Das Millerntorstadion gehört zu Hamburg wie der Containerhafen und die Reeperbahn. Doch in den letzten Jahren hat der Mythos der St.-Pauli-Spielstätte gebröckelt. Woran liegt das?
Auf der Gegengerade, der 13.000 Kehlen fassenden Tribüne auf der Ostseite des Stadions, hat der Millerntor Roar überlebt. Als Wandgraffiti, immerhin, am Aufgang von Block D. Die meterhohen roten Buchstaben auf kaltem Beton geben eine Ahnung von der Lautstärke, mit der jener „ROAR!“ einst von den Rängen tönte. „Er entwickelte sich langsam in der Südkurve, ging dann über die Gegengerade in die Nordkurve und wieder zurück“, erinnert sich Frank Schwolow, 75, an vergangene Zeiten. „Am Ende schrie das ganze Stadion – ein unbeschreiblicher Lärm.“
Wer vor zwanzig, dreißig Jahren zum Millerntor kam, konnte ihn erleben, den akustischen Orkan von den Rängen. Er trug die Heimelf und verängstigte die Gastmannschaft, bog Spiele um und beeinflusste die Unparteiischen. Das erste deutsche Fanzine, von Anhängern des Kiezklubs gegründet, trug seinen Namen. Der Mythos des alten Millerntorstadions und des FC St. Pauli als „etwas anderer Verein“– er entfaltete sich auf dem Mythos des Roars.
Was bleibt vom „Freudenhaus der Liga“?
Frank Schwolow gerät ins Schwärmen, wenn er an diese Zeit denkt. Der Pensionär wurde in Sichtweite des Heiligengeistfelds geboren, hat Tausende Heimspiele der Braun-Weißen miterlebt, das Erste liegt fast 70 Jahre zurück. 1948, ein 5:0 gegen den Deutschen Meister aus Nürnberg. Seit 1977, dem ersten Bundesligaaufstieg der Braun-Weißen, besitzt Schwolow eine Dauerkarte, hat kaum eine Partie verpasst. Auf den Stehplätzen verfolgte er die prägenden Jahre der Vereinsgeschichte: die Politisierung der Fanszene in den Achtzigern, die turbulenten Neunziger im „Freudenhaus der Liga“, den Stadionneubau im neuen Jahrtausend. Nur der Roar, der die Aufstiegsmannschaft von 1988 unter Helmut Schulte zum Erfolg pushte, der sei irgendwann verloren gegangen.
Das Publikum hat sich geändert
Schwolow meint den Grund zu kennen: „Das Publikum hat sich geändert. Heute sind die Leute zu sehr mit sich selbst beschäftigt, gemeinsame Gesänge aller Tribünen gibt es nicht mehr.“ Zwar würde oft das ganze Stadion zum Singen animiert werden, aber „dann machen doch nicht alle mit“, sagt Schwolow. Und das, obwohl das neue Stadion, 2015 nach neun Jahren Bauzeit fertig gestellt, mit seinen steilen Rängen und dem weit hervorragenden Dach eine wesentlich bessere Akustik bietet als die alte, marode Spielstätte.
„Die Stimmung am Millerntor ist in den letzten Jahren nicht sonderlich besser als in anderen deutschen Stadien“, findet auch Rainer Wulff. Der 73-jährige Journalist sitzt seit 30 Jahren ehrenamtlich hinter dem Mikrofon in der Sprecherkabine, gibt Spielerwechsel und die Zuschauerzahl bekannt. Er kennt jeden Winkel des Stadions wie sein Wohnzimmer – und versteht die Verklärung des Millerntors zur Kultstätte nicht. „Dieser Mythos ist eine irrationale Vorstellung“, sagt Wulff.
Besonders heimstark sei der FC seit Jahren nicht mehr, in der zurückliegenden Saison siegten unter anderem Sandhausen und der FSV Frankfurt auf St. Pauli. Nur bei bestimmten Partien steige der Lärmpegel richtig an; meist seien das nicht die Spitzenspiele. „Das Weltpokalsiegerbesiegerspiel gegen die Bayern oder der Pokaltriumph über Werder Bremen 2006 blieben wegen ihrer sportlichen Bedeutung in Erinnerung, nicht wegen der Stimmung.“ Stattdessen verwandele sich das Millerntor manches Mal zum Tollhaus, wenn es niemand erwarte. „Das 3:2 gegen Greuther Fürth am dritten Spieltag 2015/16 war so eine Partie, eine der intensivsten und emotionalsten Begegnungen der letzten Jahre“, sagt Wulff.
Das Millerntor prägt das Stadtbild
Über die Lautstärke auf den Rängen ließe sich lange streiten – zweifellos hat das Millerntor trotz Rekonstruktion nichts an Charme eingebüßt. Mitten im Stadtzentrum steht der Bau mit der Backsteinfassade, zwischen Fernsehturm und der Parkanlage „Planten un Blomen“, wenige Meter von Reeperbahn und Landungsbrücken entfernt. Während in anderen deutschen Großstädten Fußballfans per Shuttle-Bus in die Peripherie kutschiert werden, kommen die Anhänger auf dem Kiez zu Fuß, per Rad und U‑Bahn zum Spiel – und schlendern nicht selten vor Anpfiff über den Hamburger Dom, der drei Mal im Jahr stattfindet. Das Millerntor ist ein Hamburger Original, es prägt das Stadtbild wie der Kirchturm von St. Michaelis oder die Silhouetten der Krananlagen von Blohm+Voss.
Typisch Hamburg, darin sind sich schließlich auch Schwolow und Wulff einig, die beiden Ur-Hanseaten und langjährigen Weggefährten des Kiezklubs: „Dieses Stadion ist ein Stückchen Heimat“, beschreibt Wulff, der Stadionsprecher, seinen Arbeitsplatz. „Heimat. Ja, das trifft es perfekt“, sagt Schwolow und lächelt unter seiner schwarzen Totenkopfmütze.
„Heimat ist da, wo einer stirbt, nicht da, wo einer lebt“, sang einst Hans Albers, die Kiezlegende. Der Mythos mag tot sein – zu Hause ist er weiter am Millerntor.