Er machte Kunst, die mal magisch, mal brotlos war. Er war so gut, dass er zwei Namen hatte. Er schenkte der Bundesliga elf unvergessliche Sekunden. Heute wird Jay Jay Okocha 44 Jahre alt.
Kommen Sie nah an den Monitor heran und genießen Sie. Es folgt ein Top-Highlight. Zwölf Ballberührungen für die Ewigkeit. Eine ganze Karriere, runtergebrannt auf elf Sekunden. Ein einziges Tor.
Es war ein Dienstag, der 31. August 1993. 87 Minuten war der fünfte Spieltag der neuen Saison alt, Eintracht Frankfurt führte gegen den Karlsruher SC mit 2:1. Uwe Bein hatte zweimal für den Gastgeber getroffen, Edgar Schmitt für den KSC das zwischenzeitliche 1:1 erzielt. Karlsruhe stürmte, Frankfurt konterte. Im Strafraum der Gäste kam Jay Jay Okocha an den Ball. Und rannte los.
Die Erinnerungen an diesen Moment sind verwaschen. „Mindestens eine Minute lang“, glaubt Bernd Hölzenbein, damals Vize-Präsident der Eintracht, sei Okocha vor dem Tor von KSC-Schlussmann Oliver Kahn hin und her gerannt. „Mindestens neunmal“, glaubt Klaus Toppmöller, damals Trainer der Frankfurter, habe er gerufen „Schieß doch!“ Und Okocha? Der behauptet allen Ernstes: „Ich hatte gar nicht vor, den Ball so lange zu halten.“ Elf Sekunden sind im Profifußball eine Ewigkeit.
Okochas Tor war eine Frechheit. Und ein Geniestreich. Nur ein Tor. Und doch ein magischer Moment. Sehr wahrscheinlich haben diese elf Sekunden über das Schicksal des Fußballers Jay Jay Okocha entschieden.
Hätte der Nigerianer den Ball damals neben das Tor geschossen, den letzten Zweikampf verloren, hätte Oliver Kahn den Ball gehalten, wäre Okocha der Idiot des Abends gewesen. Die Fans hätten sich über eine weitere unnötige Aktion der Fummelkutte beschwert, für den Spieler hätte die Szene Konsequenzen gehabt. „Nach dem Spiel kam Trainer Toppmöller auf mich zu und sagte, dass ich unter ihm nie wieder gespielt hätte, wenn der Ball nicht reingegangen wäre“, erinnerte sich Okocha einst im Interview mit „Süddeutschen Zeitung“. „Und ich hätte Toppmöller in dieser Entscheidung gestärkt“, sagt Bernd Hölzenbein.
„Mit solchen Spielern kannst du keine Bundesligspiele gewinnen“
So aber wurde aus einem Tor ein Mythos. Auch, weil aus Okochas damaligen Widersacher Oliver Kahn später ein dreifacher Welttorhüter wurde. Okocha hatte nicht irgendeine Wurst verarscht, sondern den besten Toreverhinderer seiner Zeit. Das Tor gegen Karlsruhe entschädigte für viele verlorene Bälle und verpasste Tore, machte viele Beobachter blind für das wenig produktive Spiel des Mittelfeldspielers. „Ganz ehrlich“, sagt Bernd Hölzenbein „das, was Jay Jay damals bei uns bot, war meistens brotlose Kunst. Mit solchen Spielern kannst du im Zirkus auftreten. Aber keine Bundesliga-Spiele gewinnen.“ Mit Okocha stieg Eintracht Frankfurt 1996 ab. Der Nigerianer wechselte zu Fenerbahce Istanbul. Doch als die Frankfurt-Fans vor wenigen Jahren die besten elf Spieler der Vereinsgeschichte wählten, war Jay Jay Okocha mit dabei. Bernd Nickel, der für die SGE in 426 Bundesligaspielen 141 Tore erzielt, dreimal den DFB-Pokal und einmal den UEFA-Cup gewonnen hatte, fehlte in der Liste. „Eigentlich ist das ein Skandal“, sagt die Nummer zwei auf dieser Liste, Bernd Hölzenbein.
Bestimmt gab es zwischen 1992 und 1996 Fußballer, die wichtiger für den Erfolg von Eintracht Frankfurt waren, als Jay Jay Okocha. Aber Fußballfans denken nicht immer mit dem Kopf. Häufig mit dem Bauch, meistens mit dem Herzen. Und Jay Jay Okocha war wie geschaffen, um die Herzen der Zuschauer zu gewinnen. Er war jung und als er alt wurde, merkte man das nicht, weil er immer noch so spielte wie ein kleiner Junge. Einfach drauflos. Er konnte Dinge mit dem Ball, die kein anderer Fußballer konnte. Jedenfalls nicht im Bundesliga-Fußball der neunziger Jahre. Er kam aus Nigeria, das war exotisch. Er hieß nicht Hans-Peter, Ralf oder Frank, er hieß Jay Jay. Okocha musste man nicht respektieren, fürchten oder anerkennen. Jay Jay musste man lieben.
Okocha kostete der Eintracht 25.000 DM
Er war erst 17, als ihm seine Eltern zum bestandenen Abitur eine Reise nach Deutschland schenkten. Er besuchte seinen Bruder Emanuel, der damals sein Glück im deutschen Fußball suchte (und es im Vergleich zu seinem kleinen Bruder nicht fand). Der Legende nach begleitete er einen Kumpel seines Bruders zum Training der Oberliga-Mannschaft von Borussia Neunkirchen. Die wollten ihn gleich dabehalten und Jay Jay blieb. Zwei Jahre spielte er in der Oberliga Südwest. Dann tauchte eines Tages ein beleibter Mann mit Schnauzbart und Sonnenbrille am Spielfeldrand auf. „Wie heißt du?“, fragte der Mann den Dribbelkönig von Neunkirchen. „Jay Jay“, antwortete der. „Was machst den Rest des Tages, wenn du hier nicht Fußball spielst?“ „Schlafen.“ „Dann“, sagte der Schnauzbart mit der Sonnenbrille, „kannst du auch zu uns zum Training kommen.“ Eintracht-Frankfurt-Trainer Dragoslav Stepanovic hatte den seiner Meinung nach „originellsten Spieler seit Pelé“ entdeckt. Jay Jay Okocha kostete 25.000 DM.
Okocha hat auch eine beeindruckende Karriere außerhalb von Frankfurt vorzuweisen. 1994, 1998 und 2002 führte er seine Nationalmannschaft zur Weltmeisterschaft, 1996 wurde er mit dem legendären „Super Eagles“ Olympiasieger. Er spielte in Istanbul und bekam den türkischen Pass. Seitdem heißt er Muhammed Yavuz. 1998 wechselte er zu Paris St. Germain, von 2001 bis 2002 zauberte er dort gemeinsam mit Ronaldinho. Bis heute hält sich in der französischen Hauptstadt das Gerücht, Okocha habe dem Brasilianer dessen schönste Tricks erst beigebracht. Vier Jahre verzückte er die Fans der Bolton Wanderers, auf den Tribünen trugen sie Shirts mit der Aufschrift „Jay Jay – so good, they named him twice“. So gut, dass er gleich zwei Namen bekam. Noch ein Jahr Katar, noch ein Jahr Hull City, das langsame Austrudeln einer Karriere. 2008 beendete Okocha seine Laufbahn.
Was wirklich blieb und bleiben wird sind die Jahre bei Eintracht Frankfurt. Unglaubliche Tricks, wie der Hackentrick gegen den Dresdener Sven Kmetsch am 20. Februar 1993. Wunderschöne Tore. Das aufregende Gefühl, jederzeit ein Spektakel zu erleben, wenn er den Ball bekam. Vielleicht war das mehr Zirkus, als Profifußball. Drahtseilakte ohne doppelten Boden. Aber das machte Jay Jay Okocha doch erst so spannend. Liebe macht eben blind.
Nicht alle seine Trainer trugen die rosa-rote Brille wie der „Lebbens“-Künstler Stepanovic. Dessen Nachfolger Horst Heese konnte den Kunststückchen nur wenig abgewinnen, nahm den Offensivmann wenige Wochen nach seinem Start in Frankfurt zur Seite und sagte: „Okocha, das ist dein vorletztes Training. Dann wirst du wieder bei den Amateuren spielen.“ Jupp Heynckes, auch er kein Freund selbstverliebten Einzelkönnern, nannte Okochas Dribblings „Eiertänze“ und als der sich später von seinem Kumpel Tony Yeboah zu einem Spielboykott überreden ließ, schmiss Heynckes neben den Rädelsführern Maurizio Gaudino und eben Yeboah auch Okocha aus der Mannschaft. Später begnadigte er ihn zwar wieder, aber die Fans in Frankfurt haben Heynckes diesen Akt der Machtdemonstration bis heute nicht verziehen.
.…und genießen sie…
Heute wird Jay Jay Okocha 44. Vier Jahre zuvor auf den Geburtstag angesprochen angesprochen, reagiert sein ehemaliger Mitspieler Axel Kruse entsetzt: „Der wird schon 40? Kann ich nicht glauben.“ Wahrscheinlich wird Okocha auch für Axel Kruse immer ein kleiner Junge bleiben. Oder zumindest ein Fußballer, der nie erwachsen wird. Dessen Wirken festgefroren ist in elf Sekunden im Strafraum von Oliver Kahn. Kommen Sie nah an den Monitor heran und genießen Sie.