Vor der WM 2006 galt Adriano als das nächste große Ding im Weltfußball. Es folgte ein Absturz sondergleichen. Heute wird der Brasilianer 40 Jahre alt. Die Geschichte einer verkorksten Karriere.
Ein Schuss kann ein ganzes Fußballerleben verändern. Der Elfmeter im WM-Finale 1990 machte aus Andreas Brehme eine Gottheit. Die vergebenen Riesenchance von Frank Mill machte aus einem der besten Stürmer der achtziger und neunziger Jahre die Lachnummer des Fußballs. Und fragen Sie mal John Terry, wie oft er Fragen zu seinem versemmelten Elfmeter im Champions-League-Finale 2008 beantworten muss. Ein Schuss kann ein ganzes Leben verändern. Ein Schuss.
Im März 1992 explodiert eine Silvesterrakete am Himmel von Vila Cruzeiro, eines jener Elendsviertel von Rio de Janeiro. Sekunden später folgen zwei weitere. Jeder hier weiß, was jetzt zu tun ist, wenn einem das Leben etwas bedeutet: Laufen. So schnell es geht. Es ist das Signal, dass die Polizei mal wieder das Favela stürmt, um die berüchtigten Drogenbarone des ansässigen „Comando Vermelho“ aufzuscheuchen. Helikopter kreisen über ihren Köpfen, Maschinengewehre werden durchgeladen, Sandsäcke werden als Feuerschutz herangeschleppt.
Innerhalb von wenige Minuten werden aus Holzverschlägen Gefechtsstationen, schießen die Kugeln durch die aufgeheizte Luft Rios. Sie schlagen in Häuserwände ein, in brennende Ölfässer, in flüchtende Körper. Eine trifft Almir Ribeiro Leite in den Kopf. Er bricht zusammen. Wenige Meter entfernt steht sein kleiner Sohn und sieht, wie sein Vater leblos liegen bleibt. Der Kleine ist vor wenige Tagen zehn Jahre alt geworden. Später wird er sagen: „Dieser Augenblick hat mich dermaßen geprägt. Ich bin schlagartig erwachsen geworden.“ Der Name des Jungen ist Adriano Ribeiro Leite, kurz Adriano. In ein paar Jahren wird er als der „Imperator“ der Fußballwelt den Atem rauben. Aber dieser Moment wird ihn nie verlassen. Ein Schuss kann dein ganzes Leben verändern. Ein Schuss.
Wie durch ein Wunder überlebt Adrianos Vater jenen Abend von Vila Cruzeiro. Doch ihm fehlt das Geld, um die Kugel operativ entfernen zu lassen. Sie bleibt einfach in seinem Schädel stecken. Doch wenigstens kann Papa Almir so miterleben, wie sein Sohn in die First Class der Fußballwelt schießt. Dabei steht Adriano bei der „Peneira“, jenem legendären Auswahlverfahren in der brasilianischen Jugend, bereits auf der Abschussliste. Sein erster Trainer Luiz Antonio Torres sagte einmal: „Ich konnte kein besonderes Talent an ihm feststellen. Er hat gut gespielt, aber keinesfalls besser als die anderen 14 Jungs.“Er wirkt schwerfällig, zu groß, wenig trickreich, er schwebt nicht wie andere Jungs, wie die großen Spieler Brasiliens.
Doch Luiz Antonio bittet den Auswahltrainer um eine letzte Chance für Adriano. Seine Idee: Der 14-Jährige muss raus aus der Abwehr, hinein ins Sturmzentrum. Ein Volltreffer. Denn im Zentrum entwickelt Adriano ein Durchschlagskraft, wie man sie in Brasilien lange nicht gesehen hat. Im Jahr 2000 debütiert er im Alter von 18 Jahren bei den Profis von Flamengo. Er erzielt den ersten Treffer schon nach fünf Minuten, im weiteren Verlauf der Partie bereitet er noch drei Treffer vor. Die Rakete ist gezündet und fortan nicht mehr zu stoppen. Nur ein Jahr später wechselt er für knapp fünf Millionen Euro zu Inter Mailand. Sein Debüt nur einen Tag nach seiner Verpflichtung gegen Real Madrid wird zum Triumphmarsch, denn bereits nach wenigen Minuten erzielt er sein erstes Tor für den neuen Arbeitgeber. Die Sportpresse überschlägt sich mit Superlativen. Adriano, so viel ist klar, ist Inters Versprechen auf eine goldene Zukunft.
Es ist das Märchen, das die Menschen so sehr lieben: Adriano, der Junge aus dem brasilianischen Ghetto, schießt sich an die großen Fleischtöpfe des Fußballs. Tausendfach gehört, tausendfach verehrt. Es wird eine Karriere wie im Schnellkochtopf. Ständig unter Druck. Immer kurz vor der Explosion. Denn Adriano ist anders als die Ronaldos, die Romarios und all die anderen, die Europa durch ihre Fußballkunst eroberten. Er ist ein Koloss, ein Naturereignis. 1,90 Meter groß, 90 Kilogramm pures Dynamit. Als Inter ihn 2002 erst nach Florenz und später zum AC Parma ausleiht, entwickelt er sich zu einem Nuklearsprengkörper in kurzen Hosen. Einer, ohne den alles nichts ist. Einer, der keine Mannschaft zu brauchen scheint, aber ohne den die Mannschaft nichts ist. Was niemand ahnt: Der rote Knopf sitzt im Kopf des Brasilianers.
Als er in der Saison 2003/04 in den ersten neun Spielen für Parma acht Treffer erzielt, beordert in Inter-Boss Massimo Moratti im Januar 2004 zurück zu den Schwarzblauen. Adriano, so scheint es, ist bereit für die Besteigung des Fußballthrons. Im gleichen Jahr reist er mit einer B‑Elf der brasilianischen Nationalmannschaft zur Copa America nach Peru. Zuhause spotten sie über das Riesenbaby im Sturm.
Mit 14 galt er als das Wunderkind des amerikanischen Fußballs, mittlerweile ist er in der Versenkung verschwunden. Was ist schief gegangen, Freddy Adu?
Adriano ist für sie ein „Tombadour“, ein Stürmer – ein Schimpfwort in Brasilien. Doch spätestens als Adriano die Selecao im Finale gegen Argentinien mit einem Treffer in der Nachspielzeit ins Elfmeterschießen rettet und so erst den Titelgewinn möglich macht, schweigen die Spötter. Ein Schuss. Adriano wird mit sieben Toren Torschützenkönig und zum besten Spieler des Turniers gewählt. Sie nennen ihn den „Imperator“. Er ist ganz oben.
Auch im Folgejahr ist Adriano die Attraktion des Weltfußballs. Immer wieder hämmert er aus den unmöglichsten Distanzen den Ball ins Tor, Sekunden später schwebt er federleicht über den Platz. Diese Kombination aus Kraft und Eleganz, niemand verkörpert sie in diesen Tagen dermaßen perfekt wie der Imperator von Inter. Beim Confed-Cup 2005 in Deutschland wird er wieder Torschützenkönig und zum besten Spieler des Turniers gewählt. Brasiliens Hoffnungen auf das sechste WM-Gold heißen Ronaldinho, Kaka, Ronaldo und Adriano. Er gehört zu den fantastischen Vier. Sie stehen für das „joga bonito“, das schöne Spiel. „Adriano hat die Kraft von Gigi Riva, die Beweglichkeit von Marco van Basten und den Egoisumus von Romario“, sagt Inter-Trainer Roberto Mancini einmal. Er hätte auch sagen können: Adriano ist der perfekte Stümer.