2018 qualifizierte sich der F91 Düdelingen aus Luxemburg für die Europa League – und traf in der Gruppenphase auf den AC Mailand, Olympiakos Piräus und Betis Sevilla. Wir haben den Dorfklub damals begleitet.
Der Text erschien erstmals in 11FREUNDE #205. Die Ausgabe ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Irgendwann am frühen Nachmittag hat Dino Toppmöller genug von dem Rummel. Seit 48 Stunden hält ihm irgendjemand ein Mikrofon vor das Gesicht und fragt ihn etwas. Hat der Großherzog schon angerufen? Kann Düdelingen morgen auch den AC Mailand schlagen? Die Reporter sind überall, beim Training, im Stadion, in den Katakomben. Sie kommen nicht nur aus Luxemburg, sondern auch aus Deutschland, Frankreich und England. Vorhin durften einige sogar an der Videoanalyse für das Spiel gegen Milan teilnehmen.
Toppmöller, seit zwei Jahren Trainer des F91 Düdelingen, war da gut drauf. Er zeigte einen mustergültigen Angriff der Italiener, drückte seine Unterlippe nach vorne und sagte: „Sieht schon nach Fußball aus.“ Aber nun reicht es. Vorstandsmitglied Manou Goergen verschickt eine Mail: „Der Trainer hat uns informiert, dass er heute keine Medien mehr beim Team haben möchte.“
Es ist Donnerstag, der 20. September 2018, 14.19 Uhr, und übereilt ist diese Ansage nicht. Denn bis zum Spiel ihres Lebens sind es nur noch sechs Stunden und 41 Minuten.
Eigentlich ist eine Geschichte wie die des F91 Düdelingen in der heutigen Zeit nicht mehr möglich. In der neuen Weltordnung des Fußballs ist kein Platz mehr für die Kleinen und Sensationen dieser Art. Das hat mit der Qualität der Spieler zu tun, den Strukturen der Vereine, also letztlich mit der bekannten Riesenschere zwischen Arm und Reich. Schon jetzt liegt zwischen dem, sagen wir, Meister der holländischen Liga und dem der Primera Division ein ganzes Universum. Aber manchmal erlaubt sich der Fußballgott noch einen Scherz. Wie vor zwei Jahren, als Leicester die Premier League gewann und Island bei der EM ins Viertelfinale kam. Oder eben wie in diesem Sommer in einer Kleinstadt im Süden von Luxemburg.
Allein schon dieser drollige Name! Auf Französisch heißt es Dudelange, luxemburgisch Diddeleng und deutsch Düdelingen. Als hätte sich Michael Ende einen Namen für ein Märchenland ausgedacht. Und ausgerechnet dieses Märchenland hat es als erster Luxemburger Verein in die Europa League geschafft. Mit Feierabendkickern und Studenten, die nach dem Abpfiff für die nächste BWL-Prüfung lernen müssen. Mit einem verrückten Mäzen, der ständig damit droht, den Verein zu verlassen. Und einem Präsidenten, der auf Auswärtsfahrt noch Autoversicherungen verkauft.
Ist das hier also die Gegenerzählung zum Turbokapitalismus der großen Ligen? Ist Düdelingen der neue Sehnsuchtsort für Fußballromantiker?
Düdelingen liegt unmittelbar an der Grenze zu Frankreich, nur 15 Kilometer südlich von Luxemburg-Stadt. Mit dem Bus geht es vorbei an Kockelscheier, dann kommt Bettembourg, und von dort tingelt eine Bahn nach Dudelange Ville. 20.000 Menschen leben hier, viele haben italienische Vorfahren, die schon Ende des 19. Jahrhunderts hierher kamen, um in den Gruben und Hüttenwerken zu arbeiten.
An einem steilen Hügel befindet sich das Stade Jos Nosbaum, 4650 Zuschauer passen rein, in den Kabinen stehen Holzbänke, an der Wand hängen Haartrockner, die aussehen wie vergessene Requisiten eines Science-Fiction-Filmsets aus den Sechzigern. Die Haupttribüne wird von Holz und Wellblech zusammengehalten. Der Verein wünscht sich natürlich ein modernes Stadion, mit überdachten Tribünen, gutem Rasen. „Schauen Sie hier“, sagt Theo Fellerich und drückt eine Schuhspitze leicht in den Boden. „Wir haben Würmer. Schon seit Jahren!“
Fellerich, 75 Jahre alt, weißes Haar, graue Schläfen, etwas zu großes braunes Tweedsakko, ist Ehrenpräsident und so etwas wie das Klubfossil. Schon seit Mitte der Neunziger ist er dabei, kurz nachdem CS Alliance, CS Le Stade und US Düdelingen zum F91 fusionierten. Natürlich ehrenamtlich, wie außer den Trainern und Spielern alle im Verein.
Zwei Qualifikationsspiele zur Europa League konnten die Düdelinger im wurmgeplagten Jos-Nosbaum-Stadion austragen, danach mussten sie, so forderte es die UEFA, ins größere Josy-Barthel-Stadion in Luxemburg-Stadt umziehen, wo 8000 Zuschauer Platz finden. Modern ist auch diese Betonschüssel nicht, es gibt etwa nur eine Toilette – für beide Teams. „Die Rumänen haben sich ständig beschwert“, erzählt Fellerich vom Play-off-Hinspiel gegen Cluj, das Düdelingen 2:0 gewann. „Über die Toilettensituation oder die fehlende Klimaanlage. Am Ende sagten sie: ‚Wartet nur ab, ihr kommt ja noch zu uns!‘“ Düdelingens Spieler ließen sich aber nicht verunsichern und gewannen auch das entscheidende Rückspiel, am Ende applaudierten sogar die rumänischen Fans.
In der Nacht wurden die Helden am heimischen Flughafen von rund 30 Freunden und Verwandten empfangen. Einige hielten selbstgebastelte Masken mit dem Gesicht von Fan-Liebling Joe Frising hoch. In Deutschland ist vermutlich auf jeder Aufstiegsfete eines Volleyball-Bezirksligisten mehr Rambazamba. In Luxemburg, dem Land der Finanzdienstleister, wo die Dinge eher pragmatisch betrachtet werden, ging das als Gefühlsexplosion durch. Am Tag darauf bescherte die Europa-League-Auslosung den Düdelingern eine Traumgruppe: Olympiakos Piräus, Betis Sevilla, AC Mailand. „Wir versuchen, den ein oder anderen Großen zu ärgern“, sagte Toppmöller.
Nun also ist der AC Mailand in der Stadt, der 18 Meisterschaften gewonnen hat und 14 Europapokale. Am Abend vor dem Spiel erscheint der Mann, der sich einmal „hässlich wie die Schulden“ nannte, pünktlich zur Pressekonferenz am Josy-Barthel-Stadion. Er sieht aus wie eine Figur aus einem Scorsese-Film. Zur schwarzen Hose trägt er schwarze Schuhe und ein schwarzes Hemd. Auf dem schwarzen Designerjackett prangt das gestickte Wappen des AC Mailand. Er betritt den Pressebereich, ein provisorisches Zelt, das sie neben dem Stadion aufgebaut haben, und die Journalisten schauen ihn an wie den Propheten aus dem gelobten Fußballland. Signore Gattuso, fragt einer, kennen Sie überhaupt einen Spieler aus Düdelingen? Gennaro Gattuso, Weltmeister, Champions-League-Sieger und heute Trainer des AC Mailand, ist auf die Frage natürlich vorbereitet. Er sagt: „Danel Sinani hat einen phantastischen linken Fuß.“ Und dann: „Es wird sehr schwer für uns werden.“ Zwei großartige Zeilen für die morgigen Ausgaben der lokalen Tageszeitungen, das „Tageblatt“ und das „Wort“ drucken sie stolz auf ihre Sportseiten.
Vor dem Zelt telefoniert Manou Goergen. Er ist einer der wenigen im Vorstand, der nicht im Rentenalter ist. Ein motivierter junger Mann, 28 Jahre, mit akkurater Seitenscheitelfrisur und Karohemd. Vor einigen Jahren schrieb er seine Masterarbeit über die Entwicklungschancen des luxemburgischen Fußballs. Dafür interviewte er auch Mitarbeiter des F91, die ihn gleich dabehielten. Ehrenpräsident Fellerich sagt über ihn: „Er kennt sich mit vielen Dingen aus, mit dem Internet, mit E‑Mails, es ist gut, dass wir ihn haben.“ Denn es ist wirklich einiges anders als bei einem gewöhnlichen Ligaspiel gegen Progres Niedercorn oder Etzella Ettelbrück. Goergen empfängt Männer, die Titel tragen wie UEFA Broadcast Manager oder UEFA Venue Director. Er sorgt dafür, dass die richtigen Sponsorennamen und das Logo der UEFA Europa League zu sehen sind. Er spricht mit den Delegationen der großen Vereine. Er ist die Zukunft des Klubs. „Schon viel los“, sagt er lässig.
Neben ihm steht das alte Düdelingen, ein Mann mit Hartschalenkoffer, brauner Cordhose und grauem Anorak. Richard Müller, Typ Vertreter auf Durchreise, noch so eine Vereinslegende. Er drückt seinen Rücken durch und verkündet im zackigen Ton, dass er in seinem Leben rund 21.000 Akkreditierungen laminiert und gelocht hat. „Alles in Handarbeit! Mit einer speziellen Maschine!“ Dann übergibt der Profi-Laminierer sie den Reportern aus Deutschland und sagt: „Ganz schön viele von euch sind diesmal über die Mosel gekommen. Wo kann ich Ihren Report lesen?“