in der Hauptstadt. Eines allerdings ist an Cem besonders: Er ist der kleinste Schiedsrichter Deutschlands. „Jeder Mensch hat irgendeine Art Handicap“, sagt er. „Aber nicht jeder kann damit leben.“ Wenn Cem mit seinen 1,38 Metern Körpergröße in der Schiedsrichterkluft und mit dem Spielball in der Hand den Platz betritt, erntet er oft zweifelnde Blicke. „Wie will der denn alles sehen?“ Oder: „Der kann sich doch gar nicht durchsetzen, der Kleine.“ Das sind Sätze, die er häufig zu hören bekommt. Doch solche Sprüche spornen ihn erst richtig an. Lautstark macht er auf sich aufmerksam und fragt, ob der Schmuck abgelegt worden sei. „Auch die Intim-Piercings?“ Gelächter unter den Spielern, durchaus gewollt. Oft baut Cem Yazirlioglu einen Gag in die Begrüßung der Sportler ein, um die Stimmung zu lockern. So möchte er von sich und seiner Statur ablenken, und auch seinem Gegenüber die Verunsicherung nehmen. Trotzdem macht er von Beginn an klar, wer hier die Autorität auf dem Platz ist.
Er benötigt mehr Schritte als andere
„Ich habe eine klare Linie. Meckereien ahnde ich umgehend mit der Gelben Karte, verstanden?“ Dann pfeift er an. Gleich zu Beginn ein Konter – jetzt geht es schnell. Der Referee muss immer auf Ballhöhe sein, und dazu benötigt Cem viel mehr Schritte als die Spieler oder andere Schiedsrichter. Topfit muss er deshalb sein, und das ist er. Der Angriff verpufft, weil ein Stürmer im Abseits steht. Gut gesehen, Schiri! Yazirlioglu, der einer christlichen türkischen Gemeinde angehört, lebt von seinem Selbstbewusstsein. Er beschreibt sich selbst als „lustigen und lebensfrohen jungen Mann, der sagt, was er denkt“. Wenn er etwas nicht will, dann ist das Mitleid. „Wofür denn? Es gibt viele, die nicht das machen können, was ich mache.“
Der Berliner ordnet den Warenverkehr in einem Berliner Restaurant und ist als Fernseh- und Opernkomparse gefragt. Hypochondroplasie ist die häufigste Form des Kleinwuchses und erblich. Als Cems Spielkameraden mit den Jahren immer größer wurden und er weiter klein blieb, kam ihm eine erste Ahnung. Sein ebenfalls kleinwüchsiger Vater nahm ihn dann oft an die Hand und ging mit ihm spazieren. Cem sollte so früh wie möglich lernen, wie es ist, beobachtet zu werden. Heute mag er das Leben im Rampenlicht.
Plötzlich Aufregung auf dem Platz: Nach einem vermeintlichen Foul im Strafraum erfolgt zum Leidwesen des Angreifers kein Elfmeterpfiff. Für das folgende Gezeter hat der Pfeifenmann kein Ohr und zückt umgehend die Gelbe Karte. Klare Linie.
Um den Überblick zu behalten, braucht er andere Strategien
Cem Yazirlioglu ist Schiedsrichter geworden, weil er ein „Fußball-Junkie“ ist, wie er selbst sagt. Das Fußball-ABC lernte er bei den D‑Junioren des Berliner SV 92, von dort ging es weiter zu Hertha Zehlendorf. Seine Mit- und Gegenspieler wuchsen allerdings immer weiter, weshalb er in der C‑Jugend seinen Stammplatz verlor. „Besonders bei hohen Bällen sah ich schlecht aus“, erinnert er sich. Also schlug er einen anderen Weg ein, ohne seine große Liebe, den Fußball, zu verraten. Um auf dem Platz den Überblick zu behalten, muss Schiedsrichter Yazirlioglu andere Strategien anwenden als die übrigen Pfeifenleute. Wäre er noch näher dran am Geschehen, würde er unmittelbar in den Clinch um das Leder involviert. Als gelernter Innenverteidiger scheut er den Körperkontakt jedoch nicht, und wenn er doch mal den Ball berührt: Der Schiri ist Luft.
Cems Ziel ist es, irgendwann in der Regionalliga Spiele zu leiten. Unmöglich ist das nicht. 2005 hat er den Schiedsrichterschein gemacht und sich bereits von der Jugend bis zur Leitung von Herrenspielen hochgearbeitet. In der Berliner Landesliga war er des Öfteren als Assistent mit von der Partie. Regelmäßig nimmt er an Fortbildungsabenden teil, die der FIFA-Schiedsrichter Manuel Gräfe leitet. „Cem ist eine sehr positive Erscheinung im Schiedsrichterwesen“, lobt Gräfe. „Der Junge geht seinen Weg.“
Hier ein Plausch, da ein Lacher
Das Spiel ist aus. Nur eine Gelbe Karte hat es gegeben, und die wegen Meckerns. Die Akteure beglückwünschen Cem zu einer souveränen Leistung. Mit breiter Brust verlässt er den Rasen und geht zurück in seine Kabine. Hier ein Plausch, dort ein Lacher. Plötzlich wirkt es gar nicht mehr so trist und einsam da unten. Cem Yazirlioglu geht unter die Dusche. Und irgendwie fühlt er sich unter dem wärmenden Strahl richtig gut.