Seit er im ersten Interview zweimal „Scheiße“ sagte, wird Lukas Podolski zurecht vergöttert. Ein Liebesbrief an den wichtigsten Fußballer einer ganzen Generation.
Kalt ist es im Ostseestadion, kurz vor Weihnachten 2003. Du bist grade erst 18 und trittst mit deinem FC Köln bei Hansa Rostock an. Es ist schon fast Halbzeit, da segelt eine Flanke in den Rostocker Strafraum. Sie ist ein wenig zu kurz und ein bisschen zu flach, aber wer möchte sich darüber beschweren, man kann ja eigentlich froh sein, wenn sich Florian Kringe zumindest bemüht. Viel Zeit zum Aufregen bleibt dir sowieso nicht, die Flanke ist ja längst unterwegs. Also ziehst du kurz an, mit drei schnellen Schritten entledigst du dich deiner Bewachung (wenn das verpixelte Youtube-Video mich nicht täuscht, heißt diese Bewachung Uwe Möhrle), springst ab und drückst den Ball mit deinem Schädel ins Tor.
Danach gibst du dein erstes Interview, benutzt ohne Not zweimal das Wort „Scheiße“ und bringst damit den Reporter fast aus dem Konzept. Ich sitze zu Hause auf der Couch und bin verliebt.
Für einen jungen Menschen, der fußballerisch vor allem nach 1996 sozialisiert wurde, ist die Zeit um die Jahrtausenwende keine gute, um sich mit der Nationalmannschaft anzufreunden. Bei der EM in Holland und Belgien zaubern Del Piero, Kluivert oder Figo, Deutschlands Team ist dagegen hölzern und sperrig, kassiert drei Hütten von einem Mann names Sergio Conceicao und fliegt achtkantig raus. Die WM zwei Jahre später läuft zwar viel besser, doch Gründe, sich an Marko Bode zu orientieren, fallen mir damals trotzdem nicht ein.
Du trägst die Nummer Zehn
Wenig später präsentierst du meinem 14-Jährigen Ich und der Bundesliga deine eigentliche Waffe. Während der linke Fuß für viele nur das missratene Gegenstück zum Sahnefuß nebenan ist, donnerst du den Ball mit deinem so wuchtig und präzise ins Tor, dass ich mir wünsche, die Bravo-Sport würde ihren Star-Schnitt auf den Teil links unten reduzieren, auf das ich mir die gesamte Wand mit dem Ende deines linken Beines tapezieren könnte.
Du spielst eine famose Halbrunde, erzielst 10 Tore in 19 Spielen. Du bist der Jüngling, nach dem die Fußballnation lechzt, gefrustet nach Jahren, in denen Martin Max, Kevin Kuranyi oder Thomas Brdaric als Top-Stürmer galten. Und: Du machst im Gegensatz zu ihnen Dinge, die ich als Jugendlicher gerne nachmachen könnte.
In Cottbus schlenzt du nach spaßigem Solo gegen Piplica den Ball über die halbe Hintermannschaft ins Netz und erzielst insgesamt vier Treffer. Gegen Saarbrücken und Südafrika lupfst du den Ball butterweich ins Tor. Du trägst in Köln die Nummer Zehn, die in meiner damaligen Vorstellung für die großartigsten Menschen überhaupt reserviert ist. Du machst den Confed-Cup, den ich davor gar nicht kannte, zu deinem Turnier und dich zur personifizierten Hoffnung darauf, dass die WM 2006 vielleicht doch nicht zum Desaster wird. Und weil du über all das anscheinend überhaupt nicht nachdenken musst, erfüllst du diese Hoffnung auch noch.
Als du 2006 gegen Schweden nach dem zweiten Tor mit hochrotem Kopf über den Rasen in München schlidderst, bin ich beim Public Viewing in einem Berliner Miniatur-Stadion so sehr Fan, wie ich nie wieder in meinem Leben Fan sein werde. Selber hochrot von all dem Bier, hochrot von all der Sonne, die in diesen Wochen auf dieses Turnier und auf mein Leben scheint, hochrot vor Glück also, kreische ich wie ein Backstreet-Boy-Girl, das sich sicher ist, der Handkuss von Brian Litrell oder Howie D. sei für sie persönlich bestimmt. So als hättest du dieses zweite Tor einfach nur für mich geschossen. Weißt du vielleicht, dass ich entgegen jeder Vernunft Geld auf dich als Torschützenkönig des Turniers gesetzt habe?
Dich zieht es danach raus in die weite Welt. Das Kapitel München verzeihe ich dir, auch, weil du dort nicht zur Gewinnmaschine wirst, sondern ein bisschen trotzig scheiterst. Die Trainer erwarten tatsächlich, dass du trainierst – dass du dich mit harter Arbeit anbietest, dass du den etablierten Stars Druck machst. Aber du willst einfach spielen. Spaß haben, mit links abziehen, dann ein bisschen rumtraben, wenns nicht läuft, dann klappt’s halt nächste Woche. Doch so denkt man in München nicht.
Also sitzt du oft auf der Bank, und während sich dein Pendant Schweini langsam zum Star entwickelt, dem man seinen kompletten Nachnamen durchaus zutraut, bleibst du einfach weiter Poldi. Weswegen ich dich in Kneipengesprächen immer öfter verteidigen muss. Weswegen ich mich noch stärker mit dir verbrüdere.
Note 6 im DFB-Grabstein
2012, zwei erfolgreiche Turniere liegen hinter dir und du bist längst zurück in Köln, ist ein komisches Jahr. 18 Mal triffst du in der Bundesliga, so oft wie nie, trotzdem verkommst du in der Nationalmannschaft zum Auslaufmodell. Die Götzes und Schürrles, sie beginnen dir den Platz streitig zu machen, schließlich sind sie jung und hungrig, so hungrig wie du wohl nie warst. Sie sind technisch stärker, zumindest wenn man den Mittelwert beider Füße nimmt und sie passen besser in das Anforderungsprofil des modernen Fußballs. Bei der EM 2012, in deinem Geburtsland Polen und der Ukraine, da überholen sie dich. In der Halbzeit gegen Italien wirst du ausgewechselt. Der Kicker meißelt dir die Note 6 in deinen potenziellen DFB-Grabstein.
Du machst danach rüber nach London zu Arsenal, also zu dem Klub, den ich in England schon immer mochte. Was der Liebe neues Feuer verleiht. Ich schaue mir deine ersten Spiele alle live an, bei deinem ersten Tor, in Liverpool nach Pass von Santi Cazorla, renne ich – nüchtern und mittlerweile halbwegs erwachsen – jubelnd durch den WG-Flur. Den ersten Zeitungstext meines Lebens schreibe ich über deinen Neustart in England. Und auch die Engländer lieben dich, du ballerst mit links eine Weile alles kurz und klein, sie können es genau wie ich später nicht verstehen, warum Wenger nicht mehr auf dich setzt.
Heute wirst du treffen
Bei der WM in Brasilien, dein Verbündeter Jogi Löw hatte dich trotz Kritik mitgenommen, sitzt du nur auf der Bank. Weshalb ich nicht mehr richtig mitfiebern kann. Die Entfremdung von der Nationalmannschaft hatte schon länger eingesetzt, und als Löw im Finale Schürrle und Götze und nicht dich einwechselt, wird mir klar, dass ich mir nie (wie 2006 angekündigt) ein Poldi-Tattoo – wenn Siegtorschütze im WM-Finale – stechen lassen muss. Deine Kollegen gewinnen schließlich den Titel, auf den du so lange hingearbeitet hast.
Danach plätschert deine Karriere vor sich hin. In London geht nicht mehr viel und in Mailand geht gar nichts. In Istanbul triffst du wieder, aber die Liga nimmt niemand ernst. Bei der EM 2016 spielst du sportlich keine Rolle mehr. Du bekommst ein paar Minuten – für mich die aufregensten des Turniers – im schon entschiedenen Achtelfinale gegen die Slowakei geschenkt. Kurze Zeit bin ich voll dabei. Machst du eine Hütte? Kann ich nochmal durch die Runde brüllen, dass ich es doch schon immer gewusst hätte? Nein. Du triffst nicht.
Heute, in deinem Abschiedsspiel gegen England, in deinem letzten Länderspiel, wirst du treffen. Ich weiß es. Du wirst den Ball mit der linken Klebe ins Tor dreschen und ich werde vielleicht ein letztes Mal bei einem Tor der Nationalmannschaft kindliche Freude verspüren. Ich werde mich dann lautstark bei dir bedanken. Und du wirst es nicht hören, genauso, wie du diesen Text nie lesen wirst. Aber das ist mir egal, denn echte Liebe gibt es ohne Gegenleistung.