Das englische Wunderkind Jude Bellingham wechselt zu Borussia Dortmund. Seine Entwicklung ist eine Lotterie. Aber seit wann geht es bei der Suche nach Talent darum, besonders vorsichtig zu sein?
Seine aktive Karriere lässt Wayne Rooney gerade ausklingen, als Spielertrainer bei Derby County in der zweiten englischen Liga. Rooney gilt als Englands letztes Wunderkind. Doch wer in den vergangenen Monaten von Derby aus nur ein Stück in Richtung Süden den Aston Expressway hinunterfuhr, konnte in Birmingham erleben, wie sich ein junger Mann diesen Status verdiente: Jude Bellingham.
Borussia Dortmund hat das Rennen um den jungen Mittelfeldspieler gemacht, der in Birmingham bisher 145 Pfund die Woche verdiente, weil er in England erst mit 17 Jahren einen Profivertrag unterschreiben durfte. Seit dem 29. Juni ist er 17 – seinen ersten Profivertrag gibt es jetzt beim BVB. Der soll knapp 23 Millionen Euro für das Talent bezahlen. Zuvor hatten Medien stets von einer Ablösesumme jenseits der 30 Millionen Euro berichtet. Damit stechen die Dortmunder sowohl Manchester United, Chelsea als auch weitere namhafte europäische Konkurrenz aus.
Dabei hat Birmingham City sein Bestes getan, um Bellinghams Talent geheim zu halten. Doch die ersten Schlagzeilen produzierte er bereits, als er im August 2019 gegen Stoke City von der Bank kam, sofort das Siegtor schoss und damit zu Birminghams jüngsten Torschützen aller Zeiten wurde. Damit durchbrach er auch die Bestmarke von Vereinslegende Trevor Francis, der ebenfalls mit 16 Jahren zum Profi geworden war und der bei seinem Wechsel 1979 zu Nottingham Forest als erster englischer Spieler die Eine-Million-Pfund-Grenze durchbrach. Vieles lässt darauf hoffen, dass Bellingham den 52-fachen Nationalspieler Trevor Francis noch häufiger in den Schatten stellen wird.
Denn Bellingham ist bereits jetzt für seine reife Einstellung bekannt. Sein Debüt für die englische U15-Nationalmannschaft gab er bereits mit 13 Jahren, ehe er zum Kapitän der U17 ernannt wurde. Mit 14 Jahren spielte er für Birmingham bereits in der U18. Eine Entwicklung, die stark an Dortmunds eigenes Wunderkind Youssoufa Moukoko erinnert, dessen vorzeitige Spielberechtigung in der Bundesliga von den Entscheidungen in den DFL-Gremien abhängt.
Für den Briten sprechen sowohl Konstanz als auch technische Finesse. Nur eine Woche nach seinem ersten Tor gegen Stoke erzielte er auch bei seinem Startelfdebüt ein Tor mit seinem feinen Innenrist, als Birmingham mit 1:0 gegen Charlton Athletic gewann. Insgesamt gelangen ihm vier Treffer und weitere drei Vorlagen in 40 Spielen in dieser Saison.
Die Scouts in England sprechen aber von einem anderen Tor, wenn sie an Bellingham denken. 2019, gegen die U23 vom FC Fulham, hatte er den Ball mit einer wunderbaren Berührung seines rechten Fußes aus der Luft geholt, bevor er gleich vier Fulham-Verteidiger mit einer Drehung ins Leere laufen ließ und sodann mit dem linken Fuß abschloss.
Er ist ein Box-to-Box-Mittelfeldspieler, der ebenso hart verteidigen kann wie er den Ball über den Platz ins letzte Drittel des Feldes treibt. Bellingham ist das, was BVB-Trainer Lucien Favre so gerne „polyvalent” nennt. Er kann sowohl über den ganzen Platz verteilt spielen, als auch zentral die Räume beherrschen. Berichten zufolge ist Bellingham, der bereits 1,80 Meter misst, in dieser Saison stark gewachsen. Er besitzt trotz seines Alters eine erstaunliche Präsenz und gilt deshalb als geborener Athlet, der in der Lage ist, seinen Gegenspieler zurückzuverfolgen und präzise tacklen zu können, was die Dortmunder Defensivqualitäten stärken dürfte.
Und: Bellingham stammt aus einer guten Fußballfamilie. Sein Vater Mark, mittlerweile als Polizeisergeant im Einsatz, war ein äußerst produktiver Non-League-Stürmer, der für Teams wie Stourbridge, Leamington und die Bromsgrove Rovers über 700 Tore erzielte. Judes jüngerer Bruder Jobe spielt ebenfalls für Birmingham und war für Englands U15 nominiert.
Und trotzdem ist Jude Bellinghams Entwicklung für Borussia Dortmund eine Lotterie. Er spielt für den Tabellenneunzehnten der zweiten Liga – die 24 Teams umfasst – und trotz all seiner sportlichen Eigenschaften gibt es keinen endgültigen Beweis dafür, dass Bellingham ein tödlicher Offensivspieler oder ein einzigartig kreativer Spieler ist.
Auf der Insel werden Vergleiche zu Tottenhams Dele Alli gezogen, aber auf jeden Spieler wie Alli kommen großartige junge Talente wie der frühreife Tom Huddlestone, der nun zusammen mit Rooney bei Derby County spielt. Spieler wie Huddlestone lassen in jungen Jahren großes Können durchblicken, aber ihre Karrieren erreichen nie das höchste Level.
Ruben Loftus-Cheek vom FC Chelsea beispielsweise, der Bellingham nicht unähnlich ist, hatte früh sein Debüt für die Blues gefeiert, aber schaffte es viele Jahre lang nicht, sich einen Stammplatz zu erkämpfen. Die Probleme von Loftus-Cheek oder von Jesse Lingard, der bei Manchester United seinen Stammplatz immer wieder verlor, haben Bellingham möglicherweise davon überzeugt, sich für Dortmund zu entscheiden. Hier bieten sich größere Chance, um seine Karriere reibungslos fortzuentwickeln. Jadon Sanchos Weg dürfte darüber hinaus als Vorbild dienen.
Und auf dem Papier hat Bellingham alles, was man braucht, um in Dortmund zu bestehen. Kraft, Athletik, Intelligenz und Ruhe am Ball. Doch so einfach lässt sich Fußball nicht vorhersagen, und die Investition könnte sich für den BVB schon bald als das Verbrennen sehr vieler Banknoten herausstellen. Dortmund ist ein Glücksspiel eingegangen. Aber seit wann geht es bei der Talentsuche darum, besonders vorsichtig zu handeln?