Ein Bericht von Wolfgang Niersbach, 8. Juli 1982
Der Bogen spannte sich von selbst. „Mexiko“, sagte Franz Beckenbauer, „ich habe nur an Mexiko gedacht.“ Mexiko: Das war die Fußball-WM 1970, und das war das „Jahrhundertspiel“ zwischen Deutschland und Italien, das die Italiener nach 120 Minuten mit 4:3 gewannen. Ganze Bücher berichten von der Einmaligkeit des damaligen Ereignisses, und nun entstand da plötzlich in Sevilla eine Kopie, die kaum schlechter erscheint als das Original. Dieser 5:4‑Sieg der Deutschen im Elfmeterschießen gegen Frankreich, dieser dramatische FußbalIklassiker, dieser Spielfilm von Triumph und Trauer wird quasi als zweite Auflage des „Jahrhundertspiels“ in die Annalen eingehen.
Was sind Worte, sollen sie nur einigermaßen treffend ein Fußballspiel zwischen Deutschland und Franzosen beschreiben, das kein Dramaturg besser hätte inszenieren können? 50.000 Zuschauer erlebten ein Drama in fünf Akten.
Schumacher: „Es war wirklich keine Absicht“
Akt eins schien noch am ehesten für nervenschwache Gemüter gedacht zu sein: Littbarski schießt die Führung und Platini per Elfmeter den Ausgleich.
Akt zwei bringt den klassischen K.o. des Franzosen Battiston durch Torwart Schumacher („Es war wirklich keine Absicht“) und einen furiosen Schlussakkord als Amoros in der 90. Minute die Querlatte trifft, Fischer im Gegenzug denkbar knapp scheitert.
Akt drei: Tresor und Giresse erzielen zwei Tore, Trainer Hidalgo hüpft halb verrückt vor Freude an die Seitenlinie, und die französischen Schlachtenbummler intonieren ihr „Allez les Bleus“.
„Die Deutschen besitzen eine Kondition aus Stahl“
Niemand merkt, dass sich auf der Gegenseite ein Mann namens Rummenigge die Trainingsjacke auszieht und mit seiner Einwechslung den vierten Akt einleitet. Er steht unter dem Motto der Auferstehung einer fast schon aussichtslos geschlagenen Mannschaft. Rummenigge und Fischer schaffen das, was niemand für möglich hielt und Portugals ehemaligen Weltstar Eusebio sagen lässt: „Die Deutschen besitzen eine Kondition aus Stahl.“
3:3 also nach 120 Minuten, doch das Reglement kennt im Halbfinale kein Unentschieden mehr, so dass der fünfte und dramatischste Akt stattfinden muss. Elfmeterschießen – eine halsbrecherische Gradwanderung zwischen dem Aufstieg ins Finale nach Madrid und dem noch eher unbedeutenden Spiel um den dritten Platz nach Alicante. Schumacher und ausgerechnet Hrubesch, den einige wegen seiner Kritik an Jupp Derwall schon nach Hause schicken wollten, werden die Helden, stellen die Weichen nach Madrid. Stielike scheint der große Pechvogel zu sein, doch seine Kamderaden retten ihn, und so müssen die Franzosen Six und Bossis mit dem Makel leben, die größten Erfolge der französischen Verbandsgeschichte vergeben zu haben.
Als Hrubeschs Elfmeter ins Netz flog, erhob sich das spanische Publikum spontan von seinen Sitzen und klatsche Beifall. Auf der Tribüne überschlugen sich die Kommentare: „Wer vor Wochen die deutsche Mannschaft aufgeben hat, ist heute eines besseren belehrt worden. Wie sie nach dem 1:3‑Rückstand das Ruder herumgerissen hat, war einfach einmalig“, sagte DFB-Präsident Hermann Neuberger begeistert. „Rummenigge machte den Umschwung möglich“, lobte Franz Beckenbauer den Kapitän, der sich wegen seiner Verletzung zunächst vor der Einwechselung scheute (deshalb kam Hrubesch für Magath), nach dem Rückstand in der Verlängerung aber alle Bedenken über Bord warf.
Rummenigge bleibt keine Zeit, die Oberschenkelzerrung gründlicher auszukurieren: „Wenn man einmal im Leben die Chance hat, im WM-Finale zu stehen, dann spielt man auch mit einem Bein.“ Der Mannschaft bleibt keine Zeit, den Triumpf über Frankreich auszukosten. Weil schon am Sonntagabend um 19.00 Uhr im „Estadio Santiago Bernabeu“ das Finale dieser Mammut-WM gegen Italien ansteht, war in der Nacht zum Freitag sogar die Verärgerung sehr groß. Denn auf dem Flughafen von Sevilla mußte die DFB-Equipe drei Stunden auf den Rückflug nach Madrid warten. Erst um 4.30 Uhr lagen die Spieler in den Betten, so dass Bundestrainer Jupp Derwall spontan mit einem freien Tag reagierte. „Zuerst sind die Kräfte durch die Verlängerung zusätzlich beansprucht worden. Und dann werden wir durch diese unmögliche Organisation geschädigt“, klagte DFB-Trainer Erich Ribbeck.
Chancen gegen Italien stehen 50:50
Sein Kollege Berti Vogts beobachtete den Gegner Italien beim 2:0 über Polen. Seine Einschätzung: „Die Chancen müßten 50:50 stehen. Die Italiener besitzen derzeit eine riesiges Selbstvertrauen und spielen auch viel offensiver als wir es gewohnt sind. Ich sehe für uns Vorteile, weil die deutsche Mannschaft geschlossen auftritt, und sicher in der Lage ist, noch einmal 90 Minuten Tempo zu machen.“ Uli Stieleke glaubt: „Frankreich hat uns enorm gefordert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Finale schwerer werden wird.“
Packende Duelle wie etwa Rossi gegen Karl-Heinz Förster, Conti gegen Bernd Förster oder Antognoni gegen Dremmler werden über die italienische Offensivkraft entscheiden. Italiens Trainer Enzo Bearzot überlegt, ob er das „Rauhbein“ Gentile gegen Rummenigge stellt, und ob der nicht minder harte Cabrini den deutschen Rastelli Littbarski bewachen soll.
Die Voraussetzungen für ein großes Finale scheinen gegeben, und in jedem Fall steigt der Sieger auf die Stufe des dreimaligen Titelträgers Brasilien, denn Italien (1934÷1938) und Deutschland (1954÷1974) holten sich die wertvollste Trophäe des Weltfußballs bisher jeweils zweimal.
Harald Schumacher: Eine fehlerlose Vorstellung des Kölner Keepers. Klärte viele brenzliche Szenen durch entschlossenes Herauslaufen. Hatte keine Chance gegen Platinis Elfmeter.
Uli Stielike: Nicht so stark wie im Spiel gegen Spanien, weil von ihm kaum Impulse für die Offensive ausgingen. Im Abwehrverhalten allerdings jeder Zeit souverän.
Manfred Kaltz: Begann sehr engagiert und initiativ. Ließ dann aber mit zunehmender Spielzeit nach, was auch daran lag, dass er nach der Pause gegen Six verteidigen mußte.
Karl-Heinz Förster: Hatte vor der Pause keine Mühe gegen Six, doch selbst er musste nach dem Wechsel anerkennen, welch großartiger Fußballer Michel Platini ist. Nach wie vor setzte der französische Kapitän viele Akzente.
Bernd Förster: Hatte mit Rocheteau den stärksten französischen Angreifer gegen sich. Der Franzose war brandgefährlich und holte gegen Bernd Förster auch den Elfmeter heraus, den Platini verwandelte.
Wolfgang Dremmler: Trotz seines erneut riesigen Aktionsradiusses die bisher schlechteste Leistung bei der WM. Seine Vorstellung wurde durch viele Abspielfehler getrübt.
Paul Breitner: Die treibende Kraft im Mittelfeld. Eine kämpferisch und spielerisch sehr gute Partie. Allein von ihm gingen die zündenden Ideen aus.
Hans-Peter Briegel: Gegen Spanien und England wirkte das Pfälzer Kraftpaket stärker. Möglicherweise steckte ihm noch die schwere Magen- und Darmgrippe in den Knochen. Unkonzentriert in einigen Situationen vor dem eigenen Strafraum.
Felix Magath: Wurde meist in die ungeliebte Linksaußenposition gedrängt und kam dort überhaupt nicht zurecht. Er war der schwächste deutsche Spieler und wurde in der 73. Minute gegen Horst Hrubesch ausgewechselt.
Pierre Littbarski: Setzte mit seinen Dribblings lange die Glanzlichter des deutschen Spiels und erzielte nicht von ungefähr auch das Führungstor. Mit zunehmender Spielzeit aber ging der Kölner wegen fehlender Kraft deutlich unter.
Klaus Fischer: Hätte fast mit dem Schlußpfiff der regulären Spielzeit das entscheidende 2:1 geschafft. Wirkte ansonsten blass und farblos. Doch in der Verlängerung stand er wieder einmal richtig und schoß auf unnachahmliche Art und Weise das 3:3.
Horst Hrubesch: Kam für Felix Magath und fügte sich sofort gut ins Spielgeschehen ein, weil er kämpferisch überzeugte.
Karl-Heinz Rummenigge: Als Frankreich in Führung ging, wagte der verletzte Kapitän seinen Einsatz. Das Risiko zahlte sich aus. Rummenigge schaffte das Anschlusstor und war mit vielen Dribbings am Umschwung entscheidend beteiligt.