Am 08. Mai 1974 gewinnt der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger. Ein fast vergessener Triumph.
Hinweis: Dies ist ein Text aus unserem Archiv. Im Januar dieses Jahres gründete der 1. FC Magdeburg einen Arbeitskreis, um die Rolle Heinz Krügers im Nationalsozialismus zu untersuchen. Seit 2014 ist bekannt, dass Krügel Mitglied der Waffen-SS war.
Um 22.15 Uhr flackern im Stadion „De Kuip“ in Rotterdam die rot-schwarzen Fahnen, verbrannt von enttäuschten Anhängern des AC Milan, während unten auf dem Rasen die Spieler des 1. FC Magdeburg mit dem Europapokal der Pokalsieger auf eine Ehrenrunde gehen. Entrückte Gesichter, Umarmungen, der silberne Henkeltopf und strahlend weiße Malimo-Bademäntel aus Limbach-Oberfrohna, die ihnen die Mannschaftsbetreuer nach dem Schlusspfiff übergeworfen haben.
Es war ein Triumph in einem merkwürdigen Spiel. Nicht mal 5000 Zuschauer waren zugegen, weil die Fans des 1. FC Magdeburg nicht reisen durften, weil die Holländer sich nicht für das Finale interessierten und weil die Tifosi die Partie schon vor dem Anpfiff entschieden wähnten. Hier die Weltstars aus Mailand um Gianni Rivera und Karl-Heinz Schnellinger, dort eine Magdeburger Regionalauswahl. International unbekannte Burschen: Manfred Zapf, Jürgen Sparwasser, Axel Tyll und Wolfgang „Paule“ Seguin, dazwischen ein Junge aus der Bezirksliga-Reserve, Helmut Gaube, den Trainer Heinz Krügel für den gesperrten Klaus Decker in die Mannschaft genommen hatte. Er verfolgte Weltstar Rivera über neunzig Minuten auf Schritt und Tritt.
Gegen ein Bierchen hatte Krügel nichts einzuwenden
Sie alle stammten aus Magdeburg und Umgebung, aus Wegeleben, Stapelburg, aus Darlingerode und Gommern. Junge Kerle, die meisten Anfang Zwanzig. Viele von ihnen waren beim SKET beschäftigt, dem „Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann“. Trainiert wurde abends, mit dem Fahrrad fuhren sie zum Vereinsgelände im Stadtteil Cracau. Die Karriere als Fußballer verschaffte ihnen die Mehrraumwohnung im Neubau. Aber wie lange es wohl noch dauern würde, bis der bestellte Trabant ausgeliefert wird, darüber rissen sie nur noch Witze.
Überhaupt waren sie eine Truppe, die für ihre Kameradschaft berühmt war. Was auch an Trainer Krügel lag, der nichts gegen ein Bierchen einzuwenden hatte, solange die Jungs nach dem Training den Ball alle einmal ins „O“ auf der Bandenwerbung für die „Magdeburger Volksstimme“ gezirkelt hatten.
„Wenn er zu dir sagte, du bist Weltklasse, dann hast du auch so gespielt“
Krügel war neben Georg Buschner der wohl beste Trainer in der Geschichte des DDR-Fußballs. Seit 1951 betreute der Sachse aus Ober-Planitz Mannschaften im gesamten Staatsgebiet, zwischendurch für zwei Jahre auch die Nationalelf. Doch ein Apparatschik, ein Mann der Parteiführung, wurde er nie. Im Gegenteil: Immer wieder legte er sich mit den Genossen vom Fußballverband DFV an. „Einige Wichtelmänner der Bezirksleitung haben versucht, sich einzumischen“, grollte er öffentlich. „Ich habe zu ihnen gesagt: Ihr seid Politiker, ihr habt dafür zu sorgen, dass es den Leuten gut geht. Fußballtrainer bin ich.“ Und das mit Leib und Seele. Ein Motivator, eine Vaterfigur, ein Lehrer. Beim FCM hatte er sein Material gefunden, formbare Spieler am Anfang ihrer Karriere. „Wenn Heinz Krügel mit dir sprach“, erinnert sich Mittelfeldmann Wolfgang Seguin, „dann hast du ihm alles geglaubt. Wenn er zu dir sagte, du bist Weltklasse, dann hast du auch so gespielt.“ Krügel hatte den 1. FC Magdeburg 1966 übernommen und zum direkten Wiederaufstieg in die Oberliga geführt. 1969 der Gewinn des FDGB-Pokals, 1972 die Meisterschaft, 1973 ein weiterer Pokalsieg – und nun stand er mit seinen Jungs im Endspiel des Europapokals der Pokalsieger.
Der Weg dorthin war lang gewesen, über die widerspenstigen Holländer von NAC Breda, Banik Ostrau und Beroe Stara Zagore bis zum Halbfinale gegen den Topklub Sporting Lissabon im riesigen „Stadio José Alvalade“. „Auf den Rängen waren 55 000 Zuschauer“, erinnert sich Wolfgang Seguin, „und wenn man da unten spielt und man ist noch jung, da hat man doch das Flattern.“ Torwart Uli Schulze behielt die Nerven und sicherte mit spinnenartigen Paraden ein 1:1. Auch das Rückspiel war hart umkämpft, am Ende siegte der FCM durch Tore von Pommerenke und Sparwasser mit 2:1. „Die strapaziöseste Europapokalpartie forderte den DDR-Meister zur Hergabe aller physischen Potenzen“, drechselte „Die neue Fußballwoche“. Trainer Krügel drückte sich bei der Ansprache in der schweißtriefenden Kabine des Ernst-Grube-Stadions geradliniger aus: „Ich danke euch, Freunde!“
Sie waren die erste Mannschaft der DDR, die in ein europäisches Finale vorgedrungen war, und nach den „Lisbon Lions“ von Celtic Glasgow 1967 die zweite, deren Spieler ausschließlich aus der Region stammten. Ein Freundeskreis. Heute unvorstellbar und auch damals bemerkenswert. Ein Erfolg wie vom Reißbrett der Sportfunktionäre – und doch sträubten sich die Magdeburger gegen ihre Vereinnahmung durch die Sportpolitik. Der unbeugsame Krügel stand schon lange auf der Schwarzen Liste, zur WM einen Monat später durfte er nicht mehr ausreisen – angeblich bestand Fluchtgefahr. Nach Rotterdam ließen sie ihn noch fliegen – als einen der wenigen. Gerade einmal 350 handverlesene Schlachtenbummler durften ihn und den FCM begleiten, darunter Matrosen von fünf Handelsschiffen der DDR-Flotte, die im Hafen von Rotterdam lagen. „Leider waren das nicht immer Fans, die man brauchte“, klagte Krügel später. „Da waren auch Leute dabei, die erst mal gefragt haben: Wer ist denn hier der 1. FC Magdeburg?“
Erst in letzter Minute die Entscheidung: Das Fernsehen zeigt das Finale
So genau wussten das auch die haushohen Favoriten vom AC Mailand nicht. Und es war ihnen auch egal. Sie waren Titelverteidiger, ihr Kapitän war niemand Geringerer als Gianni Rivera, einer der besten Mittelfeldspieler der Welt, und hinten organisierte der deutsche Legionär Karl-Heinz Schnellinger einen Catenaccio, an dem im Halbfinale schon Günter Netzer und seine Gladbacher verzweifelt waren. Die Vorstellung einer Niederlage gegen den Außenseiter aus dem Realsozialismus schien ihnen so absurd, dass nur wenige Tifosi den Weg in die Niederlande auf sich nahmen. Diese Feierabendtruppe, da waren sie sich sicher, würden die Rossoneri auch ohne ihre Unterstützung wegputzen. Nicht einmal das DDR-Fernsehen schien zunächst an die Magdeburger zu glauben. In den Programmheften des 8. Mai 1974 sind der Sowjet-Schinken „Im Morgengrauen ist es noch still“ und die Unterhaltungssendung „Mit Lutz und Liebe“ aufgeführt. Erst in letzter Minute wurde die Übertragung des Finales veranlasst, Heinz-Florian Oertel kommentierte die Partie.
„Wir sind zwar Außenseiter“, sagte der erst 20-jährige Axel Tyll vorab dem „Sportecho“, „doch vor Ehrfurcht stirbt bei uns keiner.“ Nicht ganz jedenfalls: Ersatztorwart Werner Heine bekam am Abend vor dem Finale vor Aufregung einen Fieberschub. Trainer Krügel arrangierte umgehend, dass Bernd Dorendorf, der dritte Mann, mit der Magdeburger Reisegruppe nach Rotterdam kam. Als Dorendorf aus der Interflug-Maschine stieg und ihm mitgeteilt wurde, dass inzwischen auch Stammkeeper Schulze angeschlagen war, ereilte ihn ebenfalls die erhöhte Temperatur. „Ungefähr 37,2“, sagt Wolfgang Seguin heute und lächelt. Dann aber konnte Schulze doch spielen, und Krügel zog in der Kabine alle Register. Vor dem Anstoß las er seinen Spielern aus dem „Kicker“ vor, der die alte Geschichte von „David gegen Goliath“ beschwor. Das schärfte ihnen noch einmal die Sinne für die historische Chance, die sie an diesem Abend hatten.
„Neuer Versuch, jetzt Seguin. Seguin ist da! Schuss …Tor!“
„Wer das erste Tor schießt, gewinnt“, hatte Milan-Coach Giovanni Trapattoni in einem Moment finsterer Eingebung prophezeit. Und so kam es: In der 41. Minute traf sein Verteidiger Enrico Lanzi – allerdings ins eigene Gehäuse. Spätestens da legten die Magdeburger den letzten Respekt ab und dominierten das Spiel. „Wie die Italiener uns in der letzten halben Stunde hinterherlaufen mussten, das war schon ein tolles Gefühl“, frohlockte Axel Tyll später. Und schließlich besiegelte Seguin den Triumph. In der 74. Minute nagelte er den Ball aus spitzem Winkel unter die Latte. Oertel rief begeistert ins Mikrofon. „Neuer Versuch, jetzt Seguin. Seguin ist da! Schuss …Tor! … Tooooor! … Paule Seguin hat es gemacht. Von der gleichen Stelle aus, wo eben Sparwasser nicht getroffen hat.“ Um 22.15 Uhr pfiff Schiedsrichter Arie van Gemert ab – 2:0! Der 1. FC Magdeburg war Europapokalsieger! Pommerenke, Seguin, Hoffmann, die Jungs aus Wegeleben, Stapelburg und Gommern. Libero Manfred Zapf schleppte den Pokal, dann durfte ihn auch der Torschütze in Händen halten. „Das war unbeschreiblich“, sagt Wolfgang Seguin. „Das werde ich nie vergessen.“
Ihre Jubelschreie hallten durch „de Kuip“, kaum gedämpft von der Kulisse. Die leeren Ränge bedeuteten einen Minusrekord in der Geschichte europäischer Endspiele. Unter den Zuschauern war immerhin Rinus Michels. Der knorrige Erfinder des „Voetbal totaal“ diktierte den Journalisten in die Blöcke: „Der Stil gefällt mir. Da war Bewegung, Einfallsreichtum, Offensivgeist.“ Derweil unterschrieb Trapattoni stinksauer die Bankrotterklärung seiner Mannschaft: „Mehrere Spieler haben vergessen, was sie dem großen Namen ihres Klubs schuldig sind. Wir müssen völlig von vorne beginnen.“
Ein Telegramm von Erich
Da flogen in der Kabine des 1. FC Magdeburg schon die ersten Rotkäppchen-Korken. Mannschaftsleiter Günter Behne hatte den Ost-Sekt beim Abflug in Berlin-Schönefeld heimlich gekauft, für alle Fälle, nun diente der Pokal als Trinkgefäß. Später, am Strand vor dem Mannschaftshotel in Katwijk, mischten sich Einheimische unter die ostdeutsche Partygesellschaft. Die Nachricht vom Gewinn des Europapokals hatte die Runde gemacht.
Etwa zur gleichen Zeit rang sich Staatsratsvorsitzender Erich Honecker ein Glückwunschtelegramm ab: „Liebe Sportfreunde! Ich beglückwünsche Sie sehr herzlich zu dieser hervorragenden Leistung und wünsche Ihnen auch weiterhin besten Erfolg.“ Am nächsten Tag, bei der Landung in Berlin, war er nicht anwesend. Nur die Stellvertreter der Bezirksleitung waren zum Händeschütteln angerückt. Die „Magdeburger Volksstimme“, auf deren „O“ Heinz Krügel so gern zielen ließ, drückte sich auf ihre Art. Sie machte mit der Überschrift „Feierliche Ehrung für sowjetische Helden“ und einem Bild von uniformierten Greisen beim Niederlegen von Kränzen auf. Rechts oben eingequetscht stand ein blutarmes „1. FC Magdeburg – AC Mailand 2:0“.
Vom Finalort direkt ins Trainingslager der Nationalmannschaft
Die Magdeburger Bürger jedoch wussten, was die Stunde geschlagen hatte. Schon lange vor der geplanten Ankunft um fünf Uhr nachmittags hatten sich Tausende auf dem Alten Markt versammelt. Und dann erschienen sie, die Jungs von nebenan, die Europa erobert hatten, auf einer provisorischen Anhängerbühne. Manfred Zapf hielt aus dem Stegreif eine Rede, Torwart Uli Schulze schmuste mit der Trophäe, und der im Finale gesperrte Klaus Decker wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. In der Magdeburg-Biographie von Annett Gröschner beschreibt Fan Knut Jörries: „Ich erinnere mich noch an dieses Foto, wo die Fußballer aus Rotterdam zurückgekommen sind mit ihrem Europapokal unter dem Arm. Da siehst du an der Seite einen alten Mann, der typische SKET’ler, kurz vor der Rente. Und der guckt da so hoch, mit halb offenem Mund und die Augen so richtig glühend. Du siehst, der ist hin und weg!“ Jürgen Pommerenke, Axel Tyll, Martin Hoffmann, Wolfgang Seguin und Jürgen Sparwasser verpassten hingegen das Volksfest – sie waren von Rotterdam aus direkt ins Trainingslager der Nationalmannschaft nach Schweden beordert worden.
Und schon schwebte über der Mannschaft der Stunde der Schatten der Vergänglichkeit. Zwei Jahre später wurde Heinz Krügel, der Erfolgstrainer, auf Lebenszeit gesperrt. Die Begründung war grotesk: Er habe die Leistungsentwicklung der Olympiakader des 1. FC Magdeburg ungenügend gefördert, hieß es. Und im Gespräch wurde ihm von Funktionären mitgeteilt, er sei als „Ost-West-Versöhnler“ untragbar geworden. Der wahre Hintergrund war ein anderer: Er hatte sich geweigert, in der Halbzeit eines Europapokalspiels in Magdeburg gegen den FC Bayern, die Anweisungen von Bayern-Coach Udo Lattek aus der verwanzten Kabine zu belauschen. Krügel beschied dem Stasi-Mitarbeiter: „Junger Mann, Sie sind vom Fußball nicht begeistert und verstehen nichts. Denn während der Halbzeitpause hat der Trainer was Besseres zu tun, als andere abzuhören. Und ich mache das nicht, weil Lattek ein Kollege von mir ist.“
Steife Atmossphäre beim SED-Jubelfest
Von diesen Verwerfungen ahnte allerdings niemand etwas, als die SED am Tag nach dem rauschenden Jubelfest am Alten Markt zum feierlichen Empfang in den Ratskeller bat. Die, die Krügel zwei Jahre später feuerten, hielten hochtrabende Reden, und das Mitglied des Zentralkomitees der DDR, Alois Pisnik, verkündete: „Die kollektive Zusammenarbeit zwischen der Klubleitung, Cheftrainer Heinz Krügel und den Aktiven sowie die große Unterstützung durch die verschiedensten Institutionen ließen Magdeburg zu einer geachteten Fußballstadt werden.“ Funktionärsdeutsch, das seine Wirkung nicht verfehlte. Die Spieler saßen steif auf ihren Stühlen, die feierliche Atmosphäre der letzten Tage war verflogen.
Die Mannschaft wurde 1975 noch einmal DDR-Meister, danach noch zweimal Zweiter, nun schon ohne Cheftrainer Krügel, der als „Objektleiter“ zur unterklassigen BSG Motor Mitte Magdeburg delegiert und erst 1996 durch den Deutschen Fußball-Bund rehabilitiert wurde. Krügel starb im Oktober 2008, als die Nachricht seines Todes die Runde machte, hielt die Stadt den Atem an. Inzwischen ist der Platz vor dem neuen Stadion nach ihm benannt worden. Aber wie viele Memorabilia aus der großen Zeit des FCM gammelt auch sein persönliches Archiv, Zeitungsausschnitte, Fotos und Autogramme, in Pappkartons dem Verfall entgegen. In den Katakomben des Neubaus war kein Platz für ein Vereinsmuseum.
„Wenn es uns nicht gegeben hätte, Herr Töpperwien, wären Sie heute noch Volontär“
2004, zum 30. Jahrestag des Triumphs von Rotterdam, war Krügel noch dabei und klopfte den Takt der Hymne „Blau-Weiß FCM, wir packen es noch mal“, die die Partyband „Express“ aus dem Synthesizer jagte. ZDF-Faktotum Rolf Töpperwien war auch eingeladen. Seine Karriere hatte im Jahr 1977 damit begonnen, dass er Fernsehaufnahmen vom Spiel der Magdeburger gegen den FC Schalke 04 an den Ordnungskräften vorbei in den Westen schmuggelte. Er habe, so Töpperwien in der ihm eigenen Hybris, den 1. FC Magdeburg in der Bundesrepublik ja erst bekannt gemacht. Da nahm ihm Jürgen Sparwasser das Mikrofon weg und sagte: „Wenn es uns nicht gegeben hätte, Herr Töpperwien, wären Sie heute noch Volontär.“
Aber es hat all das ja wirklich gegeben. Eine Mannschaft, deren Kameradschaft sie in ein europäisches Finale trug. Einen Trainer, der die richtigen Worte fand. Einen Pokal,
gefüllt mit Rotkäppchen-Sekt. Eine Stadt im Freudentaumel. Und elf Männer in weißen Bademänteln aus Malimo, die im leeren Stadion „De Kuip“ eine Ehrenrunde laufen.