Große Finalspiele liefern Sätze oder Satzfetzen für die Ewigkeit. Von „Aus dem Hintergrund müsste…“ über „Lupfen… jetzt“ bis „Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi.“ Nach diesem Pokalendspiel 2018 wird sich jener Dialog ins kollektive Fußballer-Gedächtnis einbrennen, den Kevin-Prince Boateng noch betrunken auf dem Frankfurter Römer rezitierte. Vor dem Spiel hatte ihm der Stürmer Ante Rebic gesagt: „Bruda, schlag der Ball lang!“ Boateng: „Und ich habe gesagt: ‚Bruda, ich schlag der Ball lang.‘“
Das ist einerseits so formschön, weil eben Boateng der Ball lang geschlagen hatte und sein Bruda Rebic auf diese Art im Pokalendspiel zum 1:0 (und später ähnlich zum 2:1) getroffen hatte. Und zweitens steht der Wortwechsel so charakteristisch für diese Mannschaft: Eintracht Frankfurt trat vor allem im Endspiel wie eine Familienbande auf.
Lukas Hradecky versiegelte sein Tor gegen so viele Bälle bis zum Pokalsieg, wie er hinterher Bierflaschen in bester Maurer-Manier öffnete. Boateng reichte ihm auf dem Römer das Mikro und freute sich geifernd auf Hradeckys Deutschkünste. „Du Wichser“, sagte der auf eine Weise, wie sich nur Leute lächelnd beleidigen, die sich wirklich mögen. „Legendärischer Tag“, sagte Hradecky und es hörte sich korrekt an, wie ein angemessener Komparativ von „legendär“.
Die Heldengrätsche von Hasebe
David Abraham hatte im Finale wieder alles aus dem Strafraum abgewehrt und weggeräumt und war in den letzten Minuten einfach so weit in den Bayern-Strafraum gerannt, als wollte er diesen Pokalball schon bis ins selige Bundesland Hessen tragen. Er sang auf dem Römer-Balkon herzhaft die Eintracht-Lieder mit und wippte zum famosen A cappella-Gesang „Tschu-Tschu-Lagerboogie“ des Torwarttrainers.
Makoto Hasebe, ein Feingeist auf dem Platz, der daheim tatsächlich Nietzsche liest, hatte in der 68. Minute des Finales das grobe Handwerk ausgepackt: Er hatte sich in den Weg des Bayern-Angeifers Tolisso geworfen und beim Stand von 1:1 das sichere Gegentor abgewehrt. Danach sackte er verletzt zusammen. Es war, so viel Pathos muss gestattet sein, eine Heldengrätsche. Zwischen all den besoffenen Feierbiestern auf dem Balkon reagierte Hasebe in der ihm eigenen Ekstase mit einem Lächeln.
Der Finne Hradecky, der Argentinier Abraham, der Kroate Rebic, der Japaner Hasebe, dazu die anderen Spieler aus mehr als einem Dutzend verschiedener Nationen – der ganze Balkon ein Karneval der Kulturen. Dazu noch Marco Russ, der vor zwei Jahren in der Relegation gegen den Frankfurter Abstieg von seiner Krebserkrankung erfahren und der Krankheit später unter dem Motto den Garaus gemacht hatte: „Tumor ist, wenn man trotzdem lacht.“
Fußballgott Alex Meier, der „elder statesman“, der das Rampenlicht wohl noch mehr hasst als vergebene Torchancen, stimmte tatsächlich ein Liedchen gegen die ungeliebten Nachbarn an. Und der eigentlich für nicht mehr erstligatauglich diagnostizierte Boateng schwenkte als „Leader of the Pack“ das Mikro und die Bengalos. Wer sich diesen wabernden Balkon anschaute, konnte nicht anders, als zu denken: Wow, was für eine Band!
Atletico oder Real Frankfurt
Eine, der nicht jeder ohne Zögern seinen Wohnungsschlüssel fürs Wochenende überlassen würde. Aber eine, die jeder bei Kneipenschlägereien liebend gerne um sich hätte. Eine Mannschaft für K.O.-Spiele, die nicht ohne Grund zwei Mal hintereinander das Pokalendspiel erreichte. Die aber auch selbst zu Saisonende k.o. schien, aufgrund des Kraftaufwands der Saison und der stundenlangen Trainingseinheiten von Niko Kovac. Die Eintracht war hart zu sich und zum Gegner. Sie hatten in der Saison und im Finale gespielt wie Uruguay, dreckig oder besser auf hessisch „dreggisch“, an der Grenze des Erlaubten, aber eben nicht undiszipliniert, im Zweikampf nicht und in der taktischen Ordnung nicht.
Selbst Vergleiche mit Madrid drängten sich im Pokalendspiel auf: weil sie wie Atletico den Gegner 90 Minuten aufzehrten und wie Real die Bayern in einigen Sekunden mit schnellen Umschaltmomenten ausspielten. Die individuellen Fehler der Münchner, in der Champions League und im Pokal, entstanden eben durch das Pressing des Gegners. Das Finale war der letzte große Frankfurter Kraftakt, mehr ging nicht. Das wussten auch die beiden Männer, die diese Mannschaft zusammen- und aufstellten. Trainer Niko Kovac sagte: „Wir wissen, wo wir herkommen. Das muss gefeiert werden, so etwas passiert nicht so oft im Leben.“ Und Manager Fredi Bobic ergänzte: „So ein Pokalsieg ist für Eintracht Frankfurt historisch.“
30 Jahre lang Warten
Bobic hatte noch nie in seiner ganzen Karriere, 39 Spiele lang, gegen die Bayern gewonnen. Eintracht Frankfurt hatte „30 years of hurt“ nach dem letzten Titel hinter sich. Abstiege, verlorene Meisterschaften, Fausthiebe auf Mitgliederversammlungen und Michael Skibbe. Spätestens nach Kovac‘ Wechselverkündung schwante den Fans ein erneuter Einbruch der launischen Diva – wie einst nach den Weggängen von Yeboah und Okocha.
Das Warten der Eintracht-Fans auf einen Triumph war lang, aber wie sie in Hessen sagen: „Jed Dippche find sei Deckelsche“. Und diese Mannschaft, diese Pokalsieger-Gang, war das Deckelsche, der Deckel auf den Topf von Frankurt. Sie passte wie perfekt zur Stadt, tough und smart, hedonistisch und liebevoll, eine Band von Brudas. Und den Namen der Band hat die Frankfurter Fanszene dieses Jahr erst wieder auf Plakaten festgehalten: die „United Colors of Frankfurt“.