Mario Gómez sah sich in seiner Karriere oft unverhältnismäßig scharfer Kritik ausgesetzt. Nun hat der Mittelstürmer, der immer nur Tore schießen wollte, seine Karriere beendet.
Es gibt Tore, die Karrieren von Fußballern definieren. Na klar, Diego Maradona hat gleich zwei davon. Im Viertelfinale der WM 1986 gegen England packte er erst die Hand Gottes aus und setzte dann zu einem unfassbaren Sololauf an. Auch Ole Gunnar Solskjær wird immer wieder auf sein Tor zum Last-Second-Sieg im Champions-League-Finale 1999 gegen die Bayern angesprochen. Und natürlich ist Mario Götzes perfekte Brustannahme mit anschließenden Volleyschuss zum vierten deutschen WM-Triumph für immer untrennbar mit ihm verbunden.
Bei der Szene, die viele Fußballfans wohl immer mit Mario Gómez in Verbindung bringen, ist das genauso. Im Gegensatz zu anderen Spielern war die Aktion jedoch nicht heroisch. Es war kein Tor, kein Dribbling. Nicht mal eine Grätsche, die ein entscheidendes Gegentor verhindert hätte. Es war ein Fehlschuss, der sich ins kollektive Gedächtnis der deutschen Fans einbrannte: Bei der EM 2008 dribbelt sich Miroslav Klose durch die österreichische Abwehr und legt quer. Viele Deutschland-Fans haben in diesem Moment schon den Torschrei auf den Lippen. Die Mannschaft braucht einen Sieg, um im Fernduell ums Weiterkommen auf der sicheren Seite zu sein. Mario Gómez gerät in Rücklage und produziert aus gefühlten 30 und wirklichen 300 Zentimetern kein Tor, sondern nur eine Bogenlampe.
„Das ist ein Pflichttor“, sagt Tom Bartels mit der gleichen Stimmlage, in der er sechs Jahre später Götze zujubeln wird. „Es ist nicht zu glauben.“ Deutschland gewinnt zwar, doch in der Folge hagelt es landesweit Hohn und Spott. „Einen Gómez machen“ wird zum geflügelten Begriff.
Zwölf Jahre, insgesamt 31 Tore im DFB-Dress und eine Viruspandemie später, verabschiedet sich Mario Gómez dagegen standesgemäß. Im letzten Spiel seiner Karriere macht er das, was er eigentlich immer macht, sobald er ein Fußballfeld betritt. Er trifft. Im Trikot seines VfB Stuttgart. In dem Stadion, in dem er die meisten Profispiele absolviert hat. Er schiebt den Ball einfach über die Linie. Die üblichen Gänsehautmomente bei der Verabschiedung durch die Fans fallen aufgrund der aktuellen Situation aus. Und irgendwie ist das exemplarisch für die Karriere des Mario Gómez.
Vermutlich hätten sie dem aus der Stuttgarter Jugend stammenden Stürmer im vollen Stadion einen standesgemäßen Abschied bereitet. Doch Rest-Fußball-Deutschland ist nie richtig mit Mario Gómez warm geworden. Obwohl er seit der Jahrtausendwende in der Bundesliga die meisten Tore aller Spieler mit deutschem Pass geschossen hat, wurde er nie zum Publikumsliebling. Neben den Pfiffen, die er sich eine Zeit lang bei jeder Einwechslung im Trikot der Nationalmannschaft anhören musste, wurde Gómez zur Zielscheibe allerlei unsachlicher Kritik. So war er für die einen zu unnahbar, zu arrogant. Andere sprachen ihm Willen und Kämpferqualitäten ab, hielten ihn für zu phlegmatisch. Auch an seinem Aussehen rieben sich einige. Zu glatt, zu viel Adonis mit Gel im Haar, zu wenig Malocher mit Vokuhila.
Das alles wird dem Schwaben mit spanischen Wurzeln nicht gerecht. Denn Gómez wollte immer nur eines: Tore schießen. Und seiner Mannschaft damit zum Sieg verhelfen. Das gelang, in der Regel, ganz gut. Meist sogar exorbitant gut. Es gab Wochenenden in den 2000er bzw. 2010er Jahren, da beschlich einen das Gefühl, man befände sich im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Gómez jubelte nicht nur wie ein Torero, der einen Stier bändigen wollte. Er war der Torero. Mit gerade mal 21 Jahren führte er den VfB Stuttgart zum Gewinn der Deutschen Meisterschaft. Und das nicht als irgendein Spieler, sondern als der wichtigste Torjäger, der beispielsweise am vorletzten Spieltag in Bochum sieben Minuten nach seiner Einwechslung das wichtige Ausgleichstor schoss, durch das der VfB später auf Platz eins sprang.
Mit dem Wechsel zum FC Bayern manifestierte sich das Bild eines jubelnden Gómez noch weiter. Zwar tat sich der damalige Rekordeinkauf in der ersten Saison unter Louis Van Gaal schwer, danach netzte er aber zuverlässig, wurde Bundesliga-Torschützenkönig, stellte auf den Weg zu zwei verlorenen Champions-League-Finalen deutsche Torrekorde auf. Trotzdem erlebte er das erfolgreichste Jahr in der Geschichte des FC Bayern, das Triple-Jahr 2013, nur als Nebendarsteller hinter Sturmkonkurrent Mario Mandzukic.
Gómez ergreift daraufhin die Flucht aus München und hatte bei seinem neuen Verein, den AC Florenz, mit zahlreichen Verletzungen zu kämpfen. Die hohen Erwartungen der Tifosi, die bei seiner Eröffnung das komplette Florenzer Stadion füllten, konnte er nicht befriedigen. Zudem ist Gómez, der sonst für den DFB jedes Turnier zwischen 2008 und 2018 bestritt, ausgerechnet 2014 kein Teil des deutschen Weltmeister-Kaders. Seinen Torinstinkt findet der Torero dann zur Saison 2015/16 am Bosporus wieder. Für Besiktas Istanbul erzielt er in 33 Spielen 26 Tore und führt die Schwarzen Adler zum Meistertitel in der Türkei.
Die schwierige politische Lage führte dazu, dass Gómez die Türkei nach nur einem Jahr wieder verließ und nach Deutschland, zum VfL Wolfsburg, zurückkehrte. Dort blieb er wohl vor allem wegen der Relegation gegen Braunschweig in Erinnerung. Neben seinem unberechtigt herausgeholten Elfmetertreffer, zeigte Gómez eine Selbstironie, die Profifußballern sonst nur schwer abgeht. Nach dem geschafften Klassenerhalt sang er zusammen mit seinen Mannschaftskollegen: „Mario Gómez ist ein Hurensohn“. Eine Hommage an die Braunschweiger Fans, die ihn so begrüßt hatten.
Auch sonst ist das weichgespülte Image, das Gómez mitunter anhaftet, nicht begründet. Gómez war auf dem Spielfeld nie ein Lautsprecher oder ein Mentalitätsmonster, der eine Mannschaft alleine mitriss. Trotzdem war er meinungsstark und hielt mit seinen Ansichten nicht hinter dem Berg, sobald ihm etwas nicht passte. So bezeichnete er Gegenspieler Maik Franz aufgrund seiner Spielweise als „Arschloch“, kritisierte die eigenen Fans, wenn sie die Mannschaft aus seiner Sicht nur mangelnd unterstützten, oder erklärte den Videobeweis als „Katastrophe für Stürmer“.
Dabei sollte sich Gómez nicht allzu sehr grämen. Dank VAR hat er seinen Rekorden, wie denen für den schnellsten Bundesliga-Auswärtshattrick oder den für die meisten erzielten Tore eines Deutschen in einem Champions-League-Spiel (vier gegen den FC Basel), einen weiteren hinzugefügt. Einen, den wohl so schnell niemand brechen wird. Dem Stuttgarter wurden gegen den SV Sandhausen in nur einem Spiel gleich drei Tore durch den Videoschiedsrichter aberkannt.
Dass Gómez in seiner letzten Profisaison überhaupt noch einmal gegen den SV Sandhausen in der 2. Liga antreten musste, liegt auch daran, dass Gómez sein Wort hielt. Aus Wolfsburg zum VfB Stuttgart zurückgekehrt, verlor er mit den Schwaben in der Saison 2018/19 überraschend in der Relegation gegen Union Berlin. Einen Tag später versprach er, „den sportlichen Schaden zu reparieren“ und „den Verein in dieser Lage nicht zu verlassen“.
Und Gómez half mit den Schaden zu beheben. Er schoss wichtige Tore für den VfB, sodass Stuttgart trotz einer schwierigen Saison die direkte Rückkehr in die Bundesliga gelang. Dabei war der Mittelstürmer nicht nur als Goalgetter sondern auch als Führungsfigur wichtig. Gómez durfte nach dem Re-Start zwar kaum noch spielen, haderte aber nicht mit seiner Rolle. Ganz im Gegenteil. Er stellte sich den Dienst der Mannschaft und unterstützte das Team als Motivator vom Seitenrand.
Am Wochenende durfte Mario Gómez schließlich noch einmal von Anfang an auf den Platz. Und auch diesmal ertönte wieder die legendäre Tor-Musik, die immer nach seinen Toren gespielt wird: „Mario Gómez cha cha cha“. Dem statistisch besten deutschen Stürmer des 21. Jahrhunderts würde es gerecht werden, wenn sich mehr Fußballfans an diese Melodie, anstatt an seine unglückliche Aktion gegen Österreich erinnern würden. Wenn sie sich an einen Stürmer erinnern, der nur eines wollte: Tore schießen. Und das auch wie kaum ein Zweiter tat.