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11FREUNDE WIRD 20!

Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fuß­ball­kultur: Am 23. März erschien​„DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den ein­drucks­vollsten Bil­dern und skur­rilsten Anek­doten aus zwei Jahr­zehnten 11FREUNDE. In unserem Jubi­lä­ums­band erwarten euch eine opu­lente Werk­schau mit unzäh­ligen unver­öf­fent­lichten Fotos, humor­vollen Essays, Inter­views und Back­s­tages-Sto­ries aus der Redak­tion. Beson­deres Leckerli für unsere Dau­er­kar­ten­in­haber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notiz­buch oben­drauf. Hier könnt ihr das Buch be­stellen.

Außerdem prä­sen­tieren wir euch an dieser Stelle in den kom­menden Wochen wei­tere spek­ta­ku­läre Repor­tagen, Inter­views und Bil­der­se­rien. Heute: Ein Besuch in der kleinsten Fuß­ball­liga der Welt.

11 Freunde Das große 11 Freunde Buch Kopie

Zwei Männer sitzen in einem Con­tainer. 50, viel­leicht 60 Qua­drat­meter groß, ein Flug­ha­fen­ter­minal. Regen peitscht gegen das Well­blech und durch­tränkt die rie­sige Wiese vor den Toren – die Start- und Lan­de­bahn des Land‘s End Air­port“. 

Kevin Leeman und Ben Morton-Clark warten hier, dass der Pilot die Pro­peller der Sechs-Per­sonen-Cessna startet und sie nach St. Mary’s fliegt, der größten der 140 Scilly Inseln. Aber er tut es nicht. Gegen Mittag werden bis auf wei­teres alle Flüge wegen Unwet­ters gestri­chen, und die Männer zucken mit den Ach­seln.

Für Leeman, den Geo­gra­fie­lehrer der St. Mary’s Secon­dary School, ist das kein großes Unglück; es ist Samstag. Für Morton-Clark sieht die Sache anders aus. Er war län­gere Zeit auf dem Fest­land unter­wegs, um seinen Bruder nach Neu­see­land zu ver­ab­schieden. Der hoch­ge­wach­sene Abwehr­spieler der Wool­pack Wan­de­rers sollte am Sonntag im vierten Sai­son­spiel gegen die Gar­rison Gun­ners auf­laufen. Nun steht er am Fenster, einen Ruck­sack auf dem Rücken, die Hand im Zehn-Tage-Bart. Es ist ein wich­tiges Spiel, die Wan­de­rers haben zwar die ersten drei Par­tien gewonnen, eines gar 13:3, doch am Sonntag, das weiß der 31-Jäh­rige, werden die wich­tigen Stützen der Gun­ners wieder genesen sein.

Morton-Clark aber schimpft nicht aufs Wetter, er steht ruhig da, und seine Blicke ver­lieren sich auf aus­lie­genden Post­karten und Pro­spekten, auf denen die Isles of Scilly aus­sehen wie kari­bi­sche Inseln.

Nord­wind. See­möwen. Blut.

Am Sonntag ist das Gar­rison Field, der ein­zige Fuß­ball­platz auf St. Mary’s, auf­ge­weicht vom vielen Regen, und auch wenn die Wolken nun auf­bre­chen, fegen die Nord­winde unauf­hör­lich übers Spiel­feld und die Spatzen kämpfen gegen die Böen, um nicht in den Klippen zu landen. Die See­möwen suchen Schutz in den Buhnen. Der Ball klebt fast 90 Minuten in der süd­west­li­chen Ecke des Feldes. Andy Hicks, 32, Außen­stürmer der Gar­rison Gun­ners, steigt zum Kopf­ball hoch, es klatscht laut, Blut läuft aus einer Wunde und Hicks bleibt am Boden liegen. Doch dann rap­pelt er sich auf, und lässt sich an der Sei­ten­linie den Kopf ver­binden. Wie Terry But­cher“, denkt er und rennt mit einem Turban aus Mull zurück aufs Feld. Es läuft die 50. Minute. Wo ist Ben Morton-Clark?“, ruft einer. Er wird nicht mehr kommen“, ant­wortet ein anderer.

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Die Scilly Foot­ball League kennt kein Alter und keine Bäuche – dafür Tunnel und Über­steiger.

Chris­to­pher Pledger (eye­vine)

Es ist das Schicksal der Scil­lo­nians: abge­schieden zu sein, abge­schnitten vom Rest am aus­fran­senden Rand Europas. Auch wenn wir das Fest­land sehen können, fühlt es sich hier bei Unwetter an wie das Ende der Welt“, sagt Andy Hicks. Es ist einer der Gründe, wes­halb es auf St. Mary’s nur zwei Teams gibt: die Wool­pack Wan­de­rers und die Gar­rison Gun­ners. Unter den knapp 1700 Ein­woh­nern finden sich zu wenig aktive Fuß­baller, und für die Mann­schaften vom Fest­land würden Aus­wärts­fahrten auf St. Mary’s jedes Mal eine Odyssee bedeuten.

Lang­weilig ist es hier nie“

Andy Hicks hat sich – wie Leeman, wie Morton-Clark, wie alle hier – längst mit der Insel-Situa­tion arran­giert. Es ist für ihn der Alltag, er kennt es gar nicht anders, denn er lebt seit seiner Geburt hier. Nur einmal war Hicks län­gere Zeit fort, er stu­dierte in Sout­hampton Yacht­de­sign, später wech­selte er zum Bootsbau. Wirk­lich hei­misch fühlte er sich nie. Manchmal glaubte ich, ich würde in der Stadt ver­lo­ren­gehen“, sagt Hicks heute.

Er kam zurück nach St. Mary‘s, spielte seine erste Saison in der Scilly Foot­ball League und heu­erte als Boots­bauer unten am Port­h­mellon Beach bei Peter Martin‘s Boat Shed“ an. 1998 war das. Diesen Winter bes­sert Hicks die Planken des Fisch­kut­ters Snowy Owl“ aus. Lang­weilig?“, sagt Hicks, und seine mar­kanten Wan­gen­kno­chen treten hervor. Lang­weilig ist es hier nie. Die Insel ist das Para­dies. Und die Liga – warum sollte die lang­weilig sein? Es ist doch Fuß­ball, Mann!“

Sechs­zehn Spiele pro Saison

Von November bis März, immer sonn­tags, treten die Gun­ners und die Wan­de­rers in der Scilly Foot­ball League gegen­ein­ander an, sech­zehn Mal ins­ge­samt, immer auf dem­selben Platz. Jede Woche wie­der­holt sich die Partie, mal heißt sie Wool­pack Wan­de­rers gegen Gar­rison Gun­ners, am nächsten Sonntag Gar­rison Gun­ners gegen Wool­pack Wan­de­rers. Manchmal fragt jemand: Woher wisst ihr, dass diese Woche ein Heim­spiel ist?“ Die Spieler ant­worten dann: Weil wir letzte Woche aus­wärts gespielt haben.“

Was merk­würdig klingt, wird bei näherer Betrach­tung noch gro­tesker, denn die Teams geben sich nicht mit der regu­lären Meis­ter­schaft zufrieden. Als reiche es ihnen nicht, sech­zehn Mal den Atem des immer­glei­chen Gegen­spie­lers im Nacken zu spüren, spielen sie, in Anleh­nung an FA- und League-Cup, den Scilly-Fore­deck- und den Who­le­sa­lers-Cup aus. Zudem gibt es am Boxing Day, dem zweiten Weih­nachtstag, ein Spiel der Insel­äl­teren gegen die Insel­jün­geren, und zu Beginn jeder Saison wird das Cha­rity Shield aus­ge­spielt, bei dem, wie beim FA Com­mu­nity Shield, Pokal­sieger und Meister der zurück­lie­genden Saison auf­ein­an­der­treffen. Hat eine Mann­schaft Liga und Pokal gewonnen, spielt sie im Cha­rity Shield gegen den Vize-Meister bezie­hungs­weise Vize-Pokal­sieger.

Big G

Andy Hicks ist eine trei­bende Kraft der Liga. Im Gegen­satz zu vielen seiner leicht bis sehr stark über­ge­wich­tigen Mit­spieler ist er fit wie ein Profi, letztes Jahr lief er auf der Nach­bar­insel Tresco den ersten Mara­thon seines Lebens und wurde Zweiter.

In das land­läu­fige Bild eines bär­bei­ßigen Insu­la­ners passt er nicht. Hicks mag elek­tro­ni­sche Musik, spielt Video­spiele und sam­melt Fuß­ball­tri­kots aus aller Welt. Und er redet viel, schnell, die Worte pur­zeln manchmal aus seinem Mund, so dass sie sich immer wieder über­schlagen. Wenn er von großen Par­tien und legen­dären Spie­lern der Scilly Foot­ball League berichtet, leuchten seine Augen.

Vor vielen Jahren gab es diesen Typen, Garraf Tor­rens, wir nannten ihn Big G‘“, erin­nert sich Hicks. Er stol­perte ständig über seine Beine, doch er kam immer wieder und wir stellten ihn auf, denn er war ein guter Junge. Dann kam es zum ent­schei­denden Match, und wir brauchten ein Tor. Plötz­lich fiel ihm der Ball genau vor die Füße, einen Meter vor der Tor­linie – und alle hielten die Luft an.“

Hicks atmet hastig, er spielt am Reiß­ver­schluss seines Arsenal-Swea­ters, und dann zeichnet er die Szene mit dem Zei­ge­finger in die Luft. Hier der Ball, dort der Fuß, das Tor war leer. Big G holte aus und schoss – an den Pfosten. Hicks brach inner­lich zusammen. Aber er schaute noch einmal hin und sah, wie der Ball vom Pfosten die Linie ent­lang hinein ins Tor kul­lerte. Nie wieder“, sagt Hicks, nie wieder habe ich so viel Erleich­te­rung und Stolz im Gesicht eines Men­schen gesehen.“

Big G ging, wie viele andere, irgend­wann aufs Fest­land. Auf der Insel hat sich in den Jahren wenig ver­än­dert. Neben dem Gar­rison Field gibt es seit einiger Zeit eine rich­tige Umklei­de­ka­bine mit einer Tak­tik­tafel an der Wand, auch das Schild Gar­rison Field – Home of the smal­lest Foot­ball League in the World“ ist neu. Außerdem hat sich Gar­ri­sons Vize­ka­pitän Hicks ange­wöhnt, vor den Spielen die Tri­kots auf einen Bügel über die ange­stammten Spie­ler­plätze zu hängen.

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Sonn­tags ist Heim­spiel auf St.Mary’s – 45 Kilo­meter vor der Küste Corn­wall und doch am Ende der Welt.

Chris­to­pher Pledger (eye­vine)

Ansonsten ist alles, wie es immer war. Und es ist, als model­lierten sie hier auf St. Mary‘s Stück für Stück die große unüber­schau­bare Fuß­ball­welt, diesen kom­plexen Apparat der Pro­fi­ligen, im Kleinen nach. Von oben betrachtet sieht die Insel aus wie eine sorg­fältig mit Pin­zette zusam­men­ge­setzte Modell­ei­sen­bahn­land­schaft. So gibt es alles genau einmal: einen Dorf­kern in Hugh Town, wo das Leben im Ver­gleich zum rest­li­chen Teil der Insel regel­recht pul­siert, einen Super­markt an der Haupt­straße, ein Museum, einen Flug­hafen auf einer Warft, eine Kirche und sogar eine Radio­sta­tion, natür­lich eben­falls die kleinste der Welt. Aus einer Dach­kammer berichtet Merryn Smith, Tor­wart der Wan­de­rers, jeden Freitag von der Scilly Foot­ball League, den lokalen Dart- und Pool-Ligen oder vom ein­zigen Rug­byteam der Insel, das immerzu auf der Suche nach Geg­nern ist. Natür­lich gibt es auch Pubs – und die sind ver­mut­lich das Ein­zige, was hier mehr­fach, näm­lich gleich viermal vor­handen ist.

Eine Miniatur-Liga braucht einen Miniatur-Ver­band

Auch die per­so­nelle Struktur der Liga ist maß­stabs­ge­treu ver­klei­nert: Es gibt einen Prä­si­denten, den 68-jäh­rigen Charles Wood, der einst eine Kre­dit­kar­ten­firma in Lis­sabon lei­tete und sich dann ent­schied, auf den Scil­lies neu anzu­fangen – in einem Hotel als Bar­mann und Por­tier. Er trug die Koffer der Gäste, öff­nete ihnen die Tür und schenkte stilles Wasser aus. Heute ist er Assistant Manager des Atlantic Inn.

Sein Liga-Sekretär ist der 29-jäh­rige Matt Thompson, der eigent­lich als Was­ser­tech­niker auf der Insel arbeitet, außerdem gibt es einen Schatz­meister, zwei Kapi­täne, die gleich­zeitig die Trainer sind, Tri­kot­spon­soren und eine Nach­wuchs­ab­tei­lung. Fans hin­gegen sind über die Jahre rar geblieben, mal schauen 30 oder 40 Leute zu, bei Regen sind es selten mehr als drei. Ground­hopper hat man auf den Scil­lies noch nie gesehen.

Was immer wieder kommt, sind die Ver­hand­lungen über die Mann­schaften vor der Saison. Anfang November treffen sich die Ver­ant­wort­li­chen der Liga mit den Kapi­tänen der Teams, die dar­aufhin ihre Kader zusam­men­stellen. Ablö­se­summen gibt es nicht. Es wird zunächst per Münz­wurf ent­schieden, wer den ersten Spieler wählen darf. Danach geht es abwech­selnd weiter. So hat man zwar stets aus­ge­gli­chene Teams, lebens­lange Ver­eins­treue kennt hier aller­dings nie­mand. Einige Spieler haben Prä­fe­renzen, Hicks etwa, der Arse­nalfan, spielt am liebsten für die Gun­ners. Der Riva­lität tut der jähr­liche Wechsel keinen Abbruch. Wenn ich für die Wan­de­rers spiele, zer­reiße ich mich auch für sie“, sagt er.

Rote Karte: ein Spiel Sperre

Mit den Regeln der eng­li­schen Foot­ball Asso­cia­tion, der die Scilly Foot­ball League unter­steht, ist dieses Ver­eins-Hop­ping unver­einbar. Doch die Wan­de­rers und die Gun­ners genießen auf­grund ihrer geo­gra­fi­schen Lage eine Son­der­stel­lung. So müssen etwa keine Spiel­ergeb­nisse oder Platz­ver­weise kom­mu­ni­ziert werden, denn das würde ver­mut­lich das Ende der Liga bedeuten. Letzte Woche sah etwa Gun­ners‘ Dave Murn­ford die Rote Karte – er hatte den Schieds­richter beschimpft. Nor­ma­ler­weise hätte er sich per­sön­lich bei der FA in Corn­wall ver­ant­worten müssen, was einer Reise von meh­reren Tage ent­spräche. So ent­schieden der Prä­si­dent, sein Sekretär und die beiden Kapi­täne: ein Spiel Sperre.

Eine andere Erleich­te­rung ist die sehr exklu­sive Regel, mehr als drei Wechsel pro Spiel vor­nehmen zu können. Diese wurde ein­ge­führt, weil in den Teams Poli­zisten, Feu­er­wehr­leute und Ret­tungs­sa­ni­täter spielen, die, sobald die Alarm­si­rene im Dorf ertönt, sofort zum Ein­satzort eilen müssen. Als letzte Saison plötz­lich vier Spieler zur Kabine sprin­teten, weil ihre Pieper klin­gelten, waren nicht genug Aus­wech­sel­spieler vor­handen. Die Partie stand vor dem Abbruch. Doch schon wenige Minuten später waren die Spieler wieder da. Fal­scher Alarm. Sie signa­li­sierten dem Schieds­richter ihre Rück­kehr und liefen aufs Feld, als wären sie nie fort gewesen.

Eine Sache, die nie in Gänze auf­ge­klärt wurde, ist die His­torie der Liga. Sie hängt nicht an den bier- und steak­be­la­denen Tresen des Mer­maid-Pubs oder des Atlantic Inns, sie ist nicht fest­ge­halten in Ord­nern oder Alma­na­chen. Einer, der einst Buch führte, sei vor langer Zeit aufs Fest­land aus­ge­wan­dert, heißt es. Nie­mand weiß, ob er noch lebt. Frag Stomper“, sagen sie in der Stadt. Sie meinen Michael Bal­kuill, der in einem kleinen Krä­mer­laden in Old Town arbeitet, etwa zehn Geh­mi­nuten von Hugh Town ent­fernt.

Zwei Teams, eine Liga – höchst seltsam

An der Kirche rechts“, erklärt Andy Hicks, dann der Straße folgen.“ An der Kirche hat die Straße einen ganz leichten Knick, es geht vorbei an drei, vier Häu­sern, der Hugh-Town-Sub­urbia, danach kommen die Felder, und dann sieht man, was es bedeutet, auf dieser Insel zu leben. Behutsam und doch ener­gisch ziehen Blu­men­pflü­cker Nar­zissen aus der Erde, sie sind zu dritt. Manchmal pas­siert etwas, Bus­sarde schweben über das Feld, ein Traktor fährt vorbei, ein Mann bleibt am Holz­zaun stehen, stopft seine Pfeife nach und schaut ihnen bei der Arbeit zu.

Dann erheben sich die Blu­men­pflü­cker aus ihrer gebückten Stel­lung und halten für einen kleinen Moment inne. Einer von ihnen trägt einen dicken Man­chester-United-Pull­over, die Woll­mütze hat er tief ins Gesicht gezogen. Er sitzt bei nahezu jedem Spiel der Pre­mier League im Pub, die lokale Scilly League inter­es­siert ihn aber nicht. Zwei Teams, eine Liga – höchst seltsam, findet er das. Er sagt: Ich mag Blumen.“

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Acht Pokale für zwei Mann­schaften: Einen Seri­en­meister gibt es nicht. In den letzten fünf Jahren ent­schied sich die Liga am letzten Spieltag.

Jacopo Benassi

Es ist ein Kno­chenjob, doch er ist sicher und einer der wenigen Jobs auf Scilly, die sai­son­un­ab­hängig sind, denn der nahe Golf­strom sorgt für ein mildes Klima, und die Blumen sprießen das ganze Jahr über. Der Laden, in dem Michael Bal­kuill arbeitet, liegt direkt an der Old Town Lane, dort, wo der alte Austin parkt, nur vorbei an dem Holz­pfeil, auf den jemand Nowhere“ geschrieben hat, dahinter der Friedhof, die See, Wasser, das die Klippen umspült, noch ein Gemü­se­garten, nichts weiter. Dann der Laden. Es riecht nach Algen.

Das Geschäft ist groß genug für einen kleinen Tisch, auf dem die Kasse steht, daneben eine Eis­truhe, an der Wand ein paar Regale mit dem Nötigsten: Toi­let­ten­pa­pier, Nudeln, Seife, Kekse. Sie nennen Michael Bal­kuill den Stomper“, weil an ihm alles mächtig ist: die Ohren, der Kopf, das Kinn, der ganze Körper, eine Kaf­fee­tasse in seiner Hand wirkt wie Pup­pen­spiel­zeug. Bal­kuill lebt seit 50 Jahren auf St. Mary‘s, auf­ge­wachsen ist er in Ply­mouth, er arbei­tete dort als Hand­werker. Eines Tages erfuhr sein Chef, dass sie auf St. Mary‘s Klempner suchten, und so schickte er Bal­kuill hin­unter; Ostern 1960 war das. Eigent­lich sollte er nach sechs Wochen zurück­kommen, doch er blieb für immer. Ich ver­liebte mich in Valerie und in die Insel. Als mein Groß­vater zum ersten Mal hier war, sagte er zu mir: ›Boy, das ist der beste Platz auf der ganzen Welt. Und du weißt, ich habe die ganze Welt gesehen.‹“

Spielst du Fuß­ball?“

Den Groß­vä­tern seiner Freunde hörte Bal­kuill dabei zu, wenn sie die Geschichten der frühen Liga­jahre erzählten. In den Zwan­zi­gern, berich­teten sie, habe es zum ersten Mal Fuß­ball auf den Scil­lies gegeben. Damals spielten die Inseln St. Mary‘s, Tresco, St. Martin’s, Bryher und St. Agnes den Lyon­nesse Inter-Island Cup aus. Das war für jene Jahre überaus bemer­kens­wert, denn auf den anderen Inseln lebten kaum mehr als 100 Men­schen. Als Bal­kuill 1960 nach St. Mary‘s kam, sah er am Mer­maid-Pub einen Zettel, auf den jemand geschrieben hatte: Spielst du Fuß­ball?“

In jenen Jahren hießen die Teams auf St. Mary‘s noch Ran­gers und Rovers. Bal­kuill begann für das Team der Ran­gers zu spielen, das vor­nehm­lich aus Zuge­zo­genen bestand. Die Rovers hin­gegen galten als der Klub der Arbei­ter­klasse und der Ein­hei­mi­schen. Von den Nach­bar­inseln waren zu jener Zeit ledig­lich die Teams aus Tresco und St. Martin’s übrig­ge­blieben. Beson­ders hart ging es gegen die St. Martin’s Rebels zur Sache“, erin­nert sich Bal­kuill. Bei den Matches standen die Frauen der Spieler dicht am Feld und traten nach unseren Beinen, wenn wir die Sei­ten­linie ent­lang­liefen.“ Doch auch auf Tresco und St. Martin‘s bekamen sie immer mehr Schwie­rig­keiten, genü­gend Leute für ihre Mann­schaften zu mobi­li­sieren, viele wurden zu alt, einige wech­selten zum Cri­cket, zudem bedeu­teten die Über­fahrten jedes Mal einen immensen orga­ni­sa­to­ri­schen Auf­wand.

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Die Taktik war gut, doch die Mann­schaft noch nicht bereit. Andy Hicks (2. von links) in der Stunde der Nie­der­lage.

Chris­to­pher Pledger (eye­vine)

So blieben irgend­wann nur noch die Teams auf St. Mary‘s zurück. Die Rovers und Ran­gers star­teten eine eigene Meis­ter­schaft, wenn­gleich die größte Her­aus­for­de­rung darin bestand, gegen aus­wär­tige Mann­schaften zu bestehen. So etwa im Sommer 1965: Ein rie­siger Navy-Zer­störer lag seit Tagen vor der Küste von St. Mary‘s. Bald erfuhren die Matrosen, dass auf der Insel Fuß­ball gespielt wird und for­derten die hei­mi­schen Mann­schaften zum Duell. Es war brutal, die Männer waren gestählte Navy-Typen, und sie gingen in Zwei­kämpfe ohne Rück­sicht auf Ver­luste. Doch auch wir liebten dieses harte Spiel“, schwärmt Bal­kuill.

Die Ran­gers spielten die Matrosen in Grund und Boden, und als Bal­kuill in der 70. Minute sein viertes Tor geschossen hatte, fragte sein Trainer: Willst du raus, Mike?“ Er ant­wor­tete: Noch zwei Minuten.“ Im selben Moment gif­tete sein Gegen­spieler: Du gehst jetzt!“ Er rammte ihm seinen Ell­bogen ins Gesicht und schlug ihm die vor­dere Zahn­reihe aus. Was hast du gemacht?“, fragt Valerie. Ich brach ihm das Fuß­ge­lenk“, sagt Stomper, danach bin ich mit ihm für ein paar Pints in den Pub. Später sind wir zusammen zum Arzt.“

Keine Liga ohne sport­man­ship

Diesen beson­deren Geist, in Eng­land nennen sie ihn sports­man­ship, beschwören sie auf der ganzen Welt, doch ver­mut­lich nir­gendwo so sehr wie im bri­ti­schen Fuß­ball. So hart und brutal es mit­unter auf dem Fuß­ball­platz zugeht, nach dem Spiel stoßen sie im Pub an, und alles, was in den Stunden zuvor die Gemüter erhitzte, ist ver­gessen. Auf St. Mary‘s würde die Liga ohne sports­man­ship nicht funk­tio­nieren, das Insel­i­dyll würde in sich zusam­men­fallen, weil die meisten Spieler im selben Betrieb arbeiten oder gar unter einem Dach wohnen.

Mark Twynham, 43, liebt die Erzäh­lungen von Män­nern wie Stomper. Er besitzt den ein­zigen Sportpub der Scil­lies, das Bishop and Wolf“. Früher hörte er dem inzwi­schen ver­stor­benen Skipper Wil­liams zu, später Grant Tucker, der vor Jahren schon aufs Fest­land ver­zogen ist, kan­tige Männer, die aus einer ver­ges­senen Zeit berich­teten, von Spielen, als die Kno­chen noch knackten, als es im Fuß­ball um mehr ging als um Leben und Tod.

Weißt du, Fuß­ball braucht schöne Tore und Hacken­tricks. Doch er braucht vor allem den Wett­be­werb. Sieger und Ver­lierer“, sagt er. Des­wegen haben wir ja die Liga. Manchmal gehst du mit 1:6 runter, doch du weißt: Nächste Woche geht der Kampf von vorne los.“

Das här­teste Spiel, das ich je erlebt habe“

Vor einigen Jahren, erzählt er, haben sie in der ört­li­chen Schule und auch im rest­li­chen König­reich ange­fangen, den Kids zu erzählen, es gehe beim Sport nur ums Mit­ma­chen. Und plötz­lich gab es in der Scilly Foot­ball League keine Zwei­kämpfe mehr, Tack­lings und Grät­schen ver­schwanden voll­ends. Die Spiele nahmen den Cha­rakter von Freund­schafts­spielen an, und die Pfeife des Schieds­rich­ters ertönte bei nahezu jeder Berüh­rung. Immer wieder beteten sie ihr Credo: Dabei sein ist alles. Das ist doch großer Quatsch!“ schimpft Twynham mit sonorer Bass­stimme, lehnt sich vor und brummt im brei­testen Kor­nisch: Ich will Spiele, bei denen ich noch Tage später den Rasen rie­chen kann.“

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Die Gau­ners mit Drei­er­kette. Vorne hilft der liebe Gott – und Atlan­ti­k­ru­derer Tim Gar­ratt.

Jacopo Benassi

Heute sei es wieder besser geworden, auf dem Gar­rison Field tacklen sie wieder, und die letzten Sai­sons wurden alle am finalen Spieltag ent­schieden. Dann berichtet er von den Reisen, die das St. Mary‘s‑Allstar-Team jedes Jahr im März aufs Fest­land unter­nimmt. Es geht häufig gegen Fal­mouth Town, die nor­ma­ler­weise in der South Wes­tern League spielen. Letztes Jahr war es unmensch­lich. Die dachten, dass sie uns zwei­stellig putzen würden. Schnell führten sie tat­säch­lich 2:0. Doch wir spielten uns in einen Rausch. Am Ende stand es 2:2. Es war das här­teste Spiel, das ich je erlebt habe.“

Kurz braust er auf, seine Stimme beginnt zu kippen. Dann Stille. Twynham blickt durch seinen Pub, an der Wand hängt die Geschichte des eng­li­schen Fuß­balls. Als sein Vater zurück aufs Fest­land ging, hin­ter­ließ er ihm etliche Devo­tio­na­lien, etwa das Pro­gramm­heft des WM-End­spiels 1966 samt Ein­tritts­karte, Rosetten von Lei­cester City und West Brom­wich aus den sech­ziger Jahren oder ein Leeds-Trikot vom Cen­tenary-Cup­fi­nale 1972. In einer Vitrine stehen die Pokale der Scilly League. Dann sam­melt sich Twynham wieder und nuschelt: Pal! It was the toug­hest game ever.“

Leg‘ dich nicht mit dem Schiri an!

Momentan spielt Twynham für die Wool­pack Wan­de­rers im Tor. Früher war er Stürmer, doch das mit der Fit­ness läuft nicht mehr so gut, sagt er, und dann streicht über seinen großen Bauch, der die Blou­son­trai­nings­jacke spannt. Es gab sogar Spiele, da half Twynham als Lini­en­richter aus, die Lust daran ist ihm vor einiger Zeit ver­gangen. Es war ein Schüt­zen­fest, die Gun­ners schossen damals ein Tor nach dem anderen. Aller­dings“, sagt er, und auch wenn er grinst, wird die Stimme wieder lauter, drei waren min­des­tens Abseits.“ Twynham wedelte jedes Mal, doch der Schieds­richter, der ein­zige der Insel, der jedes Spiel pfeift, igno­rierte ihn. Irgend­wann war Twynham so wütend, dass er seine Fahne auf den Boden warf. Der Referee wühlte in seiner Gesäß­ta­sche und zeigte ihm die Rote Karte. Twynham pöbelte laut­stark. Aber es nützte nichts, ver­bit­tert ver­ließ er das Feld.

Es heißt, Insu­laner seien eigen, wun­dersam. Nah ist nur Innres; alles andre fern“, schrieb Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht Die Insel“. Vor­letztes Jahr machten sich der dama­lige Gun­ners-Spieler Tim Gar­ratt mit seinen drei Freunden Wayne Davey, Chris Jenkins und Joby Newton auf den Weg nach New York. Sie wollten den Atlantik im Ruder­boot über­queren, einen Rekord bre­chen, der 1896 auf­ge­stellt wurde. Dafür mussten sie 3100 See­meilen in weniger als 55 Tagen zurück­legen. Sie ken­terten 650 Meilen vor der US-Küste und kämpften meh­rere Stunden im eis­kalten Wasser ums Über­leben. Ein Öltanker las sie auf. Als sie in St. Mary‘s ankamen, standen die Insel­be­wohner am Hafen, viele hatten Freu­den­tränen in den Augen; sie schlossen ihre ver­lo­renen Söhne in ihre Arme.

Viele Jugend­liche kehren nicht zurück. Für Schul­ab­schlüsse und Uni­ver­si­täten gehen sie aufs Fest­land. Wenn sie ihre Magister und Diplome gemacht haben, vier Fremd­spra­chen beherr­schen, wissen, wie große Firmen funk­tio­nieren, phi­lo­so­phi­sche Abhand­lugen schreiben können oder sogar Anschluss an pro­fes­sio­nel­lere Fuß­ball­ligen gefunden haben, erscheinen die Scil­lies mit einem Mal so klein, wie sie wirk­lich sind.

Die meisten Bewohner der Inseln arbeiten im Tou­rismus, der über 90 Pro­zent des Haus­halts aus­macht. Ab März kommen etliche Sai­son­ar­beiter vom Fest­land, die, sobald Ende Oktober die letzten Tou­risten ver­schwunden sind, in ihre Städte, nach Ply­mouth oder Fal­mouth, zurück­kehren. Die, die bleiben, arbeiten als Maler oder Blu­men­pflü­cker. Im Winter setzen schließ­lich Rat­ten­fänger von Corn­wall aus über, um die Insel von den Schäd­lingen zu befreien, die sich im milden Klima rasant ver­mehren.

Der gefühl­volle Pike

Ein anderes Pro­blem sind die hohen Lebens­hal­tungs­kosten und Mieten auf den Scil­lies. Die gefragten Woh­nungen sind lange schon von Aus­wär­tigen gekauft und in Feri­en­ap­part­ments umge­staltet worden – sie stehen von Oktober bis April leer. Die Insel­ver­wal­tung ver­sucht zwar, dem ent­ge­gen­zu­steuern, aller­dings nur halb­herzig. Einige Scil­lo­nians behaupten, die Locals seien über die Jahre auf dem Woh­nungs­markt benach­tei­ligt worden.

Die Liga leidet unter den Folgen der dau­er­haften Fluk­tua­tion und läuft ständig Gefahr, bald keine Spieler mehr zu haben. Dass es in den letzten Jahren immer zwei Teams gab, lag vor­nehm­lich daran, dass die Liga kein Alter und keine Bäuche kennt. Jeder, der moti­viert ist, bekommt eine Chance: der 68-jäh­rige Charles Wood ebenso wie der gut genährte Mark Twynham mit 42 Lenzen oder das 16-jäh­rige Flie­gen­ge­wicht Jack Stone. Zwei Mann­schaften, die aus­schließ­lich aus Män­nern im besten Fuß­bal­ler­alter bestehen, wird es hier nie geben – doch letzt­lich, so betonen sie, ist das auch nicht das Ziel.

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Charles Wood kam 1999 nach St.Mary’s. Er arbeitet als Assistant Manager des Atlantic Inn und ist Chair­mann der Scilly Foot­ball League.

Jacopo Benassi
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Lewis Brown, Schüler

Jacopo Benassi
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Jack Stone, Schüler

Jacopo Benassi
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Jason Smith, Schweißer

Jacopo Benassi
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Hicks ist nah dran an den Jugend­li­chen, die vor der großen Ent­schei­dung ihres Lebens stehen: Insel- oder Stadt­leben. Er küm­mert sich um die Jugend­mann­schaften. Andy Hicks hat etwa Kevin Pike spielen sehen, der auf die Insel kam, als er 15 war. Später spielte Pike in der Reser­ve­mann­schaft des Zweit­li­gisten Preston North End FC. Noch heute schwärmt er von ihm: Nie zuvor und nie wieder danach konnte auf St. Mary‘s jemand so gefühl­voll mit dem Ball umgehen.“

Pike ist aller­dings eine von wenigen Aus­nahmen, die nach ihrer Zeit bei den Gun­ners oder den Wan­de­rers einen sol­chen Sprung gemacht haben. Die Ursache ist auch hier der Mangel an Spie­lern. So finden sich in guten Zeiten gerade mal 16 Junioren, die dann acht gegen acht auf einem halben Feld spielen können. Wenn es soweit ist, dass die Jungs aufs Fest­land gehen, also mit 16 oder 17, wenn sie bereit sind, sich für grö­ßere Teams zu emp­fehlen, ist für sie der Zug längst abge­fahren. Gegen Spieler, die schon mit sieben Jahren in Fuß­ball­aka­de­mien ein­treten, die seit jeher wissen, wie sie sich auf einem großen Feld bewegen müssen, haben die Jungs von den Scilly Islands keine Chance.

Ich über­lege häufig, die Insel wieder zu ver­lassen“

Aber Hicks hat Visionen, kleine Hoff­nungen, dass es in den nächsten Jahren besser wird. Seit einiger Zeit findet ein regel­mä­ßiger Aus­tausch mit Trai­nern vom eng­li­schen Zweit­li­gisten Ply­mouth Argile statt. Momentan hat es Hicks und den Argile-Trai­nern ein Mäd­chen angetan. Die 15-jäh­rige Beth Thomas zählt er heute in ihrer Alters­klasse zu den besten drei Kickern der Scil­lies. Da sie jah­re­lang nur mit älteren Jungs trai­nierte, lernte sie eine Aggres­si­vität und Härte kennen, die vielen ihrer heu­tigen Mit­spie­le­rinnen fremd sind. Beth Thomas steht momentan bei einem Team in Corn­wall unter Ver­trag, so dass sie nahezu jedes Wochen­ende aufs Fest­land fliegen muss. In den Pubs erzählt man sich, dass sie bei Scouts von Arsenal auf dem Zettel steht. Sicher sind sie alle: Beth Thomas wird über kurz oder lang auf dem Fest­land bleiben.

So sehr ich es hier liebe: Auch ich über­lege häufig, die Insel wieder zu ver­lassen“, sagt Andy Hicks. Ihn treibt aber nicht der Fuß­ball an oder die Sehn­sucht nach der großen Stadt, er ver­misst hier kein Kino oder den wöchent­li­chen Sta­di­on­be­such, Dinge, die für Stadt­be­wohner all­täg­lich sind. Ihm fehlt seine drei­jäh­rige Tochter Lauren, die mit ihrer Mutter in Corn­wall lebt.

Als er sie ken­nen­lernte, arbei­tete sie für die Heli­ko­pter-Gesell­schaft, und Andy Hicks hoffte, dass sie auf den Scil­lies bleiben würde. Ich hoffte, dass sie es lieben würde wie ich, doch sie tat es nicht. Sie ging zurück aufs Fest­land.“ Seitdem hin­ter­fragt Hicks fast täg­lich seinen Lebens­ent­wurf, home is nun mal where your heart is, doch wo ist es denn, fragt Hicks sich: Soll er aufs Fest­land ziehen, um bei seiner Familie zu sein? Oder soll er auf St. Mary‘s bleiben, wo der Fuß­ball und seine Arbeit sind, wo seine Eltern und seine Freunde leben? Viel­leicht kehren beide eines Tages zurück.“

Aber er weiß auch, dass die Scil­lies, 45 Kilo­meter vor der Küste Eng­lands und doch am Ende der Welt, für viele Men­schen rät­sel­haft bleiben. Für viele„ sagt Hicks. sind die Inseln, das Leben an der Bran­dung und in den Novem­ber­stürmen unver­stehbar. Für viele sind die Scil­lies nichts weiter als: Pubs, Fischen – und Fuß­ball.“