Auf den Scilly Inseln, 50 Kilometer westlich von Cornwall, treten Woche für Woche zwei Teams in der kleinsten Liga der Welt gegeneinander an. Wird das nicht irgendwann langweilig?
Was merkwürdig klingt, wird bei näherer Betrachtung noch grotesker, denn die Teams geben sich nicht mit der regulären Meisterschaft zufrieden. Als reiche es ihnen nicht, sechzehn Mal den Atem des immergleichen Gegenspielers im Nacken zu spüren, spielen sie, in Anlehnung an FA- und League-Cup, den Scilly-Foredeck- und den Wholesalers-Cup aus. Zudem gibt es am Boxing Day, dem zweiten Weihnachtstag, ein Spiel der Inselälteren gegen die Inseljüngeren, und zu Beginn jeder Saison wird das Charity Shield ausgespielt, bei dem, wie beim FA Community Shield, Pokalsieger und Meister der zurückliegenden Saison aufeinandertreffen. Hat eine Mannschaft Liga und Pokal gewonnen, spielt sie im Charity Shield gegen den Vize-Meister beziehungsweise Vize-Pokalsieger.
Big G
Andy Hicks ist eine treibende Kraft der Liga. Im Gegensatz zu vielen seiner leicht bis sehr stark übergewichtigen Mitspieler ist er fit wie ein Profi, letztes Jahr lief er auf der Nachbarinsel Tresco den ersten Marathon seines Lebens und wurde Zweiter.
In das landläufige Bild eines bärbeißigen Insulaners passt er nicht. Hicks mag elektronische Musik, spielt Videospiele und sammelt Fußballtrikots aus aller Welt. Und er redet viel, schnell, die Worte purzeln manchmal aus seinem Mund, so dass sie sich immer wieder überschlagen. Wenn er von großen Partien und legendären Spielern der Scilly Football League berichtet, leuchten seine Augen.
„Vor vielen Jahren gab es diesen Typen, Garraf Torrens, wir nannten ihn ‚Big G‘“, erinnert sich Hicks. „Er stolperte ständig über seine Beine, doch er kam immer wieder und wir stellten ihn auf, denn er war ein guter Junge. Dann kam es zum entscheidenden Match, und wir brauchten ein Tor. Plötzlich fiel ihm der Ball genau vor die Füße, einen Meter vor der Torlinie – und alle hielten die Luft an.“
Hicks atmet hastig, er spielt am Reißverschluss seines Arsenal-Sweaters, und dann zeichnet er die Szene mit dem Zeigefinger in die Luft. Hier der Ball, dort der Fuß, das Tor war leer. Big G holte aus und schoss – an den Pfosten. Hicks brach innerlich zusammen. Aber er schaute noch einmal hin und sah, wie der Ball vom Pfosten die Linie entlang hinein ins Tor kullerte. „Nie wieder“, sagt Hicks, „nie wieder habe ich so viel Erleichterung und Stolz im Gesicht eines Menschen gesehen.“
Big G ging, wie viele andere, irgendwann aufs Festland. Auf der Insel hat sich in den Jahren wenig verändert. Neben dem Garrison Field gibt es seit einiger Zeit eine richtige Umkleidekabine mit einer Taktiktafel an der Wand, auch das Schild „Garrison Field – Home of the smallest Football League in the World“ ist neu. Außerdem hat sich Garrisons Vizekapitän Hicks angewöhnt, vor den Spielen die Trikots auf einen Bügel über die angestammten Spielerplätze zu hängen.
Ansonsten ist alles, wie es immer war. Und es ist, als modellierten sie hier auf St. Mary‘s Stück für Stück die große unüberschaubare Fußballwelt, diesen komplexen Apparat der Profiligen, im Kleinen nach. Von oben betrachtet sieht die Insel aus wie eine sorgfältig mit Pinzette zusammengesetzte Modelleisenbahnlandschaft. So gibt es alles genau einmal: einen Dorfkern in Hugh Town, wo das Leben im Vergleich zum restlichen Teil der Insel regelrecht pulsiert, einen Supermarkt an der Hauptstraße, ein Museum, einen Flughafen auf einer Warft, eine Kirche und sogar eine Radiostation, natürlich ebenfalls die kleinste der Welt. Aus einer Dachkammer berichtet Merryn Smith, Torwart der Wanderers, jeden Freitag von der Scilly Football League, den lokalen Dart- und Pool-Ligen oder vom einzigen Rugbyteam der Insel, das immerzu auf der Suche nach Gegnern ist. Natürlich gibt es auch Pubs – und die sind vermutlich das Einzige, was hier mehrfach, nämlich gleich viermal vorhanden ist.
Eine Miniatur-Liga braucht einen Miniatur-Verband
Auch die personelle Struktur der Liga ist maßstabsgetreu verkleinert: Es gibt einen Präsidenten, den 68-jährigen Charles Wood, der einst eine Kreditkartenfirma in Lissabon leitete und sich dann entschied, auf den Scillies neu anzufangen – in einem Hotel als Barmann und Portier. Er trug die Koffer der Gäste, öffnete ihnen die Tür und schenkte stilles Wasser aus. Heute ist er Assistant Manager des Atlantic Inn.
Sein Liga-Sekretär ist der 29-jährige Matt Thompson, der eigentlich als Wassertechniker auf der Insel arbeitet, außerdem gibt es einen Schatzmeister, zwei Kapitäne, die gleichzeitig die Trainer sind, Trikotsponsoren und eine Nachwuchsabteilung. Fans hingegen sind über die Jahre rar geblieben, mal schauen 30 oder 40 Leute zu, bei Regen sind es selten mehr als drei. Groundhopper hat man auf den Scillies noch nie gesehen.
Was immer wieder kommt, sind die Verhandlungen über die Mannschaften vor der Saison. Anfang November treffen sich die Verantwortlichen der Liga mit den Kapitänen der Teams, die daraufhin ihre Kader zusammenstellen. Ablösesummen gibt es nicht. Es wird zunächst per Münzwurf entschieden, wer den ersten Spieler wählen darf. Danach geht es abwechselnd weiter. So hat man zwar stets ausgeglichene Teams, lebenslange Vereinstreue kennt hier allerdings niemand. Einige Spieler haben Präferenzen, Hicks etwa, der Arsenalfan, spielt am liebsten für die Gunners. Der Rivalität tut der jährliche Wechsel keinen Abbruch. „Wenn ich für die Wanderers spiele, zerreiße ich mich auch für sie“, sagt er.
Rote Karte: ein Spiel Sperre
Mit den Regeln der englischen Football Association, der die Scilly Football League untersteht, ist dieses Vereins-Hopping unvereinbar. Doch die Wanderers und die Gunners genießen aufgrund ihrer geografischen Lage eine Sonderstellung. So müssen etwa keine Spielergebnisse oder Platzverweise kommuniziert werden, denn das würde vermutlich das Ende der Liga bedeuten. Letzte Woche sah etwa Gunners‘ Dave Murnford die Rote Karte – er hatte den Schiedsrichter beschimpft. Normalerweise hätte er sich persönlich bei der FA in Cornwall verantworten müssen, was einer Reise von mehreren Tage entspräche. So entschieden der Präsident, sein Sekretär und die beiden Kapitäne: ein Spiel Sperre.