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Der alte Mann, der seine Dogge durch den Volks­park spa­zierte, wun­derte sich, wieso strebten diese Fans sta­di­onwärts, die Saison war doch vorbei, er fragte in den Pulk hinein: Worum geht es denn heute?“ Laut und harsch wurde ihm aus dem Pulk geant­wortet: Um alles!“ Es sollte dies das Motto und der Ton sein am 25. Mai, leerer, blauer Himmel über Ham­burg, der Tag, an dem der HSV seine Zukunft ver­han­delte.

Das Ergebnis ist mitt­ler­weile bekannt, man glie­dert sich aus, 86,9 Pro­zent Zustim­mung. Aber vor dieser Zahl lag ein Mara­thon, eine Tour de Force, auch: eine Tour de Farce. Es wurde geklatscht und gebuht, gejohlt und getobt, gehasst, geliebt, gehass­liebt. Sechs Stunden und sieben Minuten, in denen der HSV viel über sich erfahren hat.

„…als wenn das Spaß ist. Aber das ist doch Ernst.“

Es begann damit, dass es nicht begann. Auch nach elf Uhr drängten noch Mit­glieder durch das Tor in die West­tri­büne des Volks­park­sta­dions, klas­sen­er­halts­fröh­lich fei­xend, erstmal an die Buden für ein spätes Früh­stück, für ein frühes Mittag, zur Revo­lu­tion wurden Fisch­bröt­chen und Bre­zeln geca­tert. Der Auf­sichts­rats­vor­sit­zende Jens Meier ver­schob den Start um fünf, zehn, fünf­zehn Minuten. In der vierten Reihe raunte eine tou­pierte Frau ihrem Begleiter zu: Die tun alle so, als wenn das Spaß ist. Aber das ist doch Ernst.“ Der Begleiter nickte quiz­du­ell­spie­lend. 154 Seiten zählte der Katalog zur Mit­glie­der­ver­samm­lung. Die Aus­glie­de­rungs­do­ku­men­ta­tion teilte sich in fünf Kapitel, zwanzig Unter­ka­pitel, drei­zehn Unter­un­ter­ka­pitel. Vier­zehn Anlagen lis­tete das Anla­gen­ver­zeichnis. Das war üppig, das war ernst.

HSVPlus hieß der Vor­schlag, über den der Dino­sau­rier abstimmen ließ. Wochen­lang hatten sich Gegner und Befür­worter in den lokalen Medien befehdet, mit einer Lei­den­schaft, die dem Bun­des­li­ga­team gut ange­standen hätte. Es ging immer um, genau, alles. Per­ver­tiert das Kon­zept die Tra­di­tion oder rettet es sie? Ist das nur eine Aus­glie­de­rung – oder schon der Aus­ver­kauf? Was pas­siert mit dem Verein, den Fans, dem Sta­dion, der Raute? Will man sich dieses Expe­ri­ment leisten? Bezie­hungs­weise: Kann man es sich leisten, es nicht zu wollen?

Hier wird doch seit 1963 nur ver­tagt!“

Der Verein giert ja auch nach HSVPlus, weil er im Minus kniet. Der ehe­ma­lige Auf­sichtsrat Ernst-Otto Rieck­hoff, der Vor­stands­vor­sit­zende Carl-Edgar Jar­chow und Sport­di­rektor Oliver Kreuzer haben geworben, Auf­sichtsrat Jürgen Hunke, Unter­nehmer Eugen Block und Spie­ler­le­gende Man­fred Kaltz haben gewarnt. Und dann, halb zwölf durch, wurde erstmal wei­ter­dis­ku­tiert. Zum Bei­spiel von Rainer Ferslev, Mit­glied bei den Kon­ter­re­vo­lu­tio­nären der HSV-Allianz, er bean­tragte, die Abstim­mung zu ver­tagen. Ein Pfeif­kon­zert strafte ihn ab, nichts sollte mehr ver­tagt werden. Ein Mitt­fünf­ziger mit effektiv durch­blu­tetem Gesicht brüllte gen Bühne: Hier wird doch seit 1963 nur ver­tagt!“ An der Bun­des­li­gauhr blät­terten sich lautlos die Sekunden um. 50 Jahre, 273 Tage und so weiter und so fort.

Es gab dort unten, auf der Bühne an der Sei­ten­linie, zwei Vor­stands­ge­sichter, die das High Noon des Events ziem­lich gut spie­gelten. Das eine gehört Carl-Edgar Jar­chow, es blieb unbe­wegt, keine Emo­tion, er kannte das alles, Rou­tine. Das andere gehört Oliver Kreuzer, es machte große Augen, lächelte, lachte, nicht nur belus­tigt, was für ein Wahn­sinn hier.

In einer sel­tenen Ruhe­pause beugte sich Kreuzer über das Mikrofon und sagte: Die A‑Jugend hat übri­gens ihr Spiel mit 3:1 gewonnen und den Klas­sen­er­halt geschafft.“ Sein ein­ziger Wort­bei­trag an diesem Sonntag wurde mit don­nerndem Applaus gou­tiert. Rou­tine und Wahn­sinn, das sind die beiden Stim­mungs­pole, beim Ham­burger SV über­lappen sie auch mal, da wird der Wahn­sinn zur Rou­tine, und das sieht dann so aus wie ges­tern.

Alles­scheiß­e­finder vs. Alles-wird-gut-Pro­pheten

Ferslev for­derte, dass Köpfe rollen müssen. Jürgen Hunke, früher Prä­si­dent, heute Dis­si­dent, wurde vom Pult gebuht. Sein Nach­redner dozierte aus­la­dend über Heu­schre­cken und Hedge­fonds, der Auf­sichtsrat Chris­tian Strauß erei­ferte sich unter Pfiffen gegen die Struk­tur­re­form. Fan­ein­peit­scher Jojo Liebnau bedingte sich Ruhe aus und bekam: das Gegen­teil. Jeder durfte mal, die kon­se­quenten Alles­scheiß­e­finder genauso wie die Alles-wird-gut-Pro­pheten. Ein Thomas Bern­hard hätte an dieser Beschimp­fungs­lust seine helle Freude gehabt.

Wäh­rend der Rede von Man­fred Ertel, ehedem Chef des Auf­sichts­rates, erbrach sich im Ober­rang ein Mann mit Uwe-Seeler-Trikot in einen Müll­eimer, ver­ka­tert natür­lich, aber seine Ent­lee­rung hätte auch als poli­ti­sches State­ment funk­tio­niert. Ordent­liche Mit­glie­der­ver­samm­lung, dieses Rubrum war spä­tes­tens am Nach­mittag ad absurdum geführt.

Jeder Satz ein Shit­s­torm

Man­fred Ertel keilte gegen Carl-Edgar Jar­chow („Sie wird es doch bald nicht mehr geben“), den kol­por­tieren Dietmar Bei­ers­dorfer („Habt ihr über­haupt eine Zusage von dem?“) und HSVPlus („Das ist eine Nord­ko­reo­klausel“), jeder Satz ein Shit­s­torm. Um die Sache ging es nicht bei allen Bei­trägen, und bei den Reak­tionen schon gar nicht. Spür- und hörbar arbei­tete sich da ein Verein an sich selbst ab, the­ra­pierte sich vor aller Augen, zer­mürbt von der schlech­testen Saison aller Zeiten, auf­ge­rieben zwi­schen ewigem Traum und akutem Trauma.

Es reichte ein fal­sches Wort der Redner, damit sich die Wut über die West­tri­büne trug wie ein hoch­in­fek­tiöser Virus. Schnell erin­nerte das impro­vi­sierte Podest an ein Stand­ge­richt, auf dem die Ver­feh­lungen der letzten Jahre abge­büßt werden sollten, Blitz­pro­zess für Ver­ant­wort­liche und Ex-Ent­schei­dungs­träger, im Namen der Fans ergeht fol­gendes Urteil. 9702 Stimm­be­rech­tigte, jeder mit eigener Mei­nung, und wer keine hatte, über­nahm die des Sitz­nach­barn.

Irgend­wann wurde dafür votiert, die Red­ner­liste zu schließen. Man wollte dann doch gerne vor Wochen­an­fang über HSVPlus befinden.

Als das Selbst­dar­stel­lungs­spek­takel also end­lich in die Abstim­mung mün­dete, war es 16:15 Uhr. Über die Plas­tik­schalen hatte sich eine gewisse Ermat­tung gebreitet, zurück­führbar auch auf den Fili­buster von Jar­chow, der mit vielen Neben­sätzen durch das Kon­zept mäan­dert war. Büt­ten­redner wird der grau­me­lierte Han­seat nicht mehr. Hyper­nervös fum­melte der Anhang seine Chip­karten in die Wahl­ge­räte, Tages­ord­nungs­punkt 8.1, Ja, Nein, Ent­hal­tung.

Eine junge Frau reichte ihr Kind einem per­plexen Ordner in den Arm, um besser abstimmen zu können, sie drückte den Knopf so fest, als könne sie so den Club direkt in die Cham­pions League beamen. Smart­phones nahmen die Anzei­ge­ta­feln für einen his­to­ri­schen Schnapp­schuss ins Visier. Es war unwirk­lich still.

Dann: Jubel.

Eine Stunde vorher hatte man im Are­n­a­bauch noch Bernd Hoff­mann stehen sehen. Der Mann, der dem HSV acht Jahre als Vor­stands­vor­sit­zender gedient hatte, gabelte sich, an eine Stahltür gelehnt, Pommes und Cur­ry­wurst in den Mund. Er trug Polo­hemd zur Car­go­hose. Hinter seinem Rücken fin­ger­zeigten die Leute auf ihn, aber nie­mand kam herbei. Kein Moin, kein Gruß, kein Schul­ter­klopfer. Auch Hoff­mann per­so­ni­fi­zierte in diesem Moment die Ver­gan­gen­heit, mit der man beim HSV abschließen wollte. Er leerte seine Papp­schale, blickte sich nochmal um und ent­schwand in die Menge.