Heute vor zehn Jahren verstarb Alex Alves an einer Knochenmarkserkrankung. Erinnerungen an einen Mann, der in Berlin trotz durchwachsener Leistungen Spuren hinterlassen hat.
An Alex Alves, den ersten Brasilianer, der je für Hertha BSC aufgelaufen ist, habe ich zwei plastische Erinnerungen. Bei der ersten sitze ich auf dem Boden meines Kinderzimmers im Südwesten Berlins und bin wütend und traurig. Ich starre auf die Boxen der kleinen Stereoanlage und klebe an den Lippen des Radio-Reporters, er berichtet aus dem Olympiastadion, dem für mein 11-jähriges Ich spannendsten Ort der Welt. Gerade erzählt er von einem Typen namens Dirk Lottner, der hat für Köln per Elfmeter getroffen, weshalb Hertha jetzt schon 0:2 hinten liegt, weshalb mein Hirn Dirk Lottner noch immer, Entschuldigung an dieser Stelle, als Mistkerl abgespeichert hat.
Und während der Reporter – ich weiß nicht, ob es schon Guido Ringel war oder eher Andreas Witte – über diesen blamablen Auftritt der Hertha erzählt, was mich immer wütender und immer trauriger macht, ändert sich plötzlich seine Stimmlage. Dann bricht er seinen Satz abrupt ab und fängt an zu brüllen.
„Da unten ist Marcelinho“
Bei der zweiten Erinnerung laufe ich mit ein paar Jungs meiner C‑Jugendmannschaft durch ein Rostocker Einkaufszentrum. Unsere Mannschaft hatte Karten gewonnen für ein Auswärtsspiel von Hertha, bis zum Anpfiff waren es nur noch wenige Stunden. Das Einkaufszentrum in der Innenstadt wirkte relativ neu und war nicht sonderlich gut besucht, ich weiß nicht mehr, was wir dort überhaupt wollten, shoppen zählte eigentlich nicht zu den Hobbys meines 13-jährigen Ichs und dessen 13-jährigen Teamkollegen. Trotzdem schlenderten wir grüppchenweise durch die Stockwerke des Gebäudes, als uns plötzlich ein Mitspieler aufgeregt entgegenrennt.
„Da unten ist Marcelinho“, teilt er uns im Laufen mit, „die Jungs holen sich grade Autogramme. Und angeblich ist Alex Alves hier auch irgendwo!“ Wir sprinten los, Rolltreppen runter, an Geschäften vorbei, wir müssen so schnell es geht ins Erdgeschoss, zu Marcelinho. Endlich dort ankommen, ist von dem keine Spur mehr. Die Jungs erzählen, dass er wieder abgezogen sei, sie zeigen ihre gesammelten Unterschriften und prahlen von diesem einmaligen Erlebnis, Marcelinho, dieser Halbgott, auf einmal stand er vor ihnen, machte Witze, klatschte ab, kurz gesagt: Es war unglaublich.
Sonnebrille, Cappy – und kein Wort
Wir trotten enttäuscht weg von der Szenerie, im Gepäck die frustrierende Gewissheit, die entscheidende Geschichte des Mannschaftsausflugs verpasst zu haben. Und dann, wir sind längst wieder in einem der oberen Stockwerke angelangt, entdecke ich ihn plötzlich. Ihn, Alex Alves, den anderen Star einer Hertha-Mannschaft, die sich zu Beginn der 2000er noch anders las als heutzutage. Er läuft gelangweilt durch ein Modegeschäft, zusammen mit einem Mann, den ich nicht kenne, der also auf keinen Fall zum Hertha-Kader gehört. Vorsichtig betrete ich mit zwei anderen Jungs den Laden, außer uns, einem Verkäufer, Alex Alves und seiner Ein-Mann-Entourage ist niemand in dem Geschäft.
Alves läuft durch die Reihen, schaut sich Kleiderstücke an, manche nimmt er in die Hand, andere beäugt er nur kritisch. Was ihm gefällt, legt er seinem Kumpanen über den Arm, wo sich bereits ein beachtlicher Haufen Kleider aufgetürmt hat. Verschüchtert pirschen wir uns an ihn heran. Das Outfit, das er trägt – Sonnenbrille plus Cappy – sieht nicht so aus, als habe er großartig viel Lust, mit Fremden zu reden, andererseits ist er eben ein echter Star, und so sehen die nun mal aus, denke ich. Dann sieht er uns, lächelt und zeigt einen Daumen nach oben. Wir halten ihm hin, was wir grade zur Hand haben, der Verkäufer sucht nach einem Stift, als er den hat, unterschreibt Alves kurz mit seinem Namen und der Nummer sieben. Ein Wort geht ihm nicht über die Lippen. Er wirkt weder genervt noch erfreut, es geschieht ihm einfach.