Jürgen Klinsmann gilt in der Riege der Bundestrainer als Reformer, Jogi Löw als Veredler, doch die Grundlagen für den Umbruch, von dem der DFB bis in die Gegenwart zehrt, legte der Teamchef Rudi Völler. Zu seinem 60. Geburtstag erinnern wir an Völlers schaurig-schöne Zeit als Verbandstrainer.
Als Christian Rahn aus der Dusche des Laugardalsvöllur trat, blinkte das Mobiltelefon. Wieder und wieder erzitterte das Gerät unter den eintreffenden Textnachrichten. Fragen aus Deutschland: „Was ist bei euch denn los?“ „Wart ihr wirklich so schlecht?“ Ein karges Unentschieden auf Island. Mit Ruhm hatte sich die DFB-Elf wahrlich nicht bekleckert. Aber was beunruhigte seine Bekannten so? Dann öffnete jemand die Tür der Umkleide und Rahn ahnte, was die Botschaften aus der Heimat zu bedeuten hatten. Wenige Meter von der Kabine entfernt, hatte die ARD ihr TV-Studio aufgebaut, und von dort hörten die Nationalspieler ihren sonst so gelassenen Teamchef live vor den Kameras wüten: „So ein Käse. Ich halte das nicht mehr aus, ich bin keiner, der hier an seinem Sessel festklebt wie der Ribbeck oder Vogts früher. Ihr müsst mal endlich vom hohen Ross runterkommen, früher … Was hat denn der Günter früher für einen Scheiß gespielt? Standfußball war das. Alles in den Dreck zu ziehen, ist für mich unterste Schublade.“
Rudi Völler spuckte die Sätze wie Verschimmeltes aus. Aus seinen Augen blitzte die kalte Abscheu, die deutsche Fans zuletzt im WM-Achtelfinale 1990 gesehen hatten, als Frank Rijkaard im San Siro eine Speichelsalve in Völlers Lockenpracht versenkt hatte. Sein Käsescheißdreck-Monolog von Reykjavik ging als „Weißbier-Rede“ in die Geschichte ein. Zehn Jahre ist das jetzt her. Doch die Vorstellung von einer Nationalelf unter dem Trainer Rudi Völler fühlt sich sehr viel weiter entfernt an.
September 2003. Die DFB-Elite reiste noch in wallenden Trainingsanzügen aus Ballonseide, statt in Maßanzügen. Die Regeln diktierte der antiquierte Verband. In den Quartieren althergebrachter Jugendherbergsmuff: Ausgangssperre und festgeschriebene Bettruhe. Die Öffentlichkeit verlangte nicht nach Titeln, man war froh, wenn das Team seine Würde behielt. Und im Vergleich zu den Fab Four, die Jogi Löw heute in seiner Abwehr rotieren lässt, las sich die Viererkette beim EM-Quali-Spiel in Island wie ein Bautrupp auf Dienstfahrt: Baumann, Wörns, Rahn, Friedrich. Bleierne Zeit des deutschen Fußballs, so kurz nach dem tragischen EM-Sommer 2000. Spiele so pixelig wie die neumodische Digitalfotografie. Rumpelfußball. Im kollektiven Gedächtnis sind die Völler-Jahre eine vergessene Ära. Eine Periode, aus der Ereignisse wie die Wutrede noch herausstechen: „Tiefpunkt, niedriger Tiefpunkt und noch ’n niedrigerer Tiefpunkt! Das ist eine Sauerei.“
Völlers Regentschaft als lose Aufeinanderfolge von Stilblüten zu klassifizieren, fällt nicht schwer: blamable Freundschaftsspiele gegen Rumänien (1:5 am 28. April 2004 in Bukarest) oder Ungarn (0:2 am 6. Juni 2004 in Kaiserslautern). Das sieglose Aus bei der EM 2004 in Portugal, wo die Tschechen eine 1:0‑Führung der DFB-Elf drehten und selbst die Letten nicht zu schlagen waren. Und natürlich das historische 1:5 in der Qualifikation zur WM 2002 am 1. September 2001 in München. Völlers Vater Kurt erlitt auf der Tribüne des Olympiastadions eine Herzattacke. Schwer zu beurteilen, wie sich die Medien nach dem Kantersieg der Briten verhalten hätten, wenn der Sport nicht durch den Schicksalsschlag zur Nebensache geworden wäre.
Dietmar Hamann bringt diese negative Lesart der Ägide eher zum Lachen. Seit 15 Jahren lebt er in England. Im September 2011 stand sein Telefon nicht mehr still. Britische Medien wollten ihn zum Jahrestag des Münchner Fiaskos sprechen. „Das ist das Problem des englischen Fußballs“, sagt er und es schwingt der coole Pragmatismus mit, mit dem die Nationalelf kurz nach der Jahrtausendwende zu Werke ging, „sie klammern sich zehn Jahre später an einen Sieg in der WM-Quali, der zwei Tore zu hoch ausfiel. Und als wir in Yokohama im WM-Finale standen, saß ihr Team schon seit zwei Wochen wieder zu Hause vorm Fernseher.“ Mit jeder Faser seiner 1,91 Meter verkörpert Hamann die optimistische Seite der Völler-Ära. Er war kein Spieler für die Galerie, kein Zauberer, kein Ästhet. Aber sein Tor beim 1:0‑Hinspielsieg gegen die Engländer in der WM-Quali war ein Erweckungsmoment für Völlers Team.
Der Teamchef war erst acht Wochen im Amt. Das letzte Match im alten Wembleystadion im Oktober 2000. Die große Frage: Würden die in ihrem Selbstwertgefühl tief getroffenen Deutschen in der Arena überhaupt ein Bein auf den Boden bekommen? Doch dann sorgte ausgerechnet der nervöse Schlaks auf der Staubsaugerposition für klare Verhältnisse. „Dieser Abend brachte uns die Erkenntnis zurück,“ sagt Hamann, „dass wir es doch noch konnten.“
Die Geburtsstunde einer Schicksalsgemeinschaft, die sich ihrer Defizite stets bewusst blieb. Überraschende Rochaden oder taktische Finessen konnte Völler sich schon deshalb nicht erlauben, weil ihm schlicht das geeignete Personal fehlte. Auch seine Berufung ins Traineramt war eher ein Provisorium, das dem Mangel an geeigneten Kandidaten geschuldet war. Der DFB wollte Christoph Daum als Bundestrainer. Doch als Coach in Leverkusen war er erst nach der Saison 2000/01 verfügbar. Deshalb schlug DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder vor, Bayer-04-Sportdirektor Völler solle aufgrund der räumlichen Nähe Daum vorübergehend vertreten. Eine clevere Idee: Schließlich erfreute sich kaum ein deutscher Fußballer republikweit ähnlicher Beliebtheitswerte. Wer, wenn nicht Völler, konnte der abgehalfterten DFB-Elite neue Sympathiepunkte einbringen? „Meine Aufgabe bestand anfangs darin“, so Völler, „wieder für bessere Stimmung zu sorgen und erfolgreich in die WM-Quali zu starten.“