Auf den Scilly Inseln, 50 Kilometer westlich von Cornwall, treten Woche für Woche zwei Teams in der kleinsten Liga der Welt gegeneinander an. Wird das nicht irgendwann langweilig?
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Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Heute: Ein Besuch in der kleinsten Fußballliga der Welt.
Zwei Männer sitzen in einem Container. 50, vielleicht 60 Quadratmeter groß, ein Flughafenterminal. Regen peitscht gegen das Wellblech und durchtränkt die riesige Wiese vor den Toren – die Start- und Landebahn des „Land‘s End Airport“.
Kevin Leeman und Ben Morton-Clark warten hier, dass der Pilot die Propeller der Sechs-Personen-Cessna startet und sie nach St. Mary’s fliegt, der größten der 140 Scilly Inseln. Aber er tut es nicht. Gegen Mittag werden bis auf weiteres alle Flüge wegen Unwetters gestrichen, und die Männer zucken mit den Achseln.
Für Leeman, den Geografielehrer der St. Mary’s Secondary School, ist das kein großes Unglück; es ist Samstag. Für Morton-Clark sieht die Sache anders aus. Er war längere Zeit auf dem Festland unterwegs, um seinen Bruder nach Neuseeland zu verabschieden. Der hochgewachsene Abwehrspieler der Woolpack Wanderers sollte am Sonntag im vierten Saisonspiel gegen die Garrison Gunners auflaufen. Nun steht er am Fenster, einen Rucksack auf dem Rücken, die Hand im Zehn-Tage-Bart. Es ist ein wichtiges Spiel, die Wanderers haben zwar die ersten drei Partien gewonnen, eines gar 13:3, doch am Sonntag, das weiß der 31-Jährige, werden die wichtigen Stützen der Gunners wieder genesen sein.
Morton-Clark aber schimpft nicht aufs Wetter, er steht ruhig da, und seine Blicke verlieren sich auf ausliegenden Postkarten und Prospekten, auf denen die Isles of Scilly aussehen wie karibische Inseln.
Nordwind. Seemöwen. Blut.
Am Sonntag ist das Garrison Field, der einzige Fußballplatz auf St. Mary’s, aufgeweicht vom vielen Regen, und auch wenn die Wolken nun aufbrechen, fegen die Nordwinde unaufhörlich übers Spielfeld und die Spatzen kämpfen gegen die Böen, um nicht in den Klippen zu landen. Die Seemöwen suchen Schutz in den Buhnen. Der Ball klebt fast 90 Minuten in der südwestlichen Ecke des Feldes. Andy Hicks, 32, Außenstürmer der Garrison Gunners, steigt zum Kopfball hoch, es klatscht laut, Blut läuft aus einer Wunde und Hicks bleibt am Boden liegen. Doch dann rappelt er sich auf, und lässt sich an der Seitenlinie den Kopf verbinden. „Wie Terry Butcher“, denkt er und rennt mit einem Turban aus Mull zurück aufs Feld. Es läuft die 50. Minute. „Wo ist Ben Morton-Clark?“, ruft einer. „Er wird nicht mehr kommen“, antwortet ein anderer.
Es ist das Schicksal der Scillonians: abgeschieden zu sein, abgeschnitten vom Rest am ausfransenden Rand Europas. „Auch wenn wir das Festland sehen können, fühlt es sich hier bei Unwetter an wie das Ende der Welt“, sagt Andy Hicks. Es ist einer der Gründe, weshalb es auf St. Mary’s nur zwei Teams gibt: die Woolpack Wanderers und die Garrison Gunners. Unter den knapp 1700 Einwohnern finden sich zu wenig aktive Fußballer, und für die Mannschaften vom Festland würden Auswärtsfahrten auf St. Mary’s jedes Mal eine Odyssee bedeuten.
„Langweilig ist es hier nie“
Andy Hicks hat sich – wie Leeman, wie Morton-Clark, wie alle hier – längst mit der Insel-Situation arrangiert. Es ist für ihn der Alltag, er kennt es gar nicht anders, denn er lebt seit seiner Geburt hier. Nur einmal war Hicks längere Zeit fort, er studierte in Southampton Yachtdesign, später wechselte er zum Bootsbau. Wirklich heimisch fühlte er sich nie. „Manchmal glaubte ich, ich würde in der Stadt verlorengehen“, sagt Hicks heute.
Er kam zurück nach St. Mary‘s, spielte seine erste Saison in der Scilly Football League und heuerte als Bootsbauer unten am Porthmellon Beach bei „Peter Martin‘s Boat Shed“ an. 1998 war das. Diesen Winter bessert Hicks die Planken des Fischkutters „Snowy Owl“ aus. „Langweilig?“, sagt Hicks, und seine markanten Wangenknochen treten hervor. „Langweilig ist es hier nie. Die Insel ist das Paradies. Und die Liga – warum sollte die langweilig sein? Es ist doch Fußball, Mann!“
Sechszehn Spiele pro Saison
Von November bis März, immer sonntags, treten die Gunners und die Wanderers in der Scilly Football League gegeneinander an, sechzehn Mal insgesamt, immer auf demselben Platz. Jede Woche wiederholt sich die Partie, mal heißt sie Woolpack Wanderers gegen Garrison Gunners, am nächsten Sonntag Garrison Gunners gegen Woolpack Wanderers. Manchmal fragt jemand: „Woher wisst ihr, dass diese Woche ein Heimspiel ist?“ Die Spieler antworten dann: „Weil wir letzte Woche auswärts gespielt haben.“
Was merkwürdig klingt, wird bei näherer Betrachtung noch grotesker, denn die Teams geben sich nicht mit der regulären Meisterschaft zufrieden. Als reiche es ihnen nicht, sechzehn Mal den Atem des immergleichen Gegenspielers im Nacken zu spüren, spielen sie, in Anlehnung an FA- und League-Cup, den Scilly-Foredeck- und den Wholesalers-Cup aus. Zudem gibt es am Boxing Day, dem zweiten Weihnachtstag, ein Spiel der Inselälteren gegen die Inseljüngeren, und zu Beginn jeder Saison wird das Charity Shield ausgespielt, bei dem, wie beim FA Community Shield, Pokalsieger und Meister der zurückliegenden Saison aufeinandertreffen. Hat eine Mannschaft Liga und Pokal gewonnen, spielt sie im Charity Shield gegen den Vize-Meister beziehungsweise Vize-Pokalsieger.
Big G
Andy Hicks ist eine treibende Kraft der Liga. Im Gegensatz zu vielen seiner leicht bis sehr stark übergewichtigen Mitspieler ist er fit wie ein Profi, letztes Jahr lief er auf der Nachbarinsel Tresco den ersten Marathon seines Lebens und wurde Zweiter.
In das landläufige Bild eines bärbeißigen Insulaners passt er nicht. Hicks mag elektronische Musik, spielt Videospiele und sammelt Fußballtrikots aus aller Welt. Und er redet viel, schnell, die Worte purzeln manchmal aus seinem Mund, so dass sie sich immer wieder überschlagen. Wenn er von großen Partien und legendären Spielern der Scilly Football League berichtet, leuchten seine Augen.
„Vor vielen Jahren gab es diesen Typen, Garraf Torrens, wir nannten ihn ‚Big G‘“, erinnert sich Hicks. „Er stolperte ständig über seine Beine, doch er kam immer wieder und wir stellten ihn auf, denn er war ein guter Junge. Dann kam es zum entscheidenden Match, und wir brauchten ein Tor. Plötzlich fiel ihm der Ball genau vor die Füße, einen Meter vor der Torlinie – und alle hielten die Luft an.“
Hicks atmet hastig, er spielt am Reißverschluss seines Arsenal-Sweaters, und dann zeichnet er die Szene mit dem Zeigefinger in die Luft. Hier der Ball, dort der Fuß, das Tor war leer. Big G holte aus und schoss – an den Pfosten. Hicks brach innerlich zusammen. Aber er schaute noch einmal hin und sah, wie der Ball vom Pfosten die Linie entlang hinein ins Tor kullerte. „Nie wieder“, sagt Hicks, „nie wieder habe ich so viel Erleichterung und Stolz im Gesicht eines Menschen gesehen.“
Big G ging, wie viele andere, irgendwann aufs Festland. Auf der Insel hat sich in den Jahren wenig verändert. Neben dem Garrison Field gibt es seit einiger Zeit eine richtige Umkleidekabine mit einer Taktiktafel an der Wand, auch das Schild „Garrison Field – Home of the smallest Football League in the World“ ist neu. Außerdem hat sich Garrisons Vizekapitän Hicks angewöhnt, vor den Spielen die Trikots auf einen Bügel über die angestammten Spielerplätze zu hängen.
Ansonsten ist alles, wie es immer war. Und es ist, als modellierten sie hier auf St. Mary‘s Stück für Stück die große unüberschaubare Fußballwelt, diesen komplexen Apparat der Profiligen, im Kleinen nach. Von oben betrachtet sieht die Insel aus wie eine sorgfältig mit Pinzette zusammengesetzte Modelleisenbahnlandschaft. So gibt es alles genau einmal: einen Dorfkern in Hugh Town, wo das Leben im Vergleich zum restlichen Teil der Insel regelrecht pulsiert, einen Supermarkt an der Hauptstraße, ein Museum, einen Flughafen auf einer Warft, eine Kirche und sogar eine Radiostation, natürlich ebenfalls die kleinste der Welt. Aus einer Dachkammer berichtet Merryn Smith, Torwart der Wanderers, jeden Freitag von der Scilly Football League, den lokalen Dart- und Pool-Ligen oder vom einzigen Rugbyteam der Insel, das immerzu auf der Suche nach Gegnern ist. Natürlich gibt es auch Pubs – und die sind vermutlich das Einzige, was hier mehrfach, nämlich gleich viermal vorhanden ist.
Eine Miniatur-Liga braucht einen Miniatur-Verband
Auch die personelle Struktur der Liga ist maßstabsgetreu verkleinert: Es gibt einen Präsidenten, den 68-jährigen Charles Wood, der einst eine Kreditkartenfirma in Lissabon leitete und sich dann entschied, auf den Scillies neu anzufangen – in einem Hotel als Barmann und Portier. Er trug die Koffer der Gäste, öffnete ihnen die Tür und schenkte stilles Wasser aus. Heute ist er Assistant Manager des Atlantic Inn.
Sein Liga-Sekretär ist der 29-jährige Matt Thompson, der eigentlich als Wassertechniker auf der Insel arbeitet, außerdem gibt es einen Schatzmeister, zwei Kapitäne, die gleichzeitig die Trainer sind, Trikotsponsoren und eine Nachwuchsabteilung. Fans hingegen sind über die Jahre rar geblieben, mal schauen 30 oder 40 Leute zu, bei Regen sind es selten mehr als drei. Groundhopper hat man auf den Scillies noch nie gesehen.
Was immer wieder kommt, sind die Verhandlungen über die Mannschaften vor der Saison. Anfang November treffen sich die Verantwortlichen der Liga mit den Kapitänen der Teams, die daraufhin ihre Kader zusammenstellen. Ablösesummen gibt es nicht. Es wird zunächst per Münzwurf entschieden, wer den ersten Spieler wählen darf. Danach geht es abwechselnd weiter. So hat man zwar stets ausgeglichene Teams, lebenslange Vereinstreue kennt hier allerdings niemand. Einige Spieler haben Präferenzen, Hicks etwa, der Arsenalfan, spielt am liebsten für die Gunners. Der Rivalität tut der jährliche Wechsel keinen Abbruch. „Wenn ich für die Wanderers spiele, zerreiße ich mich auch für sie“, sagt er.
Rote Karte: ein Spiel Sperre
Mit den Regeln der englischen Football Association, der die Scilly Football League untersteht, ist dieses Vereins-Hopping unvereinbar. Doch die Wanderers und die Gunners genießen aufgrund ihrer geografischen Lage eine Sonderstellung. So müssen etwa keine Spielergebnisse oder Platzverweise kommuniziert werden, denn das würde vermutlich das Ende der Liga bedeuten. Letzte Woche sah etwa Gunners‘ Dave Murnford die Rote Karte – er hatte den Schiedsrichter beschimpft. Normalerweise hätte er sich persönlich bei der FA in Cornwall verantworten müssen, was einer Reise von mehreren Tage entspräche. So entschieden der Präsident, sein Sekretär und die beiden Kapitäne: ein Spiel Sperre.
Eine andere Erleichterung ist die sehr exklusive Regel, mehr als drei Wechsel pro Spiel vornehmen zu können. Diese wurde eingeführt, weil in den Teams Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter spielen, die, sobald die Alarmsirene im Dorf ertönt, sofort zum Einsatzort eilen müssen. Als letzte Saison plötzlich vier Spieler zur Kabine sprinteten, weil ihre Pieper klingelten, waren nicht genug Auswechselspieler vorhanden. Die Partie stand vor dem Abbruch. Doch schon wenige Minuten später waren die Spieler wieder da. Falscher Alarm. Sie signalisierten dem Schiedsrichter ihre Rückkehr und liefen aufs Feld, als wären sie nie fort gewesen.
Eine Sache, die nie in Gänze aufgeklärt wurde, ist die Historie der Liga. Sie hängt nicht an den bier- und steakbeladenen Tresen des Mermaid-Pubs oder des Atlantic Inns, sie ist nicht festgehalten in Ordnern oder Almanachen. Einer, der einst Buch führte, sei vor langer Zeit aufs Festland ausgewandert, heißt es. Niemand weiß, ob er noch lebt. „Frag Stomper“, sagen sie in der Stadt. Sie meinen Michael Balkuill, der in einem kleinen Krämerladen in Old Town arbeitet, etwa zehn Gehminuten von Hugh Town entfernt.
Zwei Teams, eine Liga – höchst seltsam
„An der Kirche rechts“, erklärt Andy Hicks, „dann der Straße folgen.“ An der Kirche hat die Straße einen ganz leichten Knick, es geht vorbei an drei, vier Häusern, der Hugh-Town-Suburbia, danach kommen die Felder, und dann sieht man, was es bedeutet, auf dieser Insel zu leben. Behutsam und doch energisch ziehen Blumenpflücker Narzissen aus der Erde, sie sind zu dritt. Manchmal passiert etwas, Bussarde schweben über das Feld, ein Traktor fährt vorbei, ein Mann bleibt am Holzzaun stehen, stopft seine Pfeife nach und schaut ihnen bei der Arbeit zu.
Dann erheben sich die Blumenpflücker aus ihrer gebückten Stellung und halten für einen kleinen Moment inne. Einer von ihnen trägt einen dicken Manchester-United-Pullover, die Wollmütze hat er tief ins Gesicht gezogen. Er sitzt bei nahezu jedem Spiel der Premier League im Pub, die lokale Scilly League interessiert ihn aber nicht. Zwei Teams, eine Liga – höchst seltsam, findet er das. Er sagt: „Ich mag Blumen.“
Es ist ein Knochenjob, doch er ist sicher und einer der wenigen Jobs auf Scilly, die saisonunabhängig sind, denn der nahe Golfstrom sorgt für ein mildes Klima, und die Blumen sprießen das ganze Jahr über. Der Laden, in dem Michael Balkuill arbeitet, liegt direkt an der Old Town Lane, dort, wo der alte Austin parkt, nur vorbei an dem Holzpfeil, auf den jemand „Nowhere“ geschrieben hat, dahinter der Friedhof, die See, Wasser, das die Klippen umspült, noch ein Gemüsegarten, nichts weiter. Dann der Laden. Es riecht nach Algen.
Das Geschäft ist groß genug für einen kleinen Tisch, auf dem die Kasse steht, daneben eine Eistruhe, an der Wand ein paar Regale mit dem Nötigsten: Toilettenpapier, Nudeln, Seife, Kekse. Sie nennen Michael Balkuill den „Stomper“, weil an ihm alles mächtig ist: die Ohren, der Kopf, das Kinn, der ganze Körper, eine Kaffeetasse in seiner Hand wirkt wie Puppenspielzeug. Balkuill lebt seit 50 Jahren auf St. Mary‘s, aufgewachsen ist er in Plymouth, er arbeitete dort als Handwerker. Eines Tages erfuhr sein Chef, dass sie auf St. Mary‘s Klempner suchten, und so schickte er Balkuill hinunter; Ostern 1960 war das. Eigentlich sollte er nach sechs Wochen zurückkommen, doch er blieb für immer. „Ich verliebte mich in Valerie und in die Insel. Als mein Großvater zum ersten Mal hier war, sagte er zu mir: ›Boy, das ist der beste Platz auf der ganzen Welt. Und du weißt, ich habe die ganze Welt gesehen.‹“
„Spielst du Fußball?“
Den Großvätern seiner Freunde hörte Balkuill dabei zu, wenn sie die Geschichten der frühen Ligajahre erzählten. In den Zwanzigern, berichteten sie, habe es zum ersten Mal Fußball auf den Scillies gegeben. Damals spielten die Inseln St. Mary‘s, Tresco, St. Martin’s, Bryher und St. Agnes den Lyonnesse Inter-Island Cup aus. Das war für jene Jahre überaus bemerkenswert, denn auf den anderen Inseln lebten kaum mehr als 100 Menschen. Als Balkuill 1960 nach St. Mary‘s kam, sah er am Mermaid-Pub einen Zettel, auf den jemand geschrieben hatte: „Spielst du Fußball?“
In jenen Jahren hießen die Teams auf St. Mary‘s noch Rangers und Rovers. Balkuill begann für das Team der Rangers zu spielen, das vornehmlich aus Zugezogenen bestand. Die Rovers hingegen galten als der Klub der Arbeiterklasse und der Einheimischen. Von den Nachbarinseln waren zu jener Zeit lediglich die Teams aus Tresco und St. Martin’s übriggeblieben. „Besonders hart ging es gegen die St. Martin’s Rebels zur Sache“, erinnert sich Balkuill. „Bei den Matches standen die Frauen der Spieler dicht am Feld und traten nach unseren Beinen, wenn wir die Seitenlinie entlangliefen.“ Doch auch auf Tresco und St. Martin‘s bekamen sie immer mehr Schwierigkeiten, genügend Leute für ihre Mannschaften zu mobilisieren, viele wurden zu alt, einige wechselten zum Cricket, zudem bedeuteten die Überfahrten jedes Mal einen immensen organisatorischen Aufwand.
So blieben irgendwann nur noch die Teams auf St. Mary‘s zurück. Die Rovers und Rangers starteten eine eigene Meisterschaft, wenngleich die größte Herausforderung darin bestand, gegen auswärtige Mannschaften zu bestehen. So etwa im Sommer 1965: Ein riesiger Navy-Zerstörer lag seit Tagen vor der Küste von St. Mary‘s. Bald erfuhren die Matrosen, dass auf der Insel Fußball gespielt wird und forderten die heimischen Mannschaften zum Duell. „Es war brutal, die Männer waren gestählte Navy-Typen, und sie gingen in Zweikämpfe ohne Rücksicht auf Verluste. Doch auch wir liebten dieses harte Spiel“, schwärmt Balkuill.
Die Rangers spielten die Matrosen in Grund und Boden, und als Balkuill in der 70. Minute sein viertes Tor geschossen hatte, fragte sein Trainer: „Willst du raus, Mike?“ Er antwortete: „Noch zwei Minuten.“ Im selben Moment giftete sein Gegenspieler: „Du gehst jetzt!“ Er rammte ihm seinen Ellbogen ins Gesicht und schlug ihm die vordere Zahnreihe aus. „Was hast du gemacht?“, fragt Valerie. „Ich brach ihm das Fußgelenk“, sagt Stomper, „danach bin ich mit ihm für ein paar Pints in den Pub. Später sind wir zusammen zum Arzt.“
Keine Liga ohne sportmanship
Diesen besonderen Geist, in England nennen sie ihn sportsmanship, beschwören sie auf der ganzen Welt, doch vermutlich nirgendwo so sehr wie im britischen Fußball. So hart und brutal es mitunter auf dem Fußballplatz zugeht, nach dem Spiel stoßen sie im Pub an, und alles, was in den Stunden zuvor die Gemüter erhitzte, ist vergessen. Auf St. Mary‘s würde die Liga ohne sportsmanship nicht funktionieren, das Inselidyll würde in sich zusammenfallen, weil die meisten Spieler im selben Betrieb arbeiten oder gar unter einem Dach wohnen.
Mark Twynham, 43, liebt die Erzählungen von Männern wie Stomper. Er besitzt den einzigen Sportpub der Scillies, das „Bishop and Wolf“. Früher hörte er dem inzwischen verstorbenen Skipper Williams zu, später Grant Tucker, der vor Jahren schon aufs Festland verzogen ist, kantige Männer, die aus einer vergessenen Zeit berichteten, von Spielen, als die Knochen noch knackten, als es im Fußball um mehr ging als um Leben und Tod.
„Weißt du, Fußball braucht schöne Tore und Hackentricks. Doch er braucht vor allem den Wettbewerb. Sieger und Verlierer“, sagt er. „Deswegen haben wir ja die Liga. Manchmal gehst du mit 1:6 runter, doch du weißt: Nächste Woche geht der Kampf von vorne los.“
„Das härteste Spiel, das ich je erlebt habe“
Vor einigen Jahren, erzählt er, haben sie in der örtlichen Schule und auch im restlichen Königreich angefangen, den Kids zu erzählen, es gehe beim Sport nur ums Mitmachen. Und plötzlich gab es in der Scilly Football League keine Zweikämpfe mehr, Tacklings und Grätschen verschwanden vollends. Die Spiele nahmen den Charakter von Freundschaftsspielen an, und die Pfeife des Schiedsrichters ertönte bei nahezu jeder Berührung. Immer wieder beteten sie ihr Credo: Dabei sein ist alles. „Das ist doch großer Quatsch!“ schimpft Twynham mit sonorer Bassstimme, lehnt sich vor und brummt im breitesten Kornisch: „Ich will Spiele, bei denen ich noch Tage später den Rasen riechen kann.“
Heute sei es wieder besser geworden, auf dem Garrison Field tacklen sie wieder, und die letzten Saisons wurden alle am finalen Spieltag entschieden. Dann berichtet er von den Reisen, die das St. Mary‘s‑Allstar-Team jedes Jahr im März aufs Festland unternimmt. Es geht häufig gegen Falmouth Town, die normalerweise in der South Western League spielen. „Letztes Jahr war es unmenschlich. Die dachten, dass sie uns zweistellig putzen würden. Schnell führten sie tatsächlich 2:0. Doch wir spielten uns in einen Rausch. Am Ende stand es 2:2. Es war das härteste Spiel, das ich je erlebt habe.“
Kurz braust er auf, seine Stimme beginnt zu kippen. Dann Stille. Twynham blickt durch seinen Pub, an der Wand hängt die Geschichte des englischen Fußballs. Als sein Vater zurück aufs Festland ging, hinterließ er ihm etliche Devotionalien, etwa das Programmheft des WM-Endspiels 1966 samt Eintrittskarte, Rosetten von Leicester City und West Bromwich aus den sechziger Jahren oder ein Leeds-Trikot vom Centenary-Cupfinale 1972. In einer Vitrine stehen die Pokale der Scilly League. Dann sammelt sich Twynham wieder und nuschelt: „Pal! It was the toughest game ever.“
Leg‘ dich nicht mit dem Schiri an!
Momentan spielt Twynham für die Woolpack Wanderers im Tor. Früher war er Stürmer, doch das mit der Fitness läuft nicht mehr so gut, sagt er, und dann streicht über seinen großen Bauch, der die Blousontrainingsjacke spannt. Es gab sogar Spiele, da half Twynham als Linienrichter aus, die Lust daran ist ihm vor einiger Zeit vergangen. „Es war ein Schützenfest, die Gunners schossen damals ein Tor nach dem anderen. Allerdings“, sagt er, und auch wenn er grinst, wird die Stimme wieder lauter, „drei waren mindestens Abseits.“ Twynham wedelte jedes Mal, doch der Schiedsrichter, der einzige der Insel, der jedes Spiel pfeift, ignorierte ihn. Irgendwann war Twynham so wütend, dass er seine Fahne auf den Boden warf. Der Referee wühlte in seiner Gesäßtasche und zeigte ihm die Rote Karte. Twynham pöbelte lautstark. Aber es nützte nichts, verbittert verließ er das Feld.
Es heißt, Insulaner seien eigen, wundersam. „Nah ist nur Innres; alles andre fern“, schrieb Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Die Insel“. Vorletztes Jahr machten sich der damalige Gunners-Spieler Tim Garratt mit seinen drei Freunden Wayne Davey, Chris Jenkins und Joby Newton auf den Weg nach New York. Sie wollten den Atlantik im Ruderboot überqueren, einen Rekord brechen, der 1896 aufgestellt wurde. Dafür mussten sie 3100 Seemeilen in weniger als 55 Tagen zurücklegen. Sie kenterten 650 Meilen vor der US-Küste und kämpften mehrere Stunden im eiskalten Wasser ums Überleben. Ein Öltanker las sie auf. Als sie in St. Mary‘s ankamen, standen die Inselbewohner am Hafen, viele hatten Freudentränen in den Augen; sie schlossen ihre verlorenen Söhne in ihre Arme.
Viele Jugendliche kehren nicht zurück. Für Schulabschlüsse und Universitäten gehen sie aufs Festland. Wenn sie ihre Magister und Diplome gemacht haben, vier Fremdsprachen beherrschen, wissen, wie große Firmen funktionieren, philosophische Abhandlugen schreiben können oder sogar Anschluss an professionellere Fußballligen gefunden haben, erscheinen die Scillies mit einem Mal so klein, wie sie wirklich sind.
Die meisten Bewohner der Inseln arbeiten im Tourismus, der über 90 Prozent des Haushalts ausmacht. Ab März kommen etliche Saisonarbeiter vom Festland, die, sobald Ende Oktober die letzten Touristen verschwunden sind, in ihre Städte, nach Plymouth oder Falmouth, zurückkehren. Die, die bleiben, arbeiten als Maler oder Blumenpflücker. Im Winter setzen schließlich Rattenfänger von Cornwall aus über, um die Insel von den Schädlingen zu befreien, die sich im milden Klima rasant vermehren.
Der gefühlvolle Pike
Ein anderes Problem sind die hohen Lebenshaltungskosten und Mieten auf den Scillies. Die gefragten Wohnungen sind lange schon von Auswärtigen gekauft und in Ferienappartments umgestaltet worden – sie stehen von Oktober bis April leer. Die Inselverwaltung versucht zwar, dem entgegenzusteuern, allerdings nur halbherzig. Einige Scillonians behaupten, die Locals seien über die Jahre auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt worden.
Die Liga leidet unter den Folgen der dauerhaften Fluktuation und läuft ständig Gefahr, bald keine Spieler mehr zu haben. Dass es in den letzten Jahren immer zwei Teams gab, lag vornehmlich daran, dass die Liga kein Alter und keine Bäuche kennt. Jeder, der motiviert ist, bekommt eine Chance: der 68-jährige Charles Wood ebenso wie der gut genährte Mark Twynham mit 42 Lenzen oder das 16-jährige Fliegengewicht Jack Stone. Zwei Mannschaften, die ausschließlich aus Männern im besten Fußballeralter bestehen, wird es hier nie geben – doch letztlich, so betonen sie, ist das auch nicht das Ziel.
Hicks ist nah dran an den Jugendlichen, die vor der großen Entscheidung ihres Lebens stehen: Insel- oder Stadtleben. Er kümmert sich um die Jugendmannschaften. Andy Hicks hat etwa Kevin Pike spielen sehen, der auf die Insel kam, als er 15 war. Später spielte Pike in der Reservemannschaft des Zweitligisten Preston North End FC. Noch heute schwärmt er von ihm: „Nie zuvor und nie wieder danach konnte auf St. Mary‘s jemand so gefühlvoll mit dem Ball umgehen.“
Pike ist allerdings eine von wenigen Ausnahmen, die nach ihrer Zeit bei den Gunners oder den Wanderers einen solchen Sprung gemacht haben. Die Ursache ist auch hier der Mangel an Spielern. So finden sich in guten Zeiten gerade mal 16 Junioren, die dann acht gegen acht auf einem halben Feld spielen können. Wenn es soweit ist, dass die Jungs aufs Festland gehen, also mit 16 oder 17, wenn sie bereit sind, sich für größere Teams zu empfehlen, ist für sie der Zug längst abgefahren. Gegen Spieler, die schon mit sieben Jahren in Fußballakademien eintreten, die seit jeher wissen, wie sie sich auf einem großen Feld bewegen müssen, haben die Jungs von den Scilly Islands keine Chance.
„Ich überlege häufig, die Insel wieder zu verlassen“
Aber Hicks hat Visionen, kleine Hoffnungen, dass es in den nächsten Jahren besser wird. Seit einiger Zeit findet ein regelmäßiger Austausch mit Trainern vom englischen Zweitligisten Plymouth Argile statt. Momentan hat es Hicks und den Argile-Trainern ein Mädchen angetan. Die 15-jährige Beth Thomas zählt er heute in ihrer Altersklasse zu den besten drei Kickern der Scillies. Da sie jahrelang nur mit älteren Jungs trainierte, lernte sie eine Aggressivität und Härte kennen, die vielen ihrer heutigen Mitspielerinnen fremd sind. Beth Thomas steht momentan bei einem Team in Cornwall unter Vertrag, so dass sie nahezu jedes Wochenende aufs Festland fliegen muss. In den Pubs erzählt man sich, dass sie bei Scouts von Arsenal auf dem Zettel steht. Sicher sind sie alle: Beth Thomas wird über kurz oder lang auf dem Festland bleiben.
„So sehr ich es hier liebe: Auch ich überlege häufig, die Insel wieder zu verlassen“, sagt Andy Hicks. Ihn treibt aber nicht der Fußball an oder die Sehnsucht nach der großen Stadt, er vermisst hier kein Kino oder den wöchentlichen Stadionbesuch, Dinge, die für Stadtbewohner alltäglich sind. Ihm fehlt seine dreijährige Tochter Lauren, die mit ihrer Mutter in Cornwall lebt.
Als er sie kennenlernte, arbeitete sie für die Helikopter-Gesellschaft, und Andy Hicks hoffte, dass sie auf den Scillies bleiben würde. „Ich hoffte, dass sie es lieben würde wie ich, doch sie tat es nicht. Sie ging zurück aufs Festland.“ Seitdem hinterfragt Hicks fast täglich seinen Lebensentwurf, home is nun mal where your heart is, doch wo ist es denn, fragt Hicks sich: Soll er aufs Festland ziehen, um bei seiner Familie zu sein? Oder soll er auf St. Mary‘s bleiben, wo der Fußball und seine Arbeit sind, wo seine Eltern und seine Freunde leben? „Vielleicht kehren beide eines Tages zurück.“
Aber er weiß auch, dass die Scillies, 45 Kilometer vor der Küste Englands und doch am Ende der Welt, für viele Menschen rätselhaft bleiben. „Für viele„ sagt Hicks. „sind die Inseln, das Leben an der Brandung und in den Novemberstürmen unverstehbar. Für viele sind die Scillies nichts weiter als: Pubs, Fischen – und Fußball.“