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Dieser Text erschien erst­mals in 11FREUNDE #61.

Kazi­mierz Górski, Trainer der pol­ni­schen Natio­nal­mann­schaft, blickt erst auf die Uhr, dann zur eng­li­schen Reser­ve­bank. Dort bereitet sich gerade ein wei­terer Stürmer auf seine Ein­wechs­lung vor, schei­tert aller­dings beim Ver­such, sich seiner Trai­nings­hose zu ent­le­digen. Die Nerven des Betreu­er­stabes der Eng­länder liegen blank. Górski steht der­weil auf und geht ein­fach. In den ver­blei­benden zwei Spiel­mi­nuten mag er nicht mehr mit ansehen, wie hilflos sich die Eng­länder ange­sichts der bevor­ste­henden Bla­mage geben, er will sich von der Hektik nicht anste­cken lassen. Viel­leicht ist es aber auch eine Frage des Anstands. Eng­land, Welt­meister von 1966 und Wiege des Fuß­balls, genießt schließ­lich höchstes Ansehen in Polen. Und das Wem­bley-Sta­dion, wo die pol­ni­sche Natio­nal­mann­schaft gerade mit aller Macht den letzten, wütenden Angriffen des Geg­ners trotzt, gilt in diesem durch und durch katho­li­schen Land als Hei­ligtum. Als der Schluss­pfiff ertönt, befindet sich Górski schon in gebüh­rendem Abstand zur eng­li­schen Bank, auf halbem Weg zur Kabine, hinter dem Tor. Ich wollte meinen Spie­lern ent­ge­gen­kommen“, begründet Górski später den Per­spek­tiv­wechsel. Das ent­schei­dende Qua­li­fi­ka­ti­ons­spiel endet 1:1, und dieses Ergebnis genügt den Polen, um nach 36 Jahren wieder eine WM-End­runde zu errei­chen. Die Eng­länder hin­gegen bleiben 1974 daheim.

Das sieg­reiche Remis von Wem­bley“ ist seit dem 17. Oktober 1973 nicht mehr aus dem pol­ni­schen Sprach­ge­brauch weg­zu­denken. Es war zugleich der Grün­dungs­my­thos einer Elf, die schon in Eng­land mehr erreicht hatte, als ihr selbst der eigene Anhang zuge­traut hatte. Dabei sollte der große Coup, bei der End­runde in Deutsch­land, erst noch kommen. Nie­mand hatte die Polen 1974 auf der Rech­nung – sie wurden schlicht unter­schätzt. Der Olym­pia­sieg von 1972 und der Tri­umph über Eng­land waren von der dama­ligen Fuß­ball­welt unbe­merkt geblieben oder leicht­fertig als Zufall abgetan worden. Für die Polen kam die WM genau zum rich­tigen Zeit­punkt. Einer­seits kickten alle Natio­nal­spieler in der hei­mi­schen Liga, da Aus­lands­trans­fers erst nach Voll­endung des 30. Lebens­jahres erlaubt waren; Górski konnte also auf ein­ge­spielte Blöcke zurück­greifen. Ande­rer­seits befand sich das Land gesell­schaft­lich im Umbruch. Die gol­dene Ära im Fuß­ball ging einher mit einem gestei­gerten Selbst­be­wusst­sein der Bevöl­ke­rung und dem Glauben an einen mensch­li­chen Kom­mu­nismus“.

Lieber 6:5 als 1:0

Doch so sehr sich die Politik auch mühte, den Fuß­ball für ihre Zwecke aus­zu­schlachten, sie kam gegen die Popu­la­ri­täts­werte eines Kazi­mierz Górski nicht an. Der dritte Platz bei der Welt­meis­ter­schaft war vor allem das Ver­dienst des Trai­ners des Jahr­tau­sends“, wie die Tages­zei­tung Gazeta Wyborcza“ den 2006 ver­stor­benen Górski posthum ehrte. Er war ein Mann großer Worte in schlanker Aus­füh­rung, ein Typ wie Sepp Her­berger, der aus dem Fuß­ball­sport nicht mehr machte als das, was er ist: Ein Spiel, das jene Mann­schaft gewinnt, die am Ende ein Tor mehr schießt.“

1971 hatte Górski den A‑Kader über­nommen, nachdem er zuvor 15 Jahre lang die pol­ni­schen Junioren betreut und viele der spä­teren WM-Stars ent­deckt hatte. Die Mann­schaft zeich­nete aus, was viele für sich rekla­mieren, aber nur wenige mit Leben erfüllen: Team­geist und Spaß am Spiel. Die Spiel­auf­fas­sung, die Górski seinem Team ein­impfte, nennt man heute hoch­tra­bend Phi­lo­so­phie. Polens Trainer sah die Dinge stets nüch­terner und sagte ledig­lich, dass ein Trainer keine Angst vor der Nie­der­lage haben darf. Er muss immer etwas ris­kieren.“ Ein spek­ta­ku­läres 6:5 war Górski allemal lieber als ein schnödes 1:0. 16 Tore erzielten die Polen im Tur­nier­ver­lauf, eines mehr als die nie­der­län­di­sche Tor­fa­brik. Allein sieben schoss der pfeil­schnelle Rechts­außen Grze­gorz Lato, der damit Tor­schüt­zen­könig der WM wurde. Gemeinsam mit Andrzej Szar­mach und Robert Gadocha bil­dete Lato die gefürch­tete Speer­spitze des pol­ni­schen Angriff­spiels. Von der ersten Minute an übte dieses Trio Druck auf die geg­ne­ri­sche Abwehr aus – man kann es auch Pres­sing nennen. Zu spüren bekamen dies u.a. die über­heb­li­chen Argen­ti­nier, die bereits nach acht Minuten mit 0:2 zurück­lagen und erst in der 55. Minute ihren ersten Tor­schuss abgaben.

Das Ende einer wun­der­baren Reise

Hinter den Spitzen agierte Kazi­mierz Deyna, der Kopf der Mann­schaft, der 1989 bei einem Auto­un­fall ums Leben kam. Er war ein fili­graner Tech­niker, der prä­zise und harte Pässe aus dem Fuß­ge­lenk spielen konnte, und dessen mit viel Effet getre­tene Stan­dards mit denen eines David Beckham ver­gleichbar waren. In der Abwehr ließ der groß gewach­sene Jerzy Gorgon nichts anbrennen. Unter­stützt wurde er durch den 20-jäh­rigen Wla­dyslaw Zmuda, den Górski vor dem Tur­nier aus dem Hut gezau­bert hatte. Und falls die Polen, wie in der zweiten Final­runde gegen Schweden, doch einmal in Bedrängnis gerieten, dann hatten sie auf der Linie einen, den die Eng­länder heute noch ehr­fürchtig the man who killed Eng­land“ nennen. Die unglaub­li­chen Reflexe von Jan Toma­szewski ebneten den Polen nicht nur den Weg nach Deutsch­land, son­dern waren auch maß­geb­lich für ihren Durch­marsch ver­ant­wort­lich. Der Tor­hüter hielt u.a. zwei Elf­meter – so schei­terte Uli Hoeneß an Toma­szewski in der legen­dären Was­ser­schlacht von Frank­furt“, in der die Polen unbe­dingt gewinnen mussten, um das Finale zu errei­chen.

Nach fünf Siegen in Serie gingen sie als Außen­seiter in die Partie gegen den WM-Gast­geber. Dann aber fielen kurz vor dem Anstoß binnen 22 Minuten 15 Liter Wasser auf den Qua­drat­meter und tau­ben­ei­große Hagel­körner aus dem Himmel über dem Frank­furter Wald­sta­dion. Auf dem durch­tränkten Rasen ging das schnelle Flü­gel­spiel der Polen baden. Noch heute wird in Polen dis­ku­tiert, ob die Partie hätte ange­pfiffen werden dürfen. Die Hoff­nung auf eine Fort­set­zung des Wun­ders wurde schließ­lich jäh von Gerd Müller beendet, dem eine Vier­tel­stunde vor Schluss das Tor des Tages gelang. Was blieb, war das Spiel um Platz 3, in dem es erneut Lato war, der den ver­söhn­li­chen Schluss­punkt einer für Polen bis heute unver­gess­li­chen Welt­meis­ter­schaft setzte. Es war das Ende einer wun­der­baren Reise, die acht Monate zuvor in Eng­land begonnen hatte.