Im Sommer 2013 beteiligten sich Fans von Besiktas an den Gezi-Protesten. Nun stehen sie vor Gericht. Ihr Anwalt Inan Kaya spricht im Interview über den skurrilen Prozess.
35 Fußballfans stehen in der Türkei vor Gericht, hauptsächlich jene der Besiktas-Fangruppe Carsi. Am Freitag findet der letzte Verhandlungstag statt. Wir sprachen mit dem Verteidiger Inan Kaya bei dessen Besuch in Berlin. Für weitere Hintergrundinformationen zu dem Thema empfehlen wir euch unsere ausführliche Reportage über Carsi und die Gezi-Proteste aus dem Jahr 2013.
Inan Kaya, was wird Ihren Klienten vorgeworfen?
Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Ich bin kurz davor, sie selbst dem Richter zu stellen.
Warum?
Die Vorwürfe sind unbestimmt und ungenau. Der Staatsanwalt fordert für meine Klienten eine Haftstrafe von 49 Jahren. Normalerweise zieht so eine Forderung einen jahrelangen Prozess nach sich, in dem tausende Seiten einer Anklageschrift gewälzt werden. Hier ist das ein bisschen anders: Bislang gab es gerade einmal zwei Hauptverhandlungstage. Und alles beruht auf einer absurden 33-seitigen Anklageschrift, die nach türkischem Recht eigentlich nicht zugelassen werden kann.
Was steht drin?
Auf den ersten 20 Seiten finden sich die Adressen der Angeklagten. Auf den restlichen 13 Seiten geht es um die zwei Hauptvorwürfe: zum einen um einen angeblichen Putschversuch, zum anderen um die Gründung einer terroristischen Organisation, die bewaffnet und unbewaffnet ist.
Können Sie das konkretisieren?
Der Putschversuch sei mit einem sogenannten TOMA-Panzer (Räumungspanzer, d. Red.) in Ankara und Istanbul geplant worden. Außerdem soll ein Bagger gestohlen worden sein. Daneben gibt es noch einige andere Vorwürfe wie zum Beispiel Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Verstoß gegen das Versammlungsrecht. Aber verstehen Sie: Dort steht, dass ein Panzer entführt wurde, aber nicht wer das getan haben soll.
Carsi soll in dieser Zeit eine Anzeige im Internet geschaltet haben: „TOMA zu verkaufen, zweite Hand, günstig abzugeben.“
Bei der Vernehmung der Polizei hieß es: „Warum habt ihr das gemacht? Es fehlt doch überhaupt kein TOMA.“ Nun sagt die Staatsanwaltschaft, dass Carsi diesen gestohlen haben soll. Ich dachte nur: Entscheidet euch mal, wer Recht hat – die Polizei oder die Staatsanwaltschaft.
Um Ihre Worte zusammenzufassen: Die Anklage wirft jemandem, den sie nicht nennt, eine Straftat vor, die es laut der Polizei nicht gegeben hat?
Jeder unabhängige Staatsanwalt würde nach Durchsicht der Anklageschrift sagen: Freispruch. Andere würden bezweifeln, dass der Verfasser jemals eine juristische Fakultät von innen gesehen hat. Aber da die Justiz in der Türkei nicht unabhängig ist, weißt du nicht, was da rauskommt.
Woran machen Sie fest, dass die Justiz nicht unabhängig ist?
Beim Prozess gibt es einen Vorsitzenden Richter und zwei Beisitzer. Wir haben in diesem Verfahren zwei Verhandlungstage erlebt und nach jedem wurde das Gremium der Richter ausgetauscht. In der Türkei gibt es den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte – sie alle sind in der Gewalt der Regierung. Die Richter haben unter der Hand sowohl uns als auch unabhängigen Journalisten bestätigt, dass sie unter dem Druck der Regierung handeln. Das ganze Verfahren wird auf Befehl der Regierung geführt.
Auf welchen Beweisen stützt sich die Anklage?
Es gibt keine – außer ein paar nichtigen Details von abgehörten Telefonaten. Seit 2012 werden Fans aller drei Istanbuler Klubs abgehört. Doch ohne konkreten Tatverdacht ist diese Aktion nicht zulässig und damit im Verfahren nicht benutzbar. Es ist absurd: Die meisten Mitschnitte verstanden sie eh nicht. So sitzt jetzt auf der Anklagebank auch ein Fenerbahce-Fan, weil sie ihn auf dem Band irrtümlich für einen von Carsi gehalten haben.
Droht allen Angeklagten die gleiche Strafe?
Vier Leuten – unter anderen meinen Klienten Cem Yakiskan und Bülent Ergenc (auf dem Foto ganz links und ganz rechts, d. Red.) – drohen 49 Jahre. Bei den anderen sind es 36 Jahre. Allerdings kann es noch schlimmer kommen. Wenn alle Vorwürfe rechtskräftig werden, dann erhöht sich die Strafe auf 150 Jahre. Es ist so absurd, dass es mitunter fast komödiantische Züge hat.
Sie können darüber lachen?
Was würden Sie denn sagen, wenn innerhalb der ersten Monate nicht nur zwei Richtergremien gewechselt haben, sondern zudem ein Staatsanwalt und der Polizeipräsident festgenommen wurden? Das ist doch eine Farce.
Warum wurden der Staatsanwalt und der Polizeipräsident festgenommen?
Wegen eines Putschversuches. Das klingt bizarr, ist aber kein Scherz.
Wie war Ihre Reaktion?
Der erste Gedanke war: Wow, die kennen wir doch, schließlich hatte jener Staatsanwalt die Ermittlungen gegen Carsi geleitet und der Polizeipräsident die Festnahme veranlasst. Dann fragten wir uns, ob wir ihm aufmunternde Mails schreiben und ein paar Ratschläge geben sollten. (Lacht.) Über die Details dieser Verhaftungen ist bislang nichts bekannt, diese Episoden zeigen aber ganz gut das groteske und paranoide Ausmaß des gesamten Verfahrens.
Der Angeklagte Cem Yakiskan sagte im Herbst 2013 in einem Interview mit 11FREUNDE: „Ich habe keine Angst vor dem Gefängnis.“ Wie geht es ihm heute?
Wenn wir uns in Istanbul treffen, amüsieren wir uns weiterhin über den Prozess. Für Außenstehende könnte es sogar so wirken, als ob wir das alles nicht ernst nehmen. Aber das Gegenteil ist der Fall. 49 Jahre Gefängnis! Das muss man sich mal vorstellen.
Wie sieht sein Alltag aus?
Er ist aktuell auf freiem Fuß, bei seiner Familie. Und wie alle Carsi-Mitglieder geht er auch weiterhin zu den Besiktas-Spielen. Es besteht allerdings ein Ausreiseverbot. Und natürlich spaziert er nicht beschwingt durch die Stadt, denn er kann sofort nach einer Urteilsverkündigung gegen ihn festgenommen werden. Das ist ein immenser Druck.