Der HSV gliedert seine Profis aus, knapp 87 Prozent stimmen zu. Aber was steckt hinter dem Ergebnis? Wie verändert sich ein Verein, wenn er der Katastrophe entgeht und dann die Zukunft plant? Wie viel Konfrontation darf, wie viel Friede muss sein? Ein Ortsbesuch in Hamburg-Stellingen.
Der alte Mann, der seine Dogge durch den Volkspark spazierte, wunderte sich, wieso strebten diese Fans stadionwärts, die Saison war doch vorbei, er fragte in den Pulk hinein: „Worum geht es denn heute?“ Laut und harsch wurde ihm aus dem Pulk geantwortet: „Um alles!“ Es sollte dies das Motto und der Ton sein am 25. Mai, leerer, blauer Himmel über Hamburg, der Tag, an dem der HSV seine Zukunft verhandelte.
Das Ergebnis ist mittlerweile bekannt, man gliedert sich aus, 86,9 Prozent Zustimmung. Aber vor dieser Zahl lag ein Marathon, eine Tour de Force, auch: eine Tour de Farce. Es wurde geklatscht und gebuht, gejohlt und getobt, gehasst, geliebt, gehassliebt. Sechs Stunden und sieben Minuten, in denen der HSV viel über sich erfahren hat.
„…als wenn das Spaß ist. Aber das ist doch Ernst.“
Es begann damit, dass es nicht begann. Auch nach elf Uhr drängten noch Mitglieder durch das Tor in die Westtribüne des Volksparkstadions, klassenerhaltsfröhlich feixend, erstmal an die Buden für ein spätes Frühstück, für ein frühes Mittag, zur Revolution wurden Fischbrötchen und Brezeln gecatert. Der Aufsichtsratsvorsitzende Jens Meier verschob den Start um fünf, zehn, fünfzehn Minuten. In der vierten Reihe raunte eine toupierte Frau ihrem Begleiter zu: „Die tun alle so, als wenn das Spaß ist. Aber das ist doch Ernst.“ Der Begleiter nickte quizduellspielend. 154 Seiten zählte der Katalog zur Mitgliederversammlung. Die Ausgliederungsdokumentation teilte sich in fünf Kapitel, zwanzig Unterkapitel, dreizehn Unterunterkapitel. Vierzehn Anlagen listete das Anlagenverzeichnis. Das war üppig, das war ernst.
HSVPlus hieß der Vorschlag, über den der Dinosaurier abstimmen ließ. Wochenlang hatten sich Gegner und Befürworter in den lokalen Medien befehdet, mit einer Leidenschaft, die dem Bundesligateam gut angestanden hätte. Es ging immer um, genau, alles. Pervertiert das Konzept die Tradition oder rettet es sie? Ist das nur eine Ausgliederung – oder schon der Ausverkauf? Was passiert mit dem Verein, den Fans, dem Stadion, der Raute? Will man sich dieses Experiment leisten? Beziehungsweise: Kann man es sich leisten, es nicht zu wollen?
„Hier wird doch seit 1963 nur vertagt!“
Der Verein giert ja auch nach HSVPlus, weil er im Minus kniet. Der ehemalige Aufsichtsrat Ernst-Otto Rieckhoff, der Vorstandsvorsitzende Carl-Edgar Jarchow und Sportdirektor Oliver Kreuzer haben geworben, Aufsichtsrat Jürgen Hunke, Unternehmer Eugen Block und Spielerlegende Manfred Kaltz haben gewarnt. Und dann, halb zwölf durch, wurde erstmal weiterdiskutiert. Zum Beispiel von Rainer Ferslev, Mitglied bei den Konterrevolutionären der HSV-Allianz, er beantragte, die Abstimmung zu vertagen. Ein Pfeifkonzert strafte ihn ab, nichts sollte mehr vertagt werden. Ein Mittfünfziger mit effektiv durchblutetem Gesicht brüllte gen Bühne: „Hier wird doch seit 1963 nur vertagt!“ An der Bundesligauhr blätterten sich lautlos die Sekunden um. 50 Jahre, 273 Tage und so weiter und so fort.
Es gab dort unten, auf der Bühne an der Seitenlinie, zwei Vorstandsgesichter, die das High Noon des Events ziemlich gut spiegelten. Das eine gehört Carl-Edgar Jarchow, es blieb unbewegt, keine Emotion, er kannte das alles, Routine. Das andere gehört Oliver Kreuzer, es machte große Augen, lächelte, lachte, nicht nur belustigt, was für ein Wahnsinn hier.
In einer seltenen Ruhepause beugte sich Kreuzer über das Mikrofon und sagte: „Die A‑Jugend hat übrigens ihr Spiel mit 3:1 gewonnen und den Klassenerhalt geschafft.“ Sein einziger Wortbeitrag an diesem Sonntag wurde mit donnerndem Applaus goutiert. Routine und Wahnsinn, das sind die beiden Stimmungspole, beim Hamburger SV überlappen sie auch mal, da wird der Wahnsinn zur Routine, und das sieht dann so aus wie gestern.
Allesscheißefinder vs. Alles-wird-gut-Propheten
Ferslev forderte, dass Köpfe rollen müssen. Jürgen Hunke, früher Präsident, heute Dissident, wurde vom Pult gebuht. Sein Nachredner dozierte ausladend über Heuschrecken und Hedgefonds, der Aufsichtsrat Christian Strauß ereiferte sich unter Pfiffen gegen die Strukturreform. Faneinpeitscher Jojo Liebnau bedingte sich Ruhe aus und bekam: das Gegenteil. Jeder durfte mal, die konsequenten Allesscheißefinder genauso wie die Alles-wird-gut-Propheten. Ein Thomas Bernhard hätte an dieser Beschimpfungslust seine helle Freude gehabt.
Während der Rede von Manfred Ertel, ehedem Chef des Aufsichtsrates, erbrach sich im Oberrang ein Mann mit Uwe-Seeler-Trikot in einen Mülleimer, verkatert natürlich, aber seine Entleerung hätte auch als politisches Statement funktioniert. Ordentliche Mitgliederversammlung, dieses Rubrum war spätestens am Nachmittag ad absurdum geführt.
Jeder Satz ein Shitstorm
Manfred Ertel keilte gegen Carl-Edgar Jarchow („Sie wird es doch bald nicht mehr geben“), den kolportieren Dietmar Beiersdorfer („Habt ihr überhaupt eine Zusage von dem?“) und HSVPlus („Das ist eine Nordkoreoklausel“), jeder Satz ein Shitstorm. Um die Sache ging es nicht bei allen Beiträgen, und bei den Reaktionen schon gar nicht. Spür- und hörbar arbeitete sich da ein Verein an sich selbst ab, therapierte sich vor aller Augen, zermürbt von der schlechtesten Saison aller Zeiten, aufgerieben zwischen ewigem Traum und akutem Trauma.
Es reichte ein falsches Wort der Redner, damit sich die Wut über die Westtribüne trug wie ein hochinfektiöser Virus. Schnell erinnerte das improvisierte Podest an ein Standgericht, auf dem die Verfehlungen der letzten Jahre abgebüßt werden sollten, Blitzprozess für Verantwortliche und Ex-Entscheidungsträger, im Namen der Fans ergeht folgendes Urteil. 9702 Stimmberechtigte, jeder mit eigener Meinung, und wer keine hatte, übernahm die des Sitznachbarn.
Irgendwann wurde dafür votiert, die Rednerliste zu schließen. Man wollte dann doch gerne vor Wochenanfang über HSVPlus befinden.
Als das Selbstdarstellungsspektakel also endlich in die Abstimmung mündete, war es 16:15 Uhr. Über die Plastikschalen hatte sich eine gewisse Ermattung gebreitet, zurückführbar auch auf den Filibuster von Jarchow, der mit vielen Nebensätzen durch das Konzept mäandert war. Büttenredner wird der graumelierte Hanseat nicht mehr. Hypernervös fummelte der Anhang seine Chipkarten in die Wahlgeräte, Tagesordnungspunkt 8.1, Ja, Nein, Enthaltung.
Eine junge Frau reichte ihr Kind einem perplexen Ordner in den Arm, um besser abstimmen zu können, sie drückte den Knopf so fest, als könne sie so den Club direkt in die Champions League beamen. Smartphones nahmen die Anzeigetafeln für einen historischen Schnappschuss ins Visier. Es war unwirklich still.
Dann: Jubel.
Eine Stunde vorher hatte man im Arenabauch noch Bernd Hoffmann stehen sehen. Der Mann, der dem HSV acht Jahre als Vorstandsvorsitzender gedient hatte, gabelte sich, an eine Stahltür gelehnt, Pommes und Currywurst in den Mund. Er trug Polohemd zur Cargohose. Hinter seinem Rücken fingerzeigten die Leute auf ihn, aber niemand kam herbei. Kein Moin, kein Gruß, kein Schulterklopfer. Auch Hoffmann personifizierte in diesem Moment die Vergangenheit, mit der man beim HSV abschließen wollte. Er leerte seine Pappschale, blickte sich nochmal um und entschwand in die Menge.