Sein Gesicht ist wie eine geballte Faust. Er steht nicht so auf Ballbesitz. Sein Name ist Diego Simeone und er ist Trainer von Atletico Madrid. Unter dem Argentinier ist Atletico zu einer Spitzenmannschaft in der Primera Division gereift – eben weil er anders Fußball denkt als der Rest der Welt.
Im Gesicht von Diego Simeone lässt sich der Ausgang eines Fußballspiels nur schwer erkennen. Der Trainer von Atletico Madrid schaut meist sehr ernst drein. Das tat Simeone auch am vergangenen Sonntag, dabei hatte sein Team gerade 3:1 gegen CD Osasuna gewonnen. Der Sieg war eigentlich nie in Gefahr, doch so ganz war das Spiel wohl trotzdem nicht nach dem Geschmack von Simeone. Gut möglich, dass ihn eine Statistik besonders störte. Atletico kam auf Ende auf 55 Prozent Ballbesitz, nicht unbedingt ein Wunschwert des Trainers. Der liebt es, wenn sein Team den Ball deutlich weniger hat als der Gegner. Im ballverliebten Spanien ein Sonderfall. Dort ist Ballbesitz nach den Erfolgen des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft zu einer Art Doktrin erhoben worden. Anders bei Atletico. Bis vor dem Spiel gegen Osasuna betrug der Ballbesitz dort im Durchschnitt 45 Prozent pro Spiel. Das war gleichzeitig eine Art Garantie für den Sieg. Nur einmal, gegen Levante, kam man mit 75 Prozent auf einen höheren Wert. Endergebnis: 1:1.
So gut wie jetzt, stand Atletico schon lange nicht mehr da
Es war der einzige Punktverlust in dieser Saison für Atletico Madrid. Von neun Spielen konnte die Mannschaft acht gewinnen, punktgleich mit dem FC Barcelona liegt man derzeit auf Platz zwei in der Tabelle. Und hat nach Barca die zweitmeisten Tore geschossen. Der Vorsprung auf den verhassten Stadtrivalen Real beträgt acht Zähler – so gut stand man seit Jahren nicht mehr da.
Der Traditionsklub aus der spanischen Hauptstadt ist bisher die Überraschung der Primera Division. Nicht nur wegen seiner guten Resultate. Es ist der Spielstil, der dem Team viele Sympathien einbringt. Völlig unspanisch verzichtet Simeone lieber auf den Ball, sein Atletico ist die Gegenthese zum Tiki-Taka des FC Barcelona und der Seleccion. „Ballbesitz ist gut, aber bis zu welchem Punkt?“, fragte Simeone unlängst in einer argentinischen Radioshow. Auf das System des FC Barcelona angesprochen antwortete er: „Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Ich habe lieber weniger den Ball und dafür mehr Torchancen.“ Seine Ansichten haben die Spieler verinnerlicht. Von außen betrachtet wirken Atleticos Spiele manchmal bizarr. Gegen Aufsteiger Valladolid oder Fast-Absteiger Rayo Vallecano zog man sich weit in die eigene Hälfte zurück und überließ dem Gegner das Spielfeld. Simeone wusste, dass diese Mannschaften mit der Aufgabe, zu kreieren, komplett überfordert sind. Was dann folgte, waren Konter von malerischer Schönheit. In Sekundenschnelle überbrückte Atletico das Feld, mit wenigen Berührungen ging es in die Spitze, vorgetragen mit einer Präzision, die man ansonsten nur vom FC Barcelona kennt.
Im Süden Madrids, rund ums Estadio Vicente Calderon, dort wo die Wohnblocks der Arbeiter stehen, feiern sie ihr Team. Und natürlich ihren Trainer. Diego Simeone, genannt El Cholo. Simeone ist ein Idol der Atletico-Fans, einen Platz in der Klub-Historie hatte er schon sicher, bevor er die Mannschaft während der vergangenen Saison von Gregorio Manzano übernahm. In der Saison 1995/96 brillierte der Argentinier als Jungspund im Mittelfeld von Atletico. Zwölf Tore trug er zum völlig überraschenden Titelgewinn der Colchoneros bei. Die Matratzenmacher, so wird Atletico in Spanien genannt, weil die obligatorischen rot-weißen Trikots an eine beliebte Matratze aus den sechziger Jahren erinnern. Simeone war mit Leib und Seele Matratzenmacher. Von 1994 bis 1997 spielte er für Atletico und später, am Ende seiner Karriere, kam er 2003 für zwei weitere Jahre zurück. Erst kürzlich sagte er: „Ich würde nie zu Real gehen.“ Mehr Liebesbeweis geht in Madrid nicht.
Falcao heißt die Endstation der blitzartigen Konter
Atleticos Meistermannschaft von 1996 hatte keine großen Stars, sie war ein eingeschworener Haufen. Simeone hat diese Mentalität auf das heutige Team übertragen, auch wenn sie anders konzipiert ist. Mit Radamel Falcao verfügen die Rot-Weißen über den wohl besten Mittelstürmer dieser Tage. Der Kolumbianer ist in der Primera Division der Einzige, der es im Kampf um die Torjägerkrone mit Lionel Messi und Cristiano Ronaldo aufnehmen kann. Falcao ist meist die Endstation, der, der den Ball ins Tor befördert, wenn Atletico mal wieder zur Konterattacke ansetzt. Seine Klasse zeigt er am liebsten immer dann, wenn es wichtig ist. Im Mai entschied er das Finale der Europa League gegen Athletic Bilbao (3:0) mit zwei wunderschönen Toren fast im Alleingang. Im Supercup gegen den Champions.League-Sieger FC Chelsea waren es sogar drei Tore, Atletico siegte 4:0. Seitdem hält sich in Spanien hartnäckig das Gerücht, dass Chelseas Boss Roman Abramowitsch im Winter bis zu 60 Millionen Euro für Falcao ausgeben will.
Nach dem Europa-League-Finale wurde Simeone gefragt, was ein möglicher Verlust Falcaos für Atletico Madrid bedeuten würde. Von einem Moment auf den anderen ballte El Cholo sein Gesicht zur Faust. Dieses Mal war die Antwort darin allerdings deutlich zu erkennen. Denn Simeone weiß ganz genau: Atleticos Konter wären ohne Falcao nur die Hälfte wert.