Die Kulisse ist wie gemacht fürs Urlaubsalbum. Kristallklare Bäche, schneebedeckte Berge und grüne Wälder. Mitten durch die unberührte Natur turnt ein gutgelaunter, junger Mann: Eric Abidal. Mal springt er über einen schmalen Fluss, dann spurtet er einen Berg hoch, bevor er zum Abschluss auf einer grünen Wiese mit dem Ball jongliert. Was so leicht aussieht, ist in Wirklichkeit harte Arbeit. „Ich mache gerade eine Menge durch, aber ich brauche das um auf mein Niveau zurückzukehren“, sagt der erschöpfte Abidal später dem katalanischen Fernsehsender TV3. Mit einem Betreuerteam hat er sich in die katalanischen Pyrenäen nahe der französischen Grenze zurückgezogen. Bilder von der Trainingseinheit veröffentlichte Abidals Klub, der FC Barcelona, in den vergangenen Tagen auf seiner Homepage. Anschließend gingen viele Zuschriften und Einträge ein – nicht nur von den eigenen Fans. Die Nachricht bewegte auch außerhalb Barcelonas.
Dass der Außenverteidiger wieder trainieren kann, gleicht einem kleinen Wunder. Im April musste sich Abidal einer Lebertransplantation unterziehen, seine Karriere war vorbei. Der Krebs hatte scheinbar gesiegt. Abidal rechnete selbst nicht mit einer Rückkehr auf den Platz und sein Klub auch nicht. Im Sommer verpflichtete Barca den spanischen Nationalspieler Jordi Alba als Ersatz. Und nun sieht es so aus, als könnte Abidal schon bald mit Alba um den Platz als linker Außenverteidiger konkurrieren. Auch wenn er sagt: „Ich habe keinen Druck“, beim FC Barcelona rechnen sie mit seiner Rückkehr gegen Ende des Jahres.
Der Tumor wurde im März 2011 diagnostiziert
Auch Frankreichs neuer Nationaltrainer Didier Deschamps dürfte Abidals Fortschritte mit großem Interesse verfolgen. Die Auswahl muss sich auf dem Weg zur Weltmeisterschaft in Brasilien gegen Spanien behaupten. Beim Hinspiel am Dienstag in Madrid wird Abidal noch fehlen, aber beim Rückspiel im kommenden Jahr könnte er wieder dabei sein. Womöglich geht es dann um den Gruppensieg und die direkte Qualifikation für Brasilien. Sein letztes Länderspiel bestritt Abidal am 29. Februar 2012 gegen Deutschland. Bei der EM in Polen und der Ukraine war er schon nicht mehr dabei.
Abidals Leidensgeschichte begann im März 2011, als in seiner Leber ein Tumor diagnostiziert wurde. Bis dahin kannte sein Leben nur Hochs, beruflich wie privat. Verheiratet mit seiner Jugendliebe Hayet, drei Töchter, Champions-League-Sieger, Vizeweltmeister, Meisterschaften und Pokalsiege in Frankreich und Spanien. Abidals Leben war einem Bilderbuch entnommen. Dann die Diagnose: Krebs. Aber auch hier dauerte es nicht lange, bis sich alles zum Guten wendete. Vorerst. Die Operation verlief sehr gut, die anschließende Reha besser als erwartet. Nur sieben Wochen nach dem Eingriff stand Abidal wieder auf dem Platz.
Im Halbfinale der Champions League wurde er zur 90. Minute eingewechselt. Nicht irgendwo, sondern im Estadio Santiago Bernabeu. Bei Real Madrid, dem Erzrivalen. Als Abidal das Spielfeld betrat, erhoben sich die Leute von den Rängen und applaudierten. Dass ein Spieler des FC Barcelona in Madrid gefeiert wird, kommt selten vor. Sehr selten. Aber Abidals Schicksal ging weit über sportliche Rivalitäten hinaus. Später, beim Finale in London, übergab Carles Puyol seine Kapitänsbinde nach dem Schlusspfiff an Abidal. Er sollte den Champions-League-Pokal nach dem 3:1‑Sieg gegen Manchester United als Erster in Empfang nehmen.
Eine Lebertransplantation war unumgänglich
Abidal schien geheilt. Zur folgenden Saison spielte er wieder regelmäßig und kehrte ins Nationalteam zurück. Dann der erneute Schock im April. Die Krankheit war zurück, eine Lebertransplantation unumgänglich. Ein Spender war schnell gefunden, Abidals Cousin erklärte sich bereit. Der Eingriff war durchaus riskant. Abidal ließ sich jedoch nichts anmerken, er gab sich stark. Was blieb ihm auch anderes übrig? Barcelonas Kader traf die Nachricht anscheinend schwerer als ihn.
Im Team ist der leidenschaftliche Hobbybastler und Rapper sehr beliebt. Er ist es, der vor Spielen in der Kabine die Musik aussucht. Sein Lächeln, seine gute Laune fehlten auf einmal. Als Abidal nach der Operation im Krankenhaus lag, verfassten die Spieler für ihn kleine Zettel mit persönlichen Widmungen darauf. Ein jeder schrieb etwas anderes, nur eines enthielt jeder Brief: Den Wunsch, dass Abidal möglichst irgendwann zurückkehrt. Sechs Monate später, sieht es so aus, als würde sich dieser bald erfüllen.