Wenn Liverpool am Sonntag um den Titel in der Premier League kämpft, könnte einer zum Meistermacher werden, der längst nicht mehr bei den „Reds“ ist – und doch einer von ihnen: Steven Gerrard.
Er hat sich rar gemacht in den letzten Tagen. Das lag auch daran, dass Steven Gerrard viel zu tun hatte: „englische Woche“. Am Donnerstag stand für den Chefcoach von Aston Villa noch ein Nachholspiel gegen den abstiegsbedrohten FC Burnley (1:1) auf dem Programm. Für die bereits geretteten „Villans“ ging es um nichts mehr. So spielten sie auch. Trotzdem hat Gerrard die Saison nicht abgehakt. Denn da ist ja noch der Schlussakt, in dem sein Team eine ganz entscheidende Rolle spielen kann: Schon ein Punktgewinn bei Spitzenreiter Manchester City (Sonntag, 17 Uhr) würde Gerrards Ex-Klub FC Liverpool zum Meister machen – falls das Team von Jürgen Klopp zeitgleich sein Heimspiel gegen die Wolverhampton Wanderers gewinnt. Dann hätte wohl auch „Stevie G.“ endlich seinen Frieden gefunden.
Die Dämonen der Erinnerung quälen ihn bis heute: Es ist der drittletzte Spieltag der Saison 2013/14. Tabellenführer Liverpool empfängt den Dritten Chelsea. Ein Sieg, und die „Reds“ wären quasi durch im Titelrennen. Doch die Partie beginnt zäh und entwickelt sich zum Albtraum – vor allem für Steven George Gerrard. Es läuft die Nachspielzeit der ersten Halbzeit: Liverpools Nummer 8 steht etwa zehn Meter in der eigenen Hälfte, als ihm ein Allerwelts-Querpass von Mamadou Sakho unter der Sohle durchrutscht. Der Rasen ist vor dem Anpfiff gewässert worden, vielleicht etwas ausgiebiger als sonst. Gerrard will sofort nachsetzen, doch er rutscht aus, fällt zu Boden. Chelseas Demba Ba sagt „Thank you“ und rast allein aufs Liverpooler Tor zu: 0:1. Endstand: 0:2. Englands Meister 2014: Manchester City.
Ein Ausrutscher wie dieser kann eine komplette Karriere definieren. Ausgerechnet Gerrard, der gebürtige Liverpooler, „Reds“-Fan seit frühester Kindheit. Der langjährige „Skipper“, der mit dem Klub schon so viel gewonnen hatte: Uefa-Cup, Champions League, Uefa-Supercup, FA-Cup, Ligapokal, Community Shield, eigentlich alles – bis auf die verflixte Meisterschaft. So nahe wie 2014 sollte Gerrard dem Ziel seiner Sehnsucht nie wieder kommen. Im Sommer 2015 wechselte der mittlerweile 35-Jährige zu Los Angeles Galaxy in die US-Profiliga MLS. Als „Unvollendeter“, wie es so schön heißt.
Der FC Liverpool hat das Trauma von 2014 längst überwunden – Klopp sei Dank. 2020 wurde der Klub aus der Beatles-Stadt endlich Meister, nach 30 Jahren Wartezeit und zum ersten Mal seit Gründung der Premier League (1992). Steven Gerrard verfolgte den roten Triumphzug aus dem fernen Glasgow. Als der damalige Rangers-Coach den Herren Salah, Mané & Co. zum Titel gratulierte, sprach er von „großer Freude“. Doch Gerrards Blick verriet ein kleines bisschen Wehmut. Wie gerne hätte er selbst die „Reds“ auf den Thron zurückgeführt. Wie sehr muss es bis heute an ihm nagen, dass es nicht geklappt hat.
Natürlich kann Steven Gerrard (503 Ligaspiele für Liverpool, 120 Tore, 98 Assists) den Ausrutscher vom 27. April 2014 nicht ungeschehen machen. Doch am Sonntag kann der inzwischen 41-jährige Trainer von Aston Villa eine Art Wiedergutmachung leisten – und gleichzeitig Revanche nehmen am neureichen Scheich-Klub aus Manchester, der ihm 2014 die Meisterschaft weggeschnappt hat. Natürlich gab es danach viel Häme von den City-Fans für Gerrard, der nur zwei Wochen vor seinem Fauxpas (nach einem 3:2‑Sieg gegen City) an seine Mitspieler appelliert hatte: „Hey, wir werden uns keinen f***ing Ausrutscher mehr erlauben. Wir werden uns keinen f***ing Ausrutscher mehr erlauben.“
Gerät diesmal Manchester City ins Stolpern? Kurz vor der Ziellinie? Ausgerechnet gegen Gerrard? Fußball-England hat da so eine gewisse Vorahnung, auch wenn die jüngste Bilanz von Aston Villa gegen die „Cityzens“ wenig erwarten lässt: Die letzten acht Liga-Duelle gewannen allesamt die Himmelblauen aus Manchester (Torverhältnis: 25:4). Beim letzten Vergleich im Herbst – Villa verlor daheim mit 1:2 – saß bereits Gerrard auf der Trainerbank. Doch irgendwann reißt jede Serie. Das ist ein Naturgesetz.
Villas Coach tut alles, damit es am Sonntag klappt. Im Nachholspiel gegen Burnley schonte er einige Stammkräfte, darunter Superstar Philippe Coutinho. „Wir hatten zuletzt vier Spiele in 15 Tagen“, rechtfertigte Gerrard seine Rotation. „Ich fand, dass wir phasenweise ziemlich erschöpft gewirkt haben.“ Am Sonntag will der Trainer seine „Villans“ wieder frisch sehen. Und natürlich wird auch Coutinho in Manchester auflaufen. Dessen persönliche Bilanz gegen City kann sich sehen lassen: fünf Tore und ein Assist in sieben Duellen (drei Siege, ein Remis, drei Niederlagen). Das weiß auch Gerrard.
Einen Anruf von Jürgen Klopp hat Villas Chefcoach vor dem Saisonfinale übrigens nicht zu erwarten. „Nein, natürlich nicht“, beteuerte „Kloppo“ noch am Tag vor Villas Nachholspiel. „Stevie bereitet sich jetzt auf das Match gegen Burnley vor, für die es noch um alles geht. Es ist das letzte Heimspiel von Villa. Sie werden diese Partie spielen, dann ihre Knochen sortieren und am Sonntag erneut antreten.“ Und anschließend? „Vielleicht werde ich Stevie dann doch mal anrufen“, sagte Klopp und fügte listig an: „Hoffentlich kann er uns einen Gefallen tun.“