Fernsehexperte Mehmet Scholl kritisiert die Umstellung auf eine Dreierkette – die Spieler verteidigen den Plan des Trainerteams.
Urs Siegenthaler war ein bisschen spät dran, aber er fand noch genügend Leute vor, die er herzen und beglückwünschen konnte. Zunächst seinen Adlatus Christopher Clemens, später auch den Bundestrainer, der nach seiner inneren Einkehr in der Kabine noch einmal aufs Feld zurückgekehrt war.
Siegenthaler hatte sich während des Elfmeterschießens nicht an der Seitenlinie eingehakt im deutschen Tross, er war wie immer auf der Tribüne seiner Beobachtungstätigkeit nachgegangen. Dass der Schweizer so spät auftauchte, lag allerdings nicht daran, dass er während des EM-Viertelfinales ein Nickerchen gemacht hatte.
Mehmet Scholl, der Experte der ARD, hatte das ja als Variante für die Zukunft ins Spiel gebracht. Der Schweizer Siegenthaler, Chefscout der Nationalelf, solle künftig lieber liegen bleiben, anstatt sich ins operative Geschäft einzumischen. Scholl hatte den 68-Jährigen als eigentlichen Urheber des taktischen Plans von Joachim Löw für das Viertelfinale identifiziert.
„Das war unmöglich, wie Mehmet das dargestellt hat“
Anders als in den vorangegangenen vier Begegnungen hatte der Bundestrainer diesmal eine Dreier- statt einer Viererkette aufgeboten. „Joachim Löw wacht nicht nachts auf und sagt: ›Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette.‹ Warum bringt man eine Mannschaft, die so funktioniert, in so eine Situation?“, zeterte Scholl. „Urs Siegenthaler soll seinen Job machen – und morgens liegen bleiben.“
Vor allem Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, wollte das nicht auf der sportlichen Leitung sitzen lassen. „Eigentlich hat er den gesamten Trainerstab damit irgendwie angegriffen“, sagte Bierhoff. „Das war unmöglich, wie Mehmet das dargestellt hat.“
Scholl mag als Trainer noch nicht als die ganz große Leuchte aufgefallen sein, er vertritt eher antiquierte Ansichten, hat sich zum Beispiel sehr wohlwollend über die fachlichen Qualitäten seines alten Kumpels Stefan Effenberg ausgelassen – aber Scholl besitzt ohne Zweifel ein gutes Gespür für die Schwingungen im Volk, das seit dem verlorenen EM-Halbfinale 2012 ein bisschen skeptisch ist, wenn Joachim Löw glaubt, einen besonders tollen Plan zu haben. Damals hatte er für den Massengeschmack die eigene Taktik zu sehr an den Italienern ausgerichtet, anstatt die Mannschaft einfach ihr Ding durchziehen zu lassen.
„Wir haben gezeigt, dass eine Idee Talent schlagen kann“
„Ich weiß, dass über so was auch diskutiert worden ist“, sagte Löw nach dem Einzug ins EM-Halbfinale. „Aber es war dringend notwendig, die Mannschaft ein bisschen zu verändern.“ Er hatte schon vor dem Viertelfinale erzählt, dass man im Trainerstab durchspielen werde, was die Italiener dächten, wie die Deutschen spielten.
Noch bevor die Begegnung angepfiffen worden war, war sie bereits ein Trainerspiel. Löw war überzeugt, dass er sich gegen Antonio Conte etwas würde einfallen lassen müssen. Italiens Trainer hatte nach dem Sieg im Achtelfinale gegen Spanien gesagt: „Wir haben gezeigt, dass eine Idee Talent schlagen kann.“
Löw musste also davon ausgehen, dass selbst das herausragende Talent seines Teams gegen die abgezockten Italiener nicht reichen würde. Ihnen mit einer Dreierkette zu begegnen, „das war mein erster Gedanke“.
Der Plan ging insofern auf, als die Deutschen – anders als die Spanier – gefährliche Angriffe beinahe komplett unterbanden. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass die Italiener aus dem Spiel heraus ein Tor erzielen“, sagte Löw.
Der Ausgleich fiel nach einem Elfmeter, den Jérôme Boateng etwas leichtfertig verschuldet hatte. So fühlte sich der Bundestrainer in seiner Idee bestätigt. „Die Italiener spielen immer gleich, von außen in die Mitte, und dann versuchen sie abzulegen und die Tiefe zu gehen. Sie machen es super, aber es ist leicht berechenbar. Deswegen mussten wir das Zentrum zumachen.“
Dass die defensive Stabilität zulasten der Offensive ging, dass die Deutschen nicht immer zwingend wirkten, versetzte Scholl in Wallung. Löw nahm es billigend in Kauf. „Wir haben ein bisschen gebraucht, um das Offensivspiel anzukurbeln“, sagte Jonas Hector.
„Wärst du bei mir gewesen, wir wären jetzt Europameister.“
Thomas Müller klagte, dass man im Mittelfeld ab und zu hinterhergelaufen sei, „aber im Großen und Ganzen ist es aufgegangen“. Müller verteidigte auch Urs Siegenthaler gegen die Vorwürfe Scholls. „Er filetiert die Gegner und bereitet dem Trainer mit seiner guten Analyse alles vor.“
2012, bei der Europameisterschaft, war Siegenthaler als Ratgeber des Bundestrainers ausgefallen, weil er schwer erkrankt war. Joachim Löw hat später einmal zu Siegenthaler gesagt: „Urs, wärst du bei mir gewesen, wir wären jetzt Europameister.“