Als Domenico Tedesco im Sommer 2017 auf Schalke anfing, war er nahezu unbekannt. Heute wird Tedesco, mittlerweile Trainer von Spartak Moskau, 35 Jahre alt. Wie verändert das Fußballgeschäft einen Menschen und ehrgeizigen Trainer? Wir haben ihn ein Jahr begleitet.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im Mai 2018 in 11FREUNDE #198. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Totenstill ist es in der Kabine des FC Schalke 04, tief in den Katakomben des Westfalenstadions. Mit großen Erwartungen sind die Gelsenkirchener an diesem 25. November 2017 zum Derby gefahren und wurden dann von einer entfesselt aufspielenden Dortmunder Mannschaft überrollt. Schon nach 25 Minuten stand es 4:0 für den BVB, und die Schalker hätten sich über weitere Tore nicht beklagen dürfen.
Zwei Möglichkeiten
Nichts ist so gelaufen, wie Schalkes Coach Domenico Tedesco sich das vorgestellt hat. Konzentriert und besonnen sollte seine Truppe die ersten Dortmunder Angriffswellen abfangen, stattdessen regierte Hektik. Der 18-jährige Weston McKennie stieg nach nur drei Minuten derart übermotiviert in einen Zweikampf, dass er froh sein kann, nur verwarnt worden zu sein. Hanebüchene Abwehrfehler, ein berauschter Gegner, vier Tore Rückstand – nach normalen fußballerischen Maßstäben ist dieses Spiel bereits verloren. „In so einer Situation hat ein Trainer zwei Möglichkeiten“, sagt Leon Goretzka später. „Erstens: Er tritt auf die Mannschaft ein. Unser Trainer hat sich für die zweite entschieden.“ Domenico Tedesco geht in die Hocke und spricht auf Augenhöhe mit den Spielern, die mit gesenkten Köpfen auf den Bänken hocken. Es ist ein einfacher Deal, den er anzubieten hat: Ihr spielt, als wäre nichts gewesen. Und ich coache euch bis zum Schluss.
Jeder Fußballfan weiß, wie Schalke in der zweiten Halbzeit aus einem 0:4 noch ein 4:4 machte. Plötzlich sind es die Dortmunder, die über den Platz irren und nicht wissen, wie ihnen geschieht. Und es sind die Schalker, die sich an sich selbst berauschen. In der Nachspielzeit köpft Naldo mit seinem Eisenschädel den Ausgleich, der Schalker Block taumelt vor Begeisterung und Domenico Tedesco rennt los. Fünfzig Meter über das Spielfeld, in die Arme seiner Spieler, sein Blick so irre, als wüsste er nicht, wohin mit sich und all dem Wahnsinn. Goretzka schlingt die Arme um den Hals seines Trainers, alle schreien vor Glück und Erleichterung.
Briefmarkensammlung
„Man kann im Leben Briefmarken oder sonstige Sachen sammeln. Ich glaube, dass es das Wichtigste ist, Momente zu sammeln“, sagt Tedesco direkt nach dem Spiel. In der Kabine fällt ihm Präsident Clemens Tönnies glückselig in die Arme. Und Christian Heidel, der Sportvorstand, schwärmt: „Er ist emotional ohne Ende und passt als Typ überragend in diese Region und zu Schalke“. Spät am Abend, nach all den Feierlichkeiten, setzt sich Tedesco in seinem Büro in der Schalker Geschäftsstelle auf einen Stuhl. Er kann eh nicht schlafen, also sichtet er das Videomaterial des Spiels.